Intestazione
150 I 73
8. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Migrationsamt des Kantons Basel-Stadt (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
2C_457/2023 vom 15. September 2023
Regesto
Art. 5 n. 4 CEDU,
art. 31 cpv. 4 Cost.,
art. 80a cpv. 3 LStrI; nessuna rinuncia al diritto al controllo in ogni tempo della carcerazione nella procedura di carcerazione Dublino.
Diritto della persona incarcerata di rivolgersi in ogni tempo a un tribunale giusta l'art. 31 Cost. e l'art. 5 CEDU (consid. 4.1 e 4.2); concretizzazione di questo principio nell'art. 80a cpv. 3 LStrI (consid. 4.3); condizioni per la rinuncia a un diritto procedurale (consid. 4.4 e 4.5). Il diritto, riconosciuto sul piano costituzionale e convenzionale e regolato per la carcerazione Dublino nell'art. 80a cpv. 3 LStrI, costituisce la garanzia procedurale più importante nella procedura di carcerazione Dublino per proteggere la persona incarcerata da una privazione della libertà di carattere arbitrario. Non si può rinunciare a questo diritto (consid. 4.7). Se la persona incarcerata non desidera fare esaminare immediatamente la sua carcerazione da un tribunale, può rinunciare all'esercizio di questo diritto. Può però domandare l'esame della carcerazione ulteriormente, in ogni momento (consid. 4.8). Annullamento della decisione dell'istanza precedente e liberazione della persona incarcerata.
A. A. (geb. 1998) ist Staatsangehöriger von Marokko. Er wurde am 9. August 2023 aufgrund des Verdachts auf Reisen ohne gültigen Fahrausweis kontrolliert. Dabei konnte er keine gültigen Identitätspapiere vorweisen. Gemäss Auskunft des Schengener Informationssystems SIS hat er Einreiseverbote für Italien und die Niederlande. Aus diesem Grund wurde er im Auftrag des Migrationsamts Basel-Stadt vorläufig festgenommen.
B. Anlässlich der Befragung durch das Migrationsamt am 10. August 2023 stellte er ein Asylgesuch für die Schweiz. Gleichzeitig verfügte das Migrationsamt die Vorbereitungshaft im Dublin-Verfahren nach
Art. 76a AIG für sieben Wochen gegen ihn. Mit Schreiben vom 21. August 2023 beantragte seine Rechtsvertreterin die gerichtliche Überprüfung der Haft. Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt als Verwaltungsgericht, Einzelrichter für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht, trat auf das Gesuch mit Urteil vom 22. August 2023 nicht ein, da A. einen Verzicht auf die gerichtliche Überprüfung abgegeben habe.
C. Mit "Beschwerde" vom 29. August 2023 gelangt A. (nachfolgend: Beschwerdeführer) an das Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils, die umgehende Haftentlassung, die Feststellung der Unrechtmässigkeit der Haft, eventualiter die Rückweisung an die Vorinstanz. In prozessualer Hinsicht beantragt er unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung.
BGE 150 I 73 S. 75
Die Abteilungspräsidentin lehnte es mit Verfügung vom 30. August 2023 ab, A. im Rahmen einer vorsorglichen Anordnung aus der Haft zu entlassen und verzichtete einstweilen auf die Erhebung eines Kostenvorschusses.
Das Migrationsamt und die Vorinstanz beantragen in ihrer Vernehmlassung sinngemäss die Abweisung der Beschwerde. Das Staatssekretariat für Migration SEM hat sich nicht vernehmen lassen.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und ordnet die umgehende Haftentlassung an.
Aus den Erwägungen:
4.1 Freiheitsentziehende ausländerrechtliche Zwangsmassnahmen fallen sowohl in den Anwendungsbereich von
Art. 5 EMRK wie auch in denjenigen von
Art. 31 BV (
BGE 142 I 135 E. 3.1; Urteil 2C_101/2017 vom 1. März 2017 E. 2.1 und 2.2, nicht publ. in:
BGE 143 II 361). Aus beiden Garantien fliesst ein Anspruch auf gerichtliche Prüfung der Haftanordnung: Gemäss
Art. 5 Ziff. 4 EMRK hat jede Person, der die Freiheit entzogen ist, das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs entscheidet. Nach
Art. 31 Abs. 4 BV hat jede Person, der die Freiheit nicht durch ein Gericht entzogen wurde, das Recht, jederzeit ein Gericht anzurufen. Dieses entscheidet so rasch wie möglich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs.
4.2 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts räumt
Art. 31 Abs. 4 BV jeder von einem Freiheitsentzug betroffenen Person das Recht ein, "jederzeit ein Gericht anzurufen", damit dieses so rasch als möglich über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzuges befinde. Die Norm stellt eine besondere Rechtsweggarantie dar, welche weiter reicht als die allgemeine Garantie von
Art. 29a BV. Sie bedeutet, dass der gerichtliche Rechtsschutz gegen den Freiheitsentzug unmittelbar einsetzt. Damit erfährt der gerichtliche Rechtsschutz eine Stärkung. "Jederzeit ein Gericht anzurufen" erlaubt somit denjenigen Personen, denen die Freiheit entzogen wurde, den Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts selbst zu bestimmen (
BGE 137 I 23 E. 2.4.2;
BGE 136 I 87 E. 6.5.2). Welche Zeit daher als so rasch als möglich bzw. als innerhalb kurzer Frist gilt, hängt von den Umständen des konkreten Einzelfalls ab; insbesondere von der Art der Haft und ihrer Gründe sowie von der Komplexität des Verfahrens (
BGE 137 I 23 E. 2.4.3). Artikel 5 Ziff. 4 EMRK gibt einer festgenommenen oder
BGE 150 I 73 S. 76
inhaftierten Person das Recht, die verfahrensmässigen und materiellen Bedingungen, die für die "Rechtmässigkeit" ihres Freiheitsentzugs im Sinne von
Art. 5 Ziff. 1 EMRK wesentlich sind, gerichtlich überprüfen zu lassen (Urteil des EGMR
Khlaifia und andere gegen Italien Nr. 16483/12 vom 15. Dezember 2016 § 128).
4.3 Diese Prinzipien sind in
Art. 80a Abs. 3 AIG (SR 142.20) festgehalten worden. Gemäss dieser Bestimmung werden Rechtmässigkeit und Angemessenheit der Dublin-Haft auf Antrag der inhaftierten Person in einem schriftlichen Verfahren überprüft; diese Überprüfung kann jederzeit beantragt werden (
Art. 80a Abs. 3 AIG). Die Frist bis zur Entscheidung beträgt 96 Stunden ab Eingang des Gesuchs (
BGE 142 I 135 E. 3.3). Artikel 80a AIG setzt in verfahrensrechtlicher Hinsicht die Dublin-III-Verordnung um (Verordnung [EU] Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. L 180 vom 29. Juni 2013 S. 31 ff.;
BGE 150 II 57 E. 3.1.4). Die Haftbestimmungen der Dublin-III-Verordnung sollen die Rechtsgarantien und den Rechtsschutz von Personen im Dublin-Verfahren stärken (
BGE 150 II 57 E. 3.3.2).
4.4 Die ausländerrechtliche Administrativhaft stellt einen schweren Eingriff in die in
Art. 10 Abs. 2 BV garantierte persönliche Freiheit dar (nicht publ. E. 1.2 und dortige Hinweise). Diese ist ein unverzichtbares Grundrecht (
BGE 126 I 26 E. 4b/aa). Die Verfahrensgarantie des ohne gerichtliches Urteil Inhaftierten, jederzeit ein Gericht anzurufen (
Art. 31 Abs. 4 BV), gewährleistet einen spezifischen Aspekt der persönlichen Freiheit (
BGE 126 I 26 E. 2). Das Bundesgericht hat früh geklärt, dass auf die Einhaltung der Verfahrensbestimmungen zu den ausländerrechtlichen Zwangsmassnahmen nicht oder höchstens unter ganz ausserordentlichen Umständen verzichtet werden kann. Ein solcher Verzicht darf aber nicht leichthin angenommen werden, liegt es doch in der besonderen Natur des Haftverfahrens, dass der Ausländer nicht mit dem schweizerischen Recht und namentlich nicht mit den gesetzlichen Haftvoraussetzungen vertraut ist (
BGE 128 II 241 E. 3.5 und 3.6;
BGE 125 II 369 E. 2). Als gänzlich unverzichtbar erachtete das Bundesgericht die Durchführung der Haftverhandlung an sich: Der Anspruch auf rechtzeitige gerichtliche Prüfung der Ausschaffungshaft bzw. deren Verlängerung in
BGE 150 I 73 S. 77
einer mündlichen Verhandlung stellt die zentrale prozessuale Garantie dar, welche vor willkürlichem Entzug der Freiheit schützen soll (
BGE 128 II 241 E. 3.5). Auch der Verzicht auf die Frist zur Behandlung des Haftentlassungsgesuchs darf nicht ohne Weiteres unterstellt werden. Vielmehr braucht es eine entsprechend lautende zuverlässige und klare Äusserung. Ein gültiger Verzicht kann auch erfolgen, wenn die betroffene Person durch eine qualifizierte Vertretung verbeiständet ist (
BGE 128 II 241 E. 3.6;
BGE 125 II 369 E. 2).
4.5 Gemäss Rechtsprechung des EGMR kann die betroffene Person unter bestimmten Bedingungen zwar auf durch die Konvention gewährleistete Garantien verzichten. Voraussetzung für einen konventionskonformen Verzicht ist allerdings, dass dieser keinem wichtigen öffentlichen Interesse zuwiderläuft, unmissverständlich erklärt worden ist und Mindestgarantien vorhanden sind, die der Bedeutung des Verzichts entsprechen (Urteile des EGMR
Meloni gegen Schweiz Nr. 61697/00 vom 10. April 2008 § 51;
Natsvlishvili und
Togonidze gegen Georgien Nr. 9043/05 vom 29. April 2014 § 91; je mit Hinweisen). Der EGMR hat ferner entschieden, dass das Recht auf persönliche Freiheit in einer demokratischen Gesellschaft zu wichtig sei, als dass eine Person den Schutz der Konvention allein aus dem Grund verlieren könnte, weil sie sich der Inhaftierung gefügt habe. Eine Inhaftierung kann gegen
Art. 5 EMRK verstossen, obschon die betroffene Person dieser zunächst zugestimmt haben mag (Urteile des EGMR
Buzadji gegen Moldawien Nr. 23755/07 vom 5. Juli 2016 § 107, 109;
Storck gegen Deutschland Nr. 61603/00 vom 16. Juni 2005,
Recueil CourEDH 2005-V S. 165 § 75). Steht dem Einzelnen keine Möglichkeit zur Verfügung, die Rechtmässigkeit der Inhaftierung gerichtlich anzufechten, stellt dies eine Verletzung von
Art. 5 Ziff. 4 EMRK dar (Urteil des EGMR
Moustahi gegen Frankreich Nr. 9347/14 vom 25. Juni 2020 § 103-104).
4.6 Vorliegend wurde dem Beschwerdeführer am 10. August 2023 durch das Migrationsamt mit Verfügung eröffnet, dass er in Dublin-Haft genommen werde. Auf der letzten Seite der Verfügung hatte er die Möglichkeit, ein Kreuz zu setzen entweder bei "Ich beantrage die gerichtliche Überprüfung der Haft" oder "Ich verzichte auf die gerichtliche Überprüfung der Haft" (
Art. 105 Abs. 2 BGG). Da die Dublin-Haft anders als andere Formen der ausländerrechtlichen Administrativhaft (vgl.
Art. 80 Abs. 2 AIG) nicht von Amtes wegen, sondern nur auf Antrag der betroffenen Person hin gerichtlich überprüft wird, dürfen an die Begründung von erstmaligen Beschwerden
BGE 150 I 73 S. 78
gegen die Anordnung von Dublin-Haft keine hohen Anforderungen gestellt werden (
BGE 142 I 135 E. 2.3). Dass der Beschwerdeführer die Möglichkeit hatte, allein durch das Ankreuzen die gerichtliche Überprüfung der Haft zu verlangen, mithin niederschwellig von seinem Recht gemäss
Art. 80a Abs. 3 AIG Gebrauch zu machen, ist vor diesem Hintergrund angemessen. Wenn er von dieser Möglichkeit jedoch keinen Gebrauch machen möchte, was er durch Ankreuzen der zweiten Möglichkeit zum Ausdruck bringen kann, darf daraus nicht geschlossen werden, er würde dauerhaft auf die gerichtliche Überprüfung der Inhaftierung verzichten. Ein solcher Verzicht ist nicht zulässig.
4.7 Die gerichtliche Überprüfung einer Haft, die nicht von einem Gericht angeordnet wurde, ist ein fundamentales Verfahrensrecht zum Schutz der persönlichen Freiheit. Einen dauerhaften Verzicht darauf zuzulassen, würde heissen, auf das Recht, nicht willkürlich inhaftiert zu werden, wie es in
Art. 5 Ziff. 1 EMRK und
Art. 31 Abs. 1 BV verbürgt ist, zu verzichten. Dies führte letztlich zu einem Verzicht auf das Recht auf persönliche Freiheit selbst. Dabei handelt es sich aber um ein Grundrecht, auf das nicht verzichtet werden kann ("unverzichtbares Grundrecht"; vorstehend E. 4.4). Dies würde zudem dem Grundgedanken der Dublin-III-Verordnung, Rechtsgarantien und Rechtsschutz der Betroffenen zu stärken, massiv zuwiderlaufen. Das Recht auf erstmalige gerichtliche Überprüfung einer behördlich angeordneten Haft ist für einen demokratischen Rechtsstaat zu wichtig, als dass darauf dauerhaft verzichtet werden könnte. Aus diesem Grund kann auch nicht aus der anfänglich fehlenden Opposition gegen die Inhaftierung geschlossen werden, der Beschwerdeführer füge sich dem behördlichen Freiheitsentzug für die gesamte Dauer der Inhaftierung. Wenn
Art. 80a Abs. 3 Satz 2 AIG statuiert, die Überprüfung könne jederzeit beantragt werden, folgt bereits aus deren Wortlaut, dass die Bestimmung einem Verzicht nicht zugänglich ist, was die Vorinstanz verkannt hat. Die gerichtliche Überprüfung der Haft gemäss
Art. 80a Abs. 3 AIG stellt somit eine Verfahrensvorschrift dar, auf die - auch bei mängelfrei erklärtem Willen - nicht verzichtet werden kann.
4.8 Sicher steht es dem Beschwerdeführer frei, auf die
Ausübung des Verfahrensrechtes zu verzichten, indem er von seinem Recht auf gerichtliche Überprüfung keinen Gebrauch macht und keine Überprüfung verlangt. In der vorliegenden Konstellation heisst das, kein Kreuz bei der ersten Auswahlmöglichkeit zu setzen. Dies hat er
BGE 150 I 73 S. 79
getan und stattdessen in der ihm vorgelegten Entweder-oder-Situation die zweite Möglichkeit gewählt. Das kann jedoch lediglich bedeuten, dass der Beschwerdeführer für den Moment auf die Ausübung seines Rechts verzichtet, nicht aber, dass er dauerhaft auf das Recht an sich verzichtet. Er kann jederzeit auf seinen Entscheid zurückkommen, sein Recht auf gerichtliche Überprüfung ausüben und diese verlangen. Dies hat er nach zwei Wochen Haft getan. Die "jederzeitige" gerichtliche Überprüfung ist verfassungs-, konventions- und gesetzesrechtlich (
Art. 80a Abs. 3 AIG) explizit vorgesehen (vorstehend E. 4.1-4.3). Eine Ausnahme, wonach dies nur gilt, sofern die betroffene Person nicht darauf verzichtet hat, gibt es nicht. Weder aus dem Ankreuzen der Möglichkeit, auf die Überprüfung zu verzichten, noch aufgrund der Tatsache, dass der Beschwerdeführer zunächst nicht gegen die Inhaftierung opponiert hat, durfte die Vorinstanz bundesrechtskonform schliessen, der Beschwerdeführer würde dauerhaft auf sein Recht auf gerichtliche Überprüfung der Rechtmässigkeit der Haft verzichten wollen und können.
4.9 Die Vorinstanz durfte somit nicht auf die Überprüfung der Haft verzichten und hätte auf das Gesuch um Haftüberprüfung eintreten müssen. Indem sie dies nicht tat, hat sie
Art. 80a Abs. 3 AIG,
Art. 31 Abs. 4 BV und
Art. 5 Ziff. 4 EMRK verletzt. In überspitzt formalistischer Weise (
BGE 149 III 12 E. 3.3.1) hat sie das Gesuch mangels entsprechender Bezeichnung auch nicht als Haftentlassungsgesuch anhand genommen, obwohl dieses doch dasselbe Ziel - die Überprüfung der Rechtmässigkeit der Haft mit dem Ziel der Beendigung der Haft - verfolgt hätte (vgl. auch nicht publ. E. 1.3). In der Verweigerung der gerichtlichen Überprüfung der Dublin-Haft liegt ein gewichtiger Verfahrensfehler, der zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führt (
BGE 128 II 246 E. 3.6).