150 IV 462
Urteilskopf
150 IV 462
41. Auszug aus dem Urteil der II. strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen)
7B_843/2024 vom 4. September 2024
Regeste
Ein forensisch-psychologischer Bericht, der zur (vorläufigen) Einschätzung der Wiederholungsgefahr im Haftverfahren eingeholt wird und dessen Entstehungsprozess sich nicht wesentlich von dem eines Kurzgutachtens unterscheidet, hat sich nach den Vorschriften über das Sachverständigengutachten (Art. 182 ff. StPO) zu richten (E. 3.3-3.8).
A. Die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich führt gegen A., geb. 2002, eine Strafuntersuchung wegen mehrfachen bandenmässigen Raubs (Art. 140 Ziff. 1 und Ziff. 3 StGB) etc. Sie wirft ihm vor, im Zeitraum vom 2. bis 26. September 2023 gemeinsam mit einem Mitbeschuldigten mehrere (Raub-)Straftaten begangen zu haben. Konkret soll A. über die Online-Kontaktplattform "B.com" unter dem Profilnamen "C." bzw. "D." mit verschiedenen, meist älteren Geschädigten Kontakt aufgenommen und physische Sextreffen - häufig in Waldnähe - vereinbart haben. Bei den Treffen habe einer der beiden Beschuldigten als Lockvogel agiert. Kurz darauf soll der andere dazugekommen sein und von den Geschädigten Vermögenswerte wie Bargeld, Schmuck oder Bankkarten verlangt haben, unter Androhung
BGE 150 IV 462 S. 463
bzw. Anwendung von Gewalt sowie teilweise unter Bedrohung mit einer Faustfeuerwaffe.
B.a Am 28. September 2023 wurde A. verhaftet und am 2. Oktober 2023 durch das Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Zürich in Untersuchungshaft versetzt. Mit Verfügungen vom 29. Dezember 2023 und vom 28. März 2024 wurde die Haft um jeweils drei Monate verlängert. Die neue amtliche Verteidigung von A. stellte am 22. April 2024 ein Gesuch um Haftentlassung, das vom Zwangsmassnahmengericht mit Verfügung vom 3. Mai 2024 abgelehnt wurde.
B.b Mit Beschluss vom 1. Juli 2024 wies das Obergericht des Kantons Zürich A.s Beschwerde gegen die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts ab.
C. A. erhebt mit Eingabe vom 31. Juli 2024 Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des obergerichtlichen Beschlusses und seine unverzügliche Entlassung aus der Untersuchungshaft. Eventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. In prozessualer Hinsicht ersucht A. um Beizug der kantonalen Akten, einen zweiten Schriftenwechsel sowie um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
Die Staatsanwaltschaft schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer hat repliziert. Die kantonalen Akten wurden beigezogen.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
Aus den Erwägungen:
3.3 Demgegenüber ist die Kritik zu prüfen, die der Beschwerdeführer an der Rückfallprognose und deren Grundlagen übt, insbesondere am forensisch-psychologischen Befundbericht vom 5. Juni 2024.
Auf formeller Ebene wendet er diesbezüglich ein, die Vorinstanz stützte sich zu Unrecht auf den Befundbericht der Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (nachfolgend: FFA), um von einer hohen Rückfallgefahr auszugehen. Er macht geltend, der Bericht sei viel zu spät, einseitig und ohne Gewährung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) eingeholt worden. Er (der Beschwerdeführer) habe sich weder zur Person und zu den Qualifikationen der Berichtsverfasserin noch zu den ihr gestellten Fragen äussern können.
BGE 150 IV 462 S. 464
3.4 Die Vorinstanz erwägt, die Staatsanwaltschaft habe die FFA am 22. April 2024 mit der Erstellung einer Risikoeinschätzung betreffend den Beschwerdeführer bis zum 6. Juni 2024 beauftragt. Die Fachstelle sei der Klinik für Forensische Psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich unterstellt und erstatte Risikoeinschätzungen, die namentlich als Grundlage für die Beurteilung von Wiederholungs- und Ausführungsgefahr dienen könnten. Bei dem von M.Sc. E. am 5. Juni 2024 verfassten forensisch-psychologischen FFA-Befundbericht handle es sich "(bewusst) nicht um ein psychiatrisches Gutachten". Der Bericht sei eine "vorläufige Risikoeinschätzung mit Interventionsempfehlungen", die angesichts der bestehenden Haft innert kurzer Frist vorzunehmen gewesen sei.
Mit dem Ersuchen der Staatsanwaltschaft vom 22. April 2024 habe von Anfang an festgestanden, dass Arbeitsinhalt der FFA eine Risikoeinschätzung im Sinne des erstellten Berichts gewesen sei und kein psychiatrisches Gutachten. Der Beschwerdeführer bzw. sein amtlicher Verteidiger seien darüber gleichentags informiert worden und hätten auch aufgrund der Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts vom 3. Mai 2024 gewusst, dass per 6. Juni 2024 eine Risikoeinschätzung erwartet worden sei. Auch sei M.Sc. E. am 23. April 2024 eine Besuchsbewilligung erteilt worden und der Beschwerdeführer sei über das für den 22. Mai 2024 geplante Untersuchungsgespräch informiert gewesen. Er habe seine Teilnahme auf Anraten seines Anwalts abgelehnt. Dem Beschwerdeführer sei somit rund zwei Monate bekannt gewesen, dass ein FFA-Befundbericht eingeholt werden würde, was im Übrigen der Praxis in Haftsachen entspreche. Dem Beschwerdeführer sei deshalb "ein anderes Vorgehen offen gestanden", als nachträglich eine Verletzung der Art. 182 ff. StPO und des rechtlichen Gehörs zu rügen und daraus eine Unverwertbarkeit ableiten zu wollen.
Die Vorinstanz führt weiter aus, Befundberichte wie jener vom 5. Juni 2024 unterschieden sich von Gutachten insbesondere dadurch, dass sie einer ersten, vorläufigen Einschätzung dienen würden und in Nachachtung des Beschleunigungsgebots innert kurzer Zeit zu erfolgen hätten, weshalb den vom Beschwerdeführer vorgebrachten Bestimmungen (Art. 182 ff. StPO) erst im Rahmen eines noch einzuholenden ausführlichen psychiatrischen Gutachtens Rechnung zu tragen sei. Es stelle keine Verletzung des rechtlichen Gehörs dar, dass die Staatsanwaltschaft für die Zwecke der Haft vorab eine Risikoeinschätzung eingeholt und dem Beschwerdeführer dabei keine Möglichkeit zur Stellungnahme zur Verfasserin etc. gegeben habe.
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3.5.1 Der in Art. 1 StGB sowie Art. 7 Ziff. 1 EMRK verankerte Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" ist auf dem Gebiet des (Straf-)Prozessrechts nicht anwendbar. Indes bedürfen auch strafprozessuale Grundrechtseingriffe bzw. Zwangsmassnahmen einer ausdrücklichen Gesetzesgrundlage (BGE 148 IV 1 E. 3.5.1 mit Hinweisen; vgl. Art. 197 Abs. 1 lit. a StPO; Art. 31 Abs. 1 und Art. 36 Abs. 1 BV ). Generell gilt im Strafverfahren zudem der Grundsatz der Formstrenge. Danach können Strafverfahren nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden (Art. 2 Abs. 2 StPO; BGE 148 IV 1 E. 3.5.1; BGE 147 IV 93 E. 1.3.2 mit Hinweis).
3.5.2 Gemäss Art. 182 StPO ziehen die Staatsanwaltschaft und die Gerichte eine oder mehrere sachverständige Personen bei, wenn sie nicht über die besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, die zur Feststellung oder Beurteilung eines Sachverhalts erforderlich sind. Als Sachverständige können natürliche Personen ernannt werden, die auf dem betreffenden Fachgebiet die erforderlichen besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen (Art. 183 Abs. 1 StPO), wobei für sie die Ausstandsgründe nach Art. 56 StPO gelten (Abs. 3).
Die Verfahrensleitung ernennt die sachverständige Person (Art. 184 Abs. 1 StPO) und erteilt ihr einen schriftlichen Auftrag, der unter anderem die Bezeichnung der sachverständigen Person, die präzis formulierten Fragen und den Hinweis auf die Straffolgen eines falschen Gutachtens enthält (Abs. 2 lit. a, c und f). Nach Art. 184 Abs. 3 Satz 1 StPO gibt die Verfahrensleitung den Parteien vor der Erteilung des Gutachtensauftrags Gelegenheit, sich zur sachverständigen Person und zu den Fragen zu äussern und dazu eigene Anträge zu stellen. Gemäss Art. 184 Abs. 4 StPO übergibt die Verfahrensleitung der sachverständigen Person zusammen mit dem Auftrag die zur Erstellung des Gutachtens notwendigen Akten und Gegenstände. Die sachverständige Person kann einfache Erhebungen, die mit dem Auftrag in engem Zusammenhang stehen, selber vornehmen und zu diesem Zweck Personen aufbieten (Art. 185 Abs. 4 StPO). Bei solchen Erhebungen kann die beschuldigte Person die Mitwirkung oder Aussage verweigern (Abs. 5).
3.5.3 Von Sachverständigengutachten im Sinne von Art. 182 ff. StPO zu unterscheiden sind amtliche Berichte im Sinne von Art. 195 Abs. 1 StPO. Nach dieser Bestimmung holen die Strafbehörden amtliche Berichte und Arztzeugnisse über Vorgänge ein, die im
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Strafverfahren bedeutsam sein können. Bei deren Erstellung müssen die besonderen Voraussetzungen gemäss Art. 182 ff. StPO grundsätzlich nicht eingehalten werden. Sie erfordern aber in der Regel keine besonderen Fachkenntnisse oder solche müssen zur Erstellung des Berichts oder Zeugnisses nur in geringem Umfang eingesetzt werden. Amtliche Berichte dürfen dann nicht eingeholt werden, wenn ein Gutachten notwendig wäre (Urteil 6B_235/2020 vom 1. Februar 2021 E. 2.5.2 mit Hinweisen). Dieser Unterschied reflektiert sich auch darin, dass Sachverständigengutachten nur von der Staatsanwaltschaft und den Gerichten (vgl. Art. 182 StPO), amtliche Berichte nach Art. 195 StPO dagegen von "den Strafbehörden" eingeholt werden können, wozu nach dem 2. Titel und Art. 12 lit. a StPO insbesondere auch die Polizei zählt.In der Lehre wird teilweise gefordert, dass in Fällen, in denen ein Amtsbericht in Umfang und Tragweite einem "echten" Gutachten gleichkommt, die entsprechenden Bestimmungen bezüglich Sachverständigengutachten zur Anwendung gelangen. Andernfalls könne der Eindruck entstehen, die Behörde versuche, die bei einem Gutachten vorgesehene Mitwirkungsmöglichkeit zu umgehen, womit der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt sei (Urteil 6B_235/2020 vom 1. Februar 2021 E. 2.5.2 mit Hinweis auf BENJAMIN MÄRKLI, in: Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons St. Gallen [VRP], Praxiskommentar, 2020, N. 49 zu Art. 12-13 VRP ).
3.5.4 Gemäss Art. 5 Abs. 1 StPO nehmen die Strafbehörden die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss. Das Beschleunigungsgebot gilt in sämtlichen Verfahrensstadien und verpflichtet die Strafbehörden, Verfahren voranzutreiben, um die beschuldigte Person nicht unnötig über die gegen sie erhobenen Vorwürfe im Ungewissen zu lassen (BGE 143 IV 49 E. 1.8.2, BGE 143 IV 373 E. 1.3.1; BGE 133 IV 158 E. 8). Haftsachen müssen gestützt auf Art. 31 Abs. 3 und 4 BV , Art. 5 Ziff. 3 und 4 EMRK und Art. 5 Abs. 2 StPO mit besonderer Beschleunigung behandelt werden.
3.6 Das Bundesgericht hat sich bisher nicht zur Rechtsgrundlage von mit dem Befundbericht vom 5. Juni 2024 vergleichbaren forensischen Berichten geäussert. In BGE 143 IV 9 E. 2.8 erwog es, mit Blick auf das in Haftsachen geltende Beschleunigungsgebot könne die Einholung eines Kurz- oder Vorabgutachtens beim beauftragten Sachverständigen zur Frage der Rückfallgefahr angezeigt sein (so auch Urteile 1B_631/2021 vom 15. Dezember 2021 E. 2.4; 1B_567/2018
BGE 150 IV 462 S. 467
vom 21. Januar 2019 E. 4.3 mit Hinweisen). Im Urteil 1B_196/2015 vom 17. Mai 2016 E. 4.4.4 führte das Bundesgericht aus, dass die beigezogenen sachverständigen Personen zur Erstellung eines Kurzgutachtens jedenfalls dann nach den Vorschriften der Art. 182 ff. StPO zu beauftragen seien, wenn ihnen oder einem von ihnen später die Ausarbeitung eines weiterführenden Gutachtens über dasselbe Geschehen übertragen werden soll. Sodann basierten die tatsächlichen Feststellungen zur Rückfall- bzw. Ausführungsgefahr in verschiedenen Urteilen auf forensisch-psychologischen Berichten, ohne dass deren Entstehungsprozess oder Verwertbarkeit zur Diskussion gestanden wären (z.B. Urteile 7B_157/2024 vom 22. April 2024 E. 2.3; 7B_1029/2023 vom 11. Januar 2024 E. 3.4; 1B_237/2021 vom 28. Mai 2021 E. 3.1; 1B_553/2017 vom 12. Januar 2018 E. 4.3).
3.7 Die Vorinstanz bezieht nicht eindeutig Stellung dazu, auf welcher gesetzlichen Grundlage der FFA-Befundbericht vom 5. Juni 2024 basiert. Sie stellt einzig klar, dass er kein Gutachten im Sinne von Art. 182 ff. StPO sei. Diese Auffassung deckt sich mit Äusserungen in der Lehre, wonach es sich bei Berichten über die Risikoeinschätzung mit Interventionsempfehlungen der FFA nicht um Sachverständigengutachten im Sinne von Art. 182 ff. StPO handeln soll (IVANA BABIC, Das psychiatrische Gutachten im Strafverfahren, 2019, S. 39 f.; ULRICH WEDER, Die gefährliche beschuldigte Person und die Wiederholungs- und Ausführungsgefahr, ZStrR 132/2014 S. 374). Eine nähere Begründung für diesen Standpunkt findet sich allerdings nicht. Differenzierend äussern sich URWYLER/ENDRASS/HACHTEL/ GRAF, die auf die Gefahr hinweisen, dass indirekt die strengeren Verteidigungsrechte von Art. 182 ff. StPO ausgehebelt werden, wenn die Verfahrensleitung aufgrund solcher Berichte auf eine sachverständige Begutachtung verzichte und die Berichte gleich wie ein Gutachten würdige (URWYLER/ENDRASS/HACHTEL/GRAF, Handbuch Strafrecht Psychiatrie Psychologie, 2022, Rz. 76). Die Beschwerdegegnerin schliesst sich der Vorinstanz an und beschränkt sich in ihrer Stellungnahme im bundesgerichtlichen Verfahren auf die Behauptung, beim Bericht der FFA handle es sich "nicht um ein strafprozessuales Gutachten im formellen Sinn".
3.8.1 Diese Auffassung überzeugt nicht. Der von M.Sc. E. im Rahmen des gegen den Beschwerdeführer eingeleiteten Strafverfahrens verfasste forensisch-psychologische Befundbericht vom 5. Juni 2024
BGE 150 IV 462 S. 468
sprengt den Zweck und den Umfang eines amtlichen Berichts im Sinne von Art. 195 StGB, den etwa ein behandelnder Psychologe über den Verlauf einer Therapie oder eine behandelnde Ärztin anstelle einer mündlichen Zeugenaussage erstatten. Die Verfasserin des Berichts äussert sich nicht zu Umständen oder Tatsachen, von denen sie im Rahmen ihrer amtlichen Tätigkeit bereits vorher Kenntnis erhalten hätte. Vielmehr nimmt sie im Auftrag der Staatsanwaltschaft eine eigentliche Bewertung und Einordnung des (inkriminierten) Verhaltens und Vorlebens des ihr zuvor unbekannten Beschwerdeführers vor und gibt gestützt darauf Interventionsempfehlungen ab. Gegenstand des Befundberichts ist eine aktuelle Risikoeinschätzung, die Entscheidgrundlage für die Rückfallprognose im Haftverfahren bilden soll. Die Verfasserin des Berichts wurde gerade wegen ihrer speziellen Fachkenntnisse eingesetzt und eigens für die Einschätzung beauftragt, weil die Strafbehörden selbst nicht über (ausreichende) Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um eine vorläufige Risikoprognose zu erstellen. Die Vorinstanz zieht den Befundbericht denn auch wie ein Gutachten in ihre Würdigung ein und stützt die Verortung der Rückfallgefahr wesentlich darauf ab.
3.8.2 Unter dem Titel "III. Risikoeinschätzung und Interventionsempfehlung" attestiert der Bericht, beim Beschwerdeführer schienen unter anderem konfliktfördernde Persönlichkeitseigenschaften wie eine tiefgreifende Gewaltbereitschaft und mangelnde Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme sowie ein zumindest problematischer Kokainkonsum vorzuliegen. Es bestünden Hinweise auf eine mangelnde Internalisierung von Werten und Normen sowie Anzeichen für eine gewaltbejahende Einstellung und/oder eine grundsätzliche Akzeptanz von Gewalt als Handlungsstrategie. Auch konstatiert der Bericht negativ, dass es Hinweise auf ein Interesse des Beschwerdeführers an Waffen bzw. auf einen Waffengebrauch in der Vergangenheit gebe. Diese Faktoren liessen den Verdacht aufkommen, dass beim Beschwerdeführer "eine (dissoziale) Persönlichkeitsstörung und gegebenenfalls eine Konsumstörung vorliegen könnten, die deliktrelevant sein könnten". Der Befundbericht dient damit dem gleichen Zweck wie ein forensisch-psychiatrisches Kurz- bzw. Fokalgutachten, in dem eine vorläufige Risikoeinschätzung vorgenommen wird, bevor die Gesamtexpertise über sämtliche psychiatrisch abzuklärenden Fragen (Diagnose, geeignete Sanktion, Behandlungsbedürftigkeit, Therapiefähigkeit etc.) vorliegt (vgl. BGE 143 IV 9 E. 2.8; Urteile 1B_632/2021 vom 6. Dezember 2021 E. 3.3.2; 1B_567/2018
BGE 150 IV 462 S. 469
vom 21. Januar 2019 E. 5.1). Auch diese weniger tiefgreifenden und im Umfang beschränkteren Expertisen haben sich grundsätzlich an den Vorschriften von Art. 182 ff. StPO zu orientieren (vgl. Urteil 1B_196/2015 vom 17. Mai 2016 E. 4.4.4; MARIANNE HEER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N. 24 zu Art. 182 StPO; URWYLER/ENDRASS/HACHTEL/GRAF, a.a.O., Rz. 622). Typischerweise hat die beschuldigte Person bereits bei der Anordnung des Hauptgutachtens die Möglichkeit, sich zur Person der Sachverständigen sowie zu den dieser unterbreiteten Fragen zu äussern und Ausstandsgründe geltend zu machen (vgl. Art. 184 Abs. 3 StPO).
3.8.3 Nach den Feststellungen der Vorinstanz war zum Zweck der Berichtserstellung sogar ein persönliches "Untersuchungsgespräch" vorgesehen, wie es bei der forensisch-psychiatrischen Begutachtung vorgeschrieben und üblich ist (vgl. BGE 127 I 54 E. 2f; Urteil 7B_990/2023 vom 3. April 2024 E. 4.5.1). Dafür bietet im Kontext eines Strafverfahrens (einzig) Art. 185 StPO eine Grundlage. Der 13-seitige Befundbericht beginnt mit einer eingehenden Analyse der Strafakten, in welche die Verfasserin, soweit aus dem Auftrag und dem Bericht ersichtlich, integral Einsicht erhalten hatte. Eine Akteneinsicht sieht - zumindest in diesem Umfang und zu diesem Zweck - nur das Sachverständigenrecht vor (vgl. Art. 184 Abs. 4 StPO).
3.8.4 Auch in Anbetracht der Tragweite und Eingriffsintensität, die eine - selbst vorläufige - Risikoprognose für die beschuldigte Person im Haftverfahren haben kann, ist es angezeigt, die Vorschriften zur Partizipation und zum rechtlichen Gehör in Art. 182 ff. StPO zur Anwendung zu bringen. Insbesondere muss es der beschuldigten Person möglich sein, Ausstandsgründe gegen die Expertin geltend zu machen (vgl. Art. 183 Abs. 3 StPO), die ein Explorationsgespräch mit ihr führen und - unter anderem gestützt darauf - einen Bericht zu der von ihr ausgehenden Gefährdung und verdachtsweise vorliegenden psychischen Störungen verfassen soll.
3.8.5 Aus dieser Gesamtbetrachtung folgt, dass sich der Befundbericht vom 5. Juni 2024 nach den Vorschriften über Sachverständigengutachten im Sinne von Art. 182 ff. StPO zu richten gehabt hätte, wie der Beschwerdeführer insoweit zutreffend vorbringt.
Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass die Haftsituation eine zeitnahe Abklärung des Rückfallrisikos erfordert. Dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen kann durch kurze Fristen zur Formulierung von Stellungnahmen und Ergänzungsfragen Rechnung getragen Art. 31 Abs. 3 und 4 BV , Art. 5 Ziff. 3 und 4 EMRK , Art. 5 Abs. 2 StPO) einzuschränken, das die vordringliche Durchführung des Verfahrens gerade im Interesse der beschuldigten Person verankert.
BGE 150 IV 462 S. 470
werden (vgl. Urteil 1B_595/2022 vom 23. Dezember 2022 E. 2.6 zur Verkürzung der allgemeinen Replikfrist im Haftverfahren). Der beschuldigten Person bzw. ihrer Verteidigung steht es im Übrigen frei, auf das Formulieren von Anträgen oder Einwänden gegen die begutachtende Person zu verzichten (vgl. BGE 148 IV 22 E. 5.5.2). Jedenfalls rechtfertigt es sich nicht, die Rechte auf Äusserung und Teilhabe von vornherein unter Hinweis auf das Beschleunigungsgebot in Haftsachen (vgl. Die Einschränkung des rechtlichen Gehörs liesse sich in der vorliegenden Konstellation ohnehin nicht mit dem Beschleunigungsgebot begründen: Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 2. Oktober 2023 (zunächst wegen Flucht- und Kollusionsgefahr) in Untersuchungshaft. Es wäre der Staatsanwaltschaft als Verfahrensleiterin im Geltungsbereich des besonderen Beschleunigungsgebots oblegen und möglich gewesen, bereits früher eine Risikoabklärung unter Wahrung der Partizipations- und Gehörsrechte nach Art. 182 ff. StPO in Auftrag zu geben, wenn sie der Auffassung war, vom Beschwerdeführer gehe potenziell eine Gefahr aus, die die Anordnung von Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft wegen Wiederholungsgefahr nahelegt. Die Staatsanwaltschaft hat deshalb - insoweit anders als die Vorinstanz schliesst - den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) und die diesen teilweise konkretisierenden Bestimmungen über die Ernennung einer Sachverständigen (Art. 184 StPO) nicht eingehalten.