150 V 454
Urteilskopf
150 V 454
42. Auszug aus dem Urteil der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen SOLIDA Versicherungen AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_75/2024 vom 12. August 2024
Regeste
Art. 1a Abs. 1 lit. a UVG; Versicherteneigenschaft.
Sinn und Zweck dieser Bestimmung ist es, sämtliche in der Schweiz tätigen Arbeitnehmer obligatorisch gegen Unfallfolgen zu versichern. Dem Territorialitätsprinzip folgend ist dabei die Schweiz als tatsächlicher Arbeitsort gemeint. Für die Annahme einer hierzulande ausgeübten Tätigkeit reicht es nicht aus, wenn das Arbeitsergebnis hier erzielt wurde (E. 7 und 8).
Aus den Erwägungen:
4.1 Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, indem sie in Bestätigung des Einspracheentscheids vom 27. März 2023 verneinte, dass der Beschwerdeführer zum Unfallzeitpunkt (16. April 2022) in der Schweiz obligatorisch unfallversichert gewesen war. Der Streit dreht sich somit insbesondere um die Frage, ob der Beschwerdeführer zum Unfallzeitpunkt als ein in der Schweiz beschäftigter Arbeitnehmer im Sinne von Art. 1a Abs. 1 lit. a UVG zu qualifizieren ist, sodass Versicherungsdeckung für Berufs- und Nichtberufsunfälle durch die Beschwerdegegnerin bestehen würde.
(...)
7.1 Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der massgeblichen Norm. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss das Gericht unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente nach der wahren Tragweite der Norm suchen. Dabei hat es insbesondere den Willen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, wie er sich namentlich aus den Gesetzesmaterialien ergibt (historische Auslegung). Weiter hat das Gericht nach dem Zweck, dem Sinn und den dem Text zugrunde liegenden Wertungen zu forschen, namentlich nach dem durch die Norm geschützten Interesse (teleologische Auslegung). Wichtig ist auch der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt, und das Verhältnis, in welchem sie zu anderen Gesetzesvorschriften steht (systematische Auslegung). Das Bundesgericht befolgt bei der Auslegung von Gesetzesnormen einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es ab, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen (Urteil 9C_705/2023 vom 4. Juni 2024 E. 3.2.1, nicht publ. in: BGE 150 V 257; BGE 149 V 21 E. 4.3; BGE 148 V 373 E. 5.1).
7.2.1 Art. 1a UVG befasst sich mit den Versicherten und bezeichnet in Abs. 1 lit. a als obligatorisch versichert nach diesem Gesetz die in der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmer, einschliesslich der Heimarbeiter, Lernenden, Praktikanten, Volontäre sowie der in Lehr- oder
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Invalidenwerkstätten tätigen Personen. Der Text ist in allen drei Amtssprachen im Wesentlichen sinngleich ("les travailleurs occupés en Suisse", "i lavoratori occupati in Svizzera").
7.2.2 Der Wortlaut von Art. 1a Abs. 1 lit. a UVG steht mit dem Sinn und Zweck (teleologisches Auslegungselement) dieser Bestimmung, sämtliche in der Schweiz tätigen Arbeitnehmer obligatorisch gegen Unfallfolgen zu versichern, in Einklang. Art. 1a Abs. 1 lit. a UVG bezweckt mithin eine auf den Beschäftigungsort in der Schweiz räumlich begrenzte obligatorische Versicherung des Arbeitnehmers.
7.2.3 Dass, dem Territorialitätsprinzip folgend, die Schweiz als tatsächlicher Arbeitsort gemeint ist, ergibt sich auch aus der gesetzessystematischen Einordnung von Art. 1a UVG. Nachdem darin der Grundsatz normiert wird, lässt Art. 2 UVG i.V.m. Art. 4 UVV (SR 832.202) eine Ausnahme vom Territorialitäts- und Erwerbsortsprinzip zu: Unter dem ersten Titel a. "Versicherte Personen" werden im 1. Kapitel "Obligatorische Versicherung" in Art. 1a UVG die Versicherten genannt, um in Art. 2 die "Räumliche Geltung" der obligatorischen Versicherung zu regeln. So wird die Versicherung nicht unterbrochen, wenn ein Arbeitnehmer unmittelbar vor seiner Entsendung ins Ausland in der Schweiz obligatorisch versichert war und weiterhin zu einem Arbeitgeber mit Wohnsitz oder Sitz in der Schweiz in einem Arbeitsverhältnis bleibt und diesem gegenüber einen Lohnanspruch hat. Die Weiterdauer der Versicherung beträgt zwei Jahre. Sie kann auf Gesuch hin vom Versicherer bis auf insgesamt sechs Jahre verlängert werden. Auch hieraus ist zu schliessen, dass sich die obligatorische Unfallversicherung nach Art. 1a UVG auf versicherte Arbeitnehmende mit einem Beschäftigungsort in der Schweiz bezieht (vgl. KASPAR GEHRING, in: KVG/UVG Kommentar, 2018, N. 1 f. zu Art. 2 UVG; HELMLE/MATTER, in: Basler Kommentar, UVG, 2019, N. 4 zu Art. 2 UVG; RIEMER-KAFKA/KADERLI, in: Kommentar zum Schweizerischen Sozialversicherungsrecht, UVG, 2018, N. 4 zu Art. 2 UVG).
7.2.4 Gleiches ergibt sich mit Blick auf den gesetzgeberischen Willen (historische Auslegung). In der Botschaft vom 18. August 1976 zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung (BBl 1976 III 141 ff.) wurde dargelegt, dass insbesondere im Interesse der Rechtssicherheit und zur Vermeidung administrativer Umtriebe das Versicherungsverhältnis für eine möglichst lange Dauer bestehen bleiben soll. Daher werde es nicht unterbrochen, wenn der Arbeitnehmer
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eines in der Schweiz domizilierten Arbeitgebers auf dessen Rechnung für beschränkte Zeit im Ausland beschäftigt werde und dort keiner obligatorischen Unfallversicherung unterstehe. Entsprechend komme die schweizerische Unfallversicherung nicht zur Anwendung für Arbeitnehmer, die für beschränkte Zeit von einem Arbeitgeber im Ausland in die Schweiz entsandt würden; nicht in die Schweiz entsandte, d.h. in unserem Land ansässige Arbeitnehmer, die während längerer Zeit für einen ausländischen Arbeitgeber in der Schweiz Arbeiten ausführten, seien grundsätzlich nach schweizerischem Recht versichert. Für Arbeitgeber, die ständig Arbeitnehmer im Ausland beschäftigten, wie Bahnen, Fluggesellschaften sowie für gewisse Kategorien öffentlicher Bediensteter könne der Bundesrat zur Schliessung von Versicherungslücken und zur Vermeidung von Doppelversicherungen das sogenannte Sitzprinzip zur Anwendung bringen. Für die Unfallversicherung im zwischenstaatlichen Bereich würden im Übrigen die staatsvertraglichen Vereinbarungen eine wichtige Rolle spielen (BBl 1976 III 185).Die vom Bundesrat dementsprechend geschaffenen Sonderregeln für entsandte Arbeitnehmer (Art. 4 UVV), Transportbetriebe und öffentliche Verwaltungen (Art. 5 UVV) und Arbeitnehmer von Arbeitgebern mit Sitz im Ausland (Art. 6 UVV) erfassen den vorliegenden Sachverhalt allerdings nicht, was unbestritten ist. Namentlich steht ausser Frage, dass die Regelungen über die Entsendung hier nicht zum Tragen kommen, nachdem der Beschwerdeführer seine Arbeit nie in der Schweiz verrichtet hat (vgl. RIEMER-KAFKA/KADERLI, a.a.O., N. 5 zu Art. 2 UVG). Weiterungen hierzu erübrigen sich damit. Auf eine staatsvertragliche Vereinbarung kann sich der Beschwerdeführer ebenso wenig berufen.
8.1 Zutreffend ist, dass auch ein Arbeitnehmer, der sein Erwerbseinkommen mit Hilfe von Internetplattformen erzielt, grundsätzlich gestützt auf Art. 1a Abs. 1 UVG versichert sein kann. Der Beschwerdeführer verkennt aber, dass dies nach dem Gesagten voraussetzt, dass die Arbeitstätigkeit in der Schweiz ausgeübt wird (RIEMER-KAFKA/KADERLI, a.a.O., N. 27 zu Art. 1a UVG).
8.2 Was der Beschwerdeführer zum Erwerbsortsprinzip vorbringt, verfängt nicht. Insbesondere lässt sich nichts zu seinen Gunsten aus dem angerufenen BGE 119 V 65 E. 3b ableiten. Dieser Entscheid bezieht sich auf Art. 1a Abs. 1 lit. b AHVG. Danach sind die
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natürlichen Personen, die in der Schweiz eine Erwerbstätigkeit ausüben, AHV-versichert. Nach dem sogenannten Erwerbsortsprinzip ist eine Person in dem Staat, in welchem sie ihre Erwerbstätigkeit ausübt, der Versicherung unterstellt. Das Prinzip gilt namentlich im Rahmen des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA; SR 0.142.112.681). Vor Inkrafttreten des FZA galt das Abkommen vom 25. Februar 1964 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über Soziale Sicherheit (SR 0.831.109.136.1). Dieses enthält in Art. 5 eine Kollisionsregel, wonach der Arbeitsort bzw. das Erwerbsortsprinzip massgeblich ist. Der soeben zitierte Entscheid erging im Zusammenhang mit diesem Sozialversicherungsabkommen von 1964. Er bezieht sich einzig auf im Ausland wohnende Personen, die als Verwaltungsrat, Direktor oder in anderer leitender Funktion einer juristischen Person mit Sitz in der Schweiz tätig sind und einen entscheidenden Einfluss auf die Tätigkeit der schweizerischen Gesellschaft nehmen. Diese Rechtsprechung, wonach eine Erwerbstätigkeit in der Schweiz ausübt, wer sich zwar im Ausland aufhält, aber in einer schweizerischen Unternehmung eine (formelle oder faktische) Organfunktion ausübt, ist somit vorliegend nicht einschlägig. Zum einen lässt sich der Sachverhalt insofern nicht vergleichen, als sich der Beschwerdeführer nicht in leitender (Organ-)Stellung mit massgeblichem Einfluss auf die Geschäftstätigkeit der ehemaligen Arbeitgeberin befand. Zum andern bildet die AHV-rechtliche Bewertung kein Präjudiz für die hier interessierende Unterstellung unter die obligatorische Unfallversicherung. Eine Bundesrechtsverletzung kann der Vorinstanz in diesem Zusammenhang nicht vorgeworfen werden. Ihre Schlussfolgerungen stehen nicht im Widerspruch zum Erwerbsortsprinzip.
8.3.1 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführer nicht entsandt wurde, sondern vom Arbeitgeber in der Schweiz zum Vornherein im Ausland beschäftigt worden war, mithin zu keinem Zeitpunkt vor dem Unfallereignis eine Tätigkeit in der Schweiz ausgeübt hatte und eine Weiterbeschäftigung in der Schweiz nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorauszusehen gewesen war (vgl. die zu Art. 61 Abs. 1 KUVG ergangene Rechtsprechung: BGE 106 V 225 E. 2; ANDRÉ NABOLD, in: Rechtsprechung des Bundesgerichts
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zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Unfallversicherung [UVG], 5. Aufl. 2024, S. 17 zu Art. 2 UVG). Der Anfang September 2022 unterzeichnete Arbeitsvertrag über ein seit 1. August 2022 dauerndes unbefristetes Arbeitsverhältnis mit der B. AG ändert daran nichts. Für die Annahme einer hierzulande ausgeübten Tätigkeit reicht es nicht aus, wenn das Arbeitsergebnis hier erzielt wurde. Eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung im Zusammenhang mit Art. 1a Abs. 1 lit. a UVG oder eine anderweitige Bundesrechtsverletzung durch die Vorinstanz ist nicht auszumachen. Ebenso wenig ist ersichtlich, inwiefern das angefochtene Urteil gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK verstossen soll, auf welches sich der Beschwerdeführer mit Blick auf das vorinstanzliche Auslegungsergebnis beruft.
8.3.2 Die Vorinstanz gelangte nach dem Gesagten ohne Bundesrecht zu verletzen zum Ergebnis, es fehle für das Ereignis vom 16. April 2022 an einer Versicherungsdeckung nach UVG durch die Beschwerdegegnerin. Der Beschwerdeführer bringt dagegen insgesamt nichts Stichhaltiges vor. Folglich hat es beim angefochtenen Urteil sein Bewenden.