150 V 469
Urteilskopf
150 V 469
44. Auszug aus dem Urteil der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. VAUDOISE ALLGEMEINE Versicherungs-Gesellschaft AG gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_415/2023 vom 3. Oktober 2024
Regeste
Zusammenfassung der Rechtsprechung (E. 3).
Beim unfallbedingten Verlust beider Beine sind die tabellarisch festgesetzten Integritätsentschädigungen von je 50 % zusammenzuzählen (E. 5).
A. A., geboren 1999, arbeitete zwischen seinem Abschluss des Gymnasiums sowie Absolvierung des Militärdienstes und dem geplanten Beginn eines Physikstudiums an der Hochschule B. in einem Sandwich-Restaurant und war dadurch bei der Vaudoise Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft AG (nachfolgend: Vaudoise) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Am 8. Februar 2020 stürzte er im Bahnhof C. vom Perron unter einen Zug. Die Vaudoise erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Wegen des Verlusts beziehungsweise der Amputation beider Unterschenkel sprach sie ihm mit Verfügung vom 16. Mai 2022 und Einspracheentscheid vom 18. Oktober 2022 eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 80 % (Fr. 118'560.-) zu.
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B. Die dagegen von A. erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 14. April 2023 gut und setzte die Integritätseinbusse auf 100 % fest (Fr. 148'200.-).
C. Die Vaudoise lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils sei ihr Einspracheentscheid vom 18. Oktober 2022 zu bestätigen.
A. lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
Aus den Erwägungen:
2. Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie dem Beschwerdegegner eine Integritätsentschädigung bei einer Integritätseinbusse von 100 % zusprach statt der von der Beschwerdeführerin auf 80 % festgesetzten. Umstritten ist die Bemessung beim Zusammenfallen mehrerer Integritätsschäden.
3. Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch auf Integritätsentschädigung nach Art. 24 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 1 UVG sowie Anhang 3 UVV (SR 832.202; in Verbindung mit Art. 25 Abs. 2 UVG) zutreffend dargelegt. Es bedarf dafür einer dauernden erheblichen Schädigung der körperlichen oder geistigen Integrität im Sinne eines anatomischen, funktionellen, geistigen oder psychischen Defizits (BGE 115 V 147 E. 1; BGE 113 V 218 E. 4b) mit Beeinträchtigung in den Lebensfunktionen und im Lebensgenuss (BGE 117 V 71 E. 3a/bb/aaa). Die Schwere des Integritätsschadens wird nach dem medizinischen Befund beurteilt. Bei gleichem medizinischem Befund ist der Integritätsschaden für alle Versicherten gleich; er wird in der Unfallversicherung abstrakt und egalitär bemessen, ohne Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls. Auch geht es dabei nicht um die Schätzung erlittener Unbill, sondern um die medizinisch-theoretische Ermittlung der Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Integrität, wobei subjektive Faktoren ausser Acht zu lassen sind (BGE 133 V 224 E. 5.1; BGE 115 V 147 E. 1 mit Hinweisen; Urteil 8C_812/2010 vom 2. Mai 2011 E. 6.2). Unerheblich ist, ob die Schädigung dank eines Hilfsmittels mehr oder weniger vollständig ausgeglichen werden kann mit der Folge, dass sie sich im täglichen Leben nicht mehr oder nur noch
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in geringem Masse nachteilig auswirkt. Die Bemessung des Integritätsschadens bei Funktionsausfall oder Gebrauchsunfähigkeit eines Organs hat daher auch bei der Versorgung mit Endoprothesen nach dem unkorrigierten Zustand zu erfolgen (BGE 115 V 147 E. 3a; RKUV 2001 Nr. U 445 S. 555, U 40/01 E. 4; RKUV 2003 Nr. U 496 S. 403, U 313/02 E. 3 und 4; Urteil 8C_746/2022 vom 18. Oktober 2023 E. 4.3).Richtig dargestellt werden im angefochtenen Urteil insbesondere auch die Grundsätze über die Festsetzung der Integritätsentschädigung beim Zusammenfallen mehrerer körperlicher, geistiger oder psychischer Integritätsschäden aus einem oder mehreren Unfällen (Art. 36 Abs. 3 UVV). Hervorzuheben ist, dass die Integritätseinbusse für jeden Verlust einzeln zu bestimmen ist. Führen ein oder mehrere versicherte Ereignisse zu verschiedenen Integritätsschäden, sind die den einzelnen Schädigungen entsprechenden Prozentzahlen zusammenzuzählen, sofern die Beeinträchtigungen medizinisch eindeutig feststehen und sich in ihren Auswirkungen klar voneinander unterscheiden lassen (BGE 116 V 156 E. 3, insb. 3b; SVR 2008 UV Nr. 10 S. 32, U 109/06 E. 6; RKUV 1988 Nr. U 48 S. 230, U 99/86 E. 2b; Urteile 8C_38/2024 vom 28. Juni 2024 E. 2.3.2; 8C_300/2020 vom 2. Dezember 2020 E. 4.3; 8C_19/2017 vom 22. Mai 2017 E. 4.4; 8C_826/2012 vom 28. Mai 2013 E. 3.2; U 363/02 vom 5. April 2004 E. 5). Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, soll das Ergebnis praxisgemäss auf vergleichbare Schäden gemäss Skala hin überprüft beziehungsweise ein Quervergleich mit einer tabellarisch erfassten weitergehenden Schädigung vorgenommen werden. Dies galt etwa bei verbleibender Belastungsintoleranz eines Beins mit Bewegungseinschränkung des Knies und des Sprunggelenks sowie Arthrosen beziehungsweise bei einem Beschwerdebild mit Schwindel, Tinnitus und einer Gleichgewichtsstörung sowie einer psychischen Störung jeweils nach Verkehrsunfällen (s. insb. Urteile 8C_38/2024 vom 28. Juni 2024 E. 4; 8C_826/2012 vom 28. Mai 2013 E. 3.4; U 100/98 vom 30. November 1998 E. 3b und 3c; ferner SJZ 92/1996 S. 127, U 179/94; Urteile U 314/98 vom 5. Juli 1999 E. 1; U 235/96 vom 3. Juni 1997 E. 5b mit Hinweis auf RKUV 1989 Nr. U 78 S. 357 E. 3f). Die Integritätseinbusse kann insgesamt indessen nicht mehr als 100 % betragen (Art. 36 Abs. 3 UVV; BGE 116 V 156 E. 3b; Urteil 8C_812/2010 vom 2. Mai 2011 E. 4-6).
Zu ergänzen bleibt, dass dem Bundesgericht eine Angemessenheitskontrolle hinsichtlich der Beurteilung des Integritätsschadens durch
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die Vorinstanz verwehrt ist. Es hat nur bei rechtsfehlerhafter Ermessensausübung einzugreifen (Art. 24 Abs. 1 UVG; Art. 95 lit. a BGG; Urteile 8C_760/2023 vom 24. Juni 2024 E. 3.3; 8C_193/2013 vom 4. Juni 2013 E. 4.1).
4.1 Gemäss Vorinstanz liegt nach zuletzt übereinstimmender Beurteilung durch die vom Beschwerdegegner beauftragte Privatgutachterin Dr. med. D., Fachärztin für Chirurgie FMH, vom 14. November 2022 und den beratenden Arzt der Beschwerdeführerin, Dr. med. E., Facharzt für orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates, vom 14. Dezember 2022 beidseitig ein Verlust des Beines oberhalb des Kniegelenks im Sinne der ausdrücklichen Regelung in Anhang 3 UVV vor. Diese Verletzung ist je für sich allein gesehen mit 50 % zu entschädigen. Nach dem kantonalen Gericht sind die beiden Integritätsentschädigungen zu addieren.
4.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass sich eine Integritätsentschädigung von insgesamt 100 % nicht rechtfertige angesichts des Quervergleichs mit der gemäss Anhang 3 UVV auf 100 % festzusetzenden Integritätseinbusse bei Tetraplegie und insbesondere auch mit Rücksicht auf die dort getroffene Unterscheidung gegenüber der Paraplegie, die mit 90 % zu entschädigen sei.
5. Inwiefern das kantonale Gericht die beim Zusammenfallen mehrerer Integritätsschäden zu beachtenden Grundsätze verletzt haben sollte, ist nicht zu erkennen.
5.1 Unbestrittenerweise liegt an beiden Beinen ein Verlust jeweils oberhalb des Kniegelenks vor. Es handelt sich dabei um je medizinisch eindeutige und zudem klar unterscheidbare Beeinträchtigungen. Damit ist praxisgemäss die Voraussetzung gegeben für eine vollumfängliche Berücksichtigung der in der Verordnung ausdrücklich vorgesehenen Integritätseinbussen von je 50 % durch Zusammenzählen. Dass die Vorinstanz dem Beschwerdegegner eine Integritätsentschädigung von 100 % zugesprochen hat, ist somit nicht zu beanstanden.
5.2 Selbst eine Würdigung des entsprechenden Resultats einer Entschädigung von 100 % mit Blick auf allenfalls vergleichbare tabellarisch erfasste andere Schädigungen könnte daran nichts ändern. Gemäss der Liste von Anhang 3 UVV wird eine Gruppe von sehr schweren Integritätsschäden mit 80 bis 100 % veranschlagt. Dies gilt für die Tetraplegie sowie die vollständige Blindheit (100 %), die
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Paraplegie (90 %), sodann die vollständige Taubheit (85 %) und schliesslich die sehr schwere Beeinträchtigung der Lungenfunktion oder der Nierenfunktion, sehr schwere organische Sprachstörungen und das sehr schwere motorische oder psychoorganische Syndrom (je 80 %). Innerhalb dieser Gruppe von sehr schweren Schädigungen erfolgt somit nur eine geringfügige Abstufung über insgesamt 20 %. Mit grossem Abstand dazu folgen, jeweils mit 50 % zu bemessen, der Verlust eines Arms im Ellbogen oder oberhalb desselben, der Verlust eines Beines oberhalb des Kniegelenks, die sehr schwere Entstellung im Gesicht und die sehr starke schmerzhafte Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, und schliesslich eine Vielzahl weiterer mit bis zu 40 % veranschlagter Schädigungen.Dass beim hier vorliegenden Verlust beider Beine oberhalb des Knies eine Zuordnung zu den in Anhang 3 UVV geregelten schwersten Schädigungen zu erfolgen hat, wird auch von der Beschwerdeführerin nicht bestritten, nachdem sie selber eine Entschädigung von 80 % zusprach. Weshalb der Verlust beider Beine eine als geringer zu wertende Integritätseinbusse bewirken sollte als eine Tetraplegie, liesse sich kaum begründen, zumal hier zum funktionellen ein anatomisches Defizit hinzutritt. Zudem bleibt zu beachten, dass das Bundesgericht zulässigerweise lediglich bei rechtsfehlerhafter Ermessensausübung korrigierend einzuschreiten hätte. Eine solche ist hier indessen nicht auszumachen.