151 V 1
Urteilskopf
151 V 1
1. Auszug aus dem Urteil der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen SWICA Krankenversicherung AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_480/2022 vom 29. August 2024
Regeste
Beim Zusammentreffen von Leistungen verschiedener Sozialversicherungen beurteilt sich die Überentschädigung grundsätzlich nach dem Kongruenzprinzip (E. 6.1). Im Verhältnis von Grundpflegebeiträgen und Hilflosenentschädigung stellte die bisherige Rechtsprechung entscheidend auf das Kriterium der gleichartigen Pflege resp. Hilfestellung ab (E. 6.2 und 6.3). Für die Frage nach der Gleichartigkeit der Versicherungsleistungen (Art. 69 Abs. 1 ATSG) ist vorab die Begrifflichkeit von Art. 14 f. ATSG (Sach- oder Geldleistungen) massgebend (E. 6.4). Überentschädigung setzt daher funktionale Kongruenz voraus, was Natur und Wirkungsweise der konkurrierenden Leistungen betrifft; Krankenpflegebeiträge und Hilflosenentschädigung sind funktional verschiedenartig (E. 6.5). Die Vorgabe, wonach nur Leistungen "gleicher Zweckbestimmung" in die Überentschädigungsrechnung einbezogen werden, erfordert zusätzlich sachliche Kongruenz des versicherten Aufwands (inhaltliche Übereinstimmung der Grundpflege und der Hilfestellungen in alltäglichen Lebensverrichtungen); Pflegebeiträge und Hilflosenentschädigung verhalten sich diesbezüglich weitgehend komplementär zueinander (E. 6.6).
In der Lehre herrscht die Ansicht vor, Art. 69 Abs. 2 ATSG sei einer Globalmethode verpflichtet, die die in Abs. 1 statuierte Kongruenzmethode verdränge resp. relativiere (E. 8.2). Auch mit Blick auf die Entstehungsgeschichte von Art. 69 ATSG zeigt sich, dass ein solcher Widerspruch nicht besteht; Abs. 2 lässt die in Abs. 1 geregelte Frage, welche zusammentreffenden Leistungen bei der Berechnung der Überentschädigung berücksichtigt werden, unberührt (E. 8.3).
Art. 122 Abs. 1 KVV bietet ebenfalls keine Rechtsgrundlage zur Kürzung von Grundpflegebeiträgen im Verhältnis zu einer Hilflosenentschädigung (E. 9).
A. A. (geb. 2008) leidet an einer spinalen Muskelatrophie (heredo-degenerative Erkrankung des Nervensystems, Geburtsgebrechen Ziff. 383). Unter dem Titel der Grundpflege (Art. 25a KVG; Art. 7 Abs. 2 lit. c KLV [SR 832.112.31]) wurden ihr wöchentliche Spitexleistungen von 3 Std. 25 Min. ärztlich verordnet. Die SWICA Krankenversicherung AG erteilte Kostengutsprache u.a. für Beiträge an die Grundpflege im Umfang von jährlich 104 Stunden, dies mit Wirkung ab 17. Januar 2017. Im Februar 2020 reichte die Kinderspitex eine neue Bedarfsmeldung für Grundpflegeleistungen von wöchentlich 4,5 Stunden (im Rahmen eines Grundpflegebedarfs von
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insgesamt 41,5 Stunden) ein. Der Krankenversicherer zog die Akten der Invalidenversicherung bei. Am 18. Mai 2020 teilte er der Spitex mit, er habe festgestellt, dass A. eine Entschädigung der Invalidenversicherung für Hilflosigkeit schweren Grades mit Intensivpflegezuschlag erhalte. Ein Teil davon sei zur Finanzierung von Grundpflegeleistungen vorgesehen. Die Spitex entgegnete, die teilzeitlich erwerbstätige, alleinerziehende Mutter der Versicherten leiste wöchentlich 37 Stunden Pflege, was 89 Prozent des Pflegeaufwands ausmache. Daher bestehe kein Raum für eine Überentschädigung.Der Krankenversicherer kam zum Schluss, die Hilflosenentschädigung mit Intensivpflegezuschlag der Invalidenversicherung decke die Kosten des Grundpflegebedarfs vollständig. Ungedeckte Krankheitskosten in Form von Mehrkosten oder Erwerbsausfall der Mutter der Versicherten seien nicht ausreichend belegt. Infolge Überentschädigung bestehe kein Anspruch auf Pflegebeiträge. Im Zeitraum Februar 2017 bis Dezember 2019 seien Leistungen im Betrag von Fr. 11'452.35 zuviel ausbezahlt worden. Von einer Rückforderung werde abgesehen.
B. A. reichte Beschwerde ein. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies das Rechtsmittel ab, soweit es darauf eintrat.
C. A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt im Wesentlichen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Es sei festzustellen, dass keine Überentschädigung vorliege. Eventuell sei die Sache zur neuen Abklärung und Verfügung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Beschwerdegegnerin und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Stellungnahme.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
6.1 Nach Art. 69 Abs. 1 erster Satz ATSG darf das Zusammentreffen von Leistungen verschiedener Sozialversicherungen nicht zu einer Überentschädigung der berechtigten Person führen. Im zweiten Satz dieser Bestimmung wird diese Vorgabe dahin erläutert, dass bei der Berechnung der Überentschädigung nur Leistungen gleicher Art und Zweckbestimmung berücksichtigt werden, die der anspruchsberechtigten Person aufgrund des schädigenden (sprich versicherten) Ereignisses gewährt werden. Die Auswahl der
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Sozialversicherungsleistungen, die in eine Überentschädigungsrechnung einbezogen werden, erfolgt somit einmal nach Gesichtspunkten der persönlichen ("anspruchsberechtigte Person") und ereignisbezogenen ("aufgrund des schädigenden Ereignisses") Kongruenz (MARC HÜRZELER, in: Basler Kommentar, ATSG, 2020, N. 5 ff. zu Art. 69 ATSG; UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 4. Aufl. 2020, N. 15 zu Art. 69 ATSG; FRÉSARD-FELLAY/FRÉSARD, in: Commentaire romand, Loi sur la partie générale des assurances sociales, 2018, N. 16 ff. zu Art. 69 ATSG; ROLAND SCHAER, Grundzüge des Zusammenwirkens von Schadenausgleichsystemen, 1984, Rz. 493 ff., 1104 ff.). Im vorliegenden Fall entscheidend ist sodann das mit der Formulierung "nur Leistungen gleicher Art und Zweckbestimmung" zum Ausdruck gelangende Erfordernis der funktionalen sowie der sachlichen Kongruenz (dazu E. 6.5 und 6.6). Grundsätzlich müssen die einzubeziehenden Leistungen, wiewohl in Art. 69 Abs. 1 ATSG nicht ausdrücklich erwähnt (THOMAS GÄCHTER, Grundlegende Prinzipien des Koordinationsrechts, in: Sozialversicherungsrechtliche Leistungskoordination, Schaffhauser/Kieser [Hrsg.], 2006, S. 33), auch zeitlich kongruent sein; allerdings greift etwa beim Zusammentreffen von UV-Taggeldern mit IV-Rentenleistungen eine Globalrechnung über die gesamte Periode des Taggeldbezugs (BGE 132 V 27 E. 3.1; dazu HÜRZELER/ CADERAS, Kongruenz - Wie allgemein ist der Rechtsgrundsatz?, HAVE 2016 S. 364).Indem Art. 69 Abs. 1 ATSG den Kongruenzgrundsatz( principe de la concordance des droits ) in den erwähnten Dimensionen verwirklicht, setzt sich das Gesetz vom Gedanken des Globalprinzips ab (FRÉSARD-FELLAY/FRÉSARD, a.a.O., N. 13 zu Art. 69 ATSG). Dieses Konzept fasst alle Sozialversicherungsleistungen (Geld- und Sachleistungen) während eines bestimmten Zeitraums überhaupt (FRÉSARD-FELLAY/FRÉSARD, a.a.O., N. 15 zu Art. 69 ATSG) oder auch nur hinsichtlich eines bestimmten Versicherungsfalls (vgl. KIESER, ATSG-Kommentar, a.a.O., N. 14 und 22 zu Art. 69 ATSG; HÜRZELER/CADERAS, a.a.O., S. 364) zusammen. Mit Blick auf das Ziel, die wirtschaftliche Lage des Berechtigten nach einem oder mehreren Versicherungsfällen nicht besser werden zu lassen, als wenn diese nicht eingetreten wären, bestand im Rahmen der das Gesetzgebungsverfahren vorbereitenden Arbeiten zum ATSG die Idee, die Überentschädigung durch einen umfassend angelegten Einkommensvergleich zu bestimmen. Die Sozialversicherungsleistungen sollten (in ihrer Gesamtheit) zusammen mit einem weiterhin
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erzielten Erwerbs- und Ersatzeinkommen in Beziehung gesetzt werden zu den vor dem Versicherungsfall erzielten - oder mutmasslich ohne diesen noch erzielbaren - Einkünften des Berechtigten und zu den durch den Versicherungsfall verursachten, aber nicht gedeckten zusätzlichen Kosten; die Einkünfte der mit dem Betroffenen zusammenlebenden Familienangehörigen sollten in die Vergleichsrechnung einbezogen werden. Eine im Vergleich global ermittelte Besserstellung nach dem Versicherungsfall führte demnach zu einer Kürzung der Geldleistungen. Hilflosen- und Integritätsentschädigungen sollten bei der Ermittlung der Überentschädigung ausser Rechnung bleiben (Arbeitsgruppe der Schweizerischen Gesellschaft für Versicherungsrecht zur Verbesserung der Koordination in der Sozialversicherung, Bericht und Entwurf zu einem Allgemeinen Teil der Sozialversicherung, Beiheft zur SZS 1984 S. 34, 57 und 81 f.).Anstelle der ursprünglich vorgesehenen Gesamtbetrachtung der wirtschaftlichen Situation etablierte Art. 69 ATSG ein Konzept, das nur solche Sozialversicherungsleistungen einer (entsprechend spezifischen) Überentschädigungsgrenze gegenüberstellt, die ihrer Art und Zweckbestimmung nach übereinstimmen. Allenfalls infolge der ursprünglichen Fokussierung auf Erwerbsersatzleistungen (vgl. FRÉSARD-FELLAY/FRÉSARD, a.a.O., N. 5 zu Art. 69 ATSG) regelt Art. 69 Abs. 2 die Höhe dieser Grenze allein mit Bezug auf Erwerbsausfälle, die entsprechende Erwerbsersatz-Geldleistungen auslösen. Die in Abs. 2 definierte Überentschädigungsgrenze erfasst neben dem wegen des Versicherungsfalls mutmasslich entgangenen Verdienst auch (nicht versicherte) Mehrkosten, die wegen des Versicherungsfalls anfallen, sowie durch das versicherte Ereignis bedingte Einkommenseinbussen von Angehörigen. Daraus schliesst die herrschende Lehre sinngemäss, Abs. 2 behalte wesentliche Elemente des Globalprinzips bei und übersteuere das in Abs. 1 etablierte Kongruenzprinzip (vgl. unten E. 8.2). Verhielte es sich so, käme es vorliegend nicht mehr auf die Art der zusammentreffenden Leistungen (IV-Hilflosenentschädigung und KVG-Pflegebeiträge) an und wäre grundsätzlich ein Überentschädigungstatbestand gegeben.
6.2 Unter dem Gesichtspunkt der Kongruenz bestimmt sich die Art der Leistung zwar oft unmittelbar aus der Natur des versicherten Ereignisses. So löst etwa ein Verdienstausfall ausschliesslich Geldleistungen aus. Eine Überentschädigungsrechnung nach Art. 69 Abs. 2 ATSG bezieht sich denn auch stets entweder auf konkurrierende Renten ( Art. 66 Abs. 1 und 2 ATSG ) oder zusammentreffende
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Taggelder und Renten (Art. 68 ATSG) resp. verschiedene Taggelder (FRÉSARD-FELLAY/FRÉSARD, a.a.O., N. 35 zu Art. 69 ATSG). Die vorliegend zu beurteilende Konstellation zeigt aber, dass eine bestimmte Schadenposition (hier Pflegekosten) durchaus einen Anspruch auf Geld- und Sachleistungen begründen kann.Nach der bisherigen Rechtsprechung (nicht publ. E. 3) gelten die Hilflosenentschädigung der AHV/IV und die Leistungen der Grundpflege nach Art. 7 Abs. 2 lit. c KLV als "weitgehend gleichartig", wenn sie im Wesentlichen Massnahmen vergüten, die wegen Hilflosigkeit erforderlich sind. Diese Praxis beruht, wie schon erwähnt (nicht publ. E. 4.2.3), auf einem Verständnis von Gleichartigkeit, das ausschliesslich im Blick hat, ob die Grundpflegeverrichtungen nach Art. 7 Abs. 2 lit. c KLV im Einzelfall mit den Hilfestellungen im Sinn von Art. 9 ATSG und Art. 42 Abs. 1 IVG übereinstimmen. Die zitierte Praxis begreift die gesetzliche Vorgabe "gleicher Art und Zweckbestimmung" (" de nature et de but identiques ", " di medesima natura e destinazione ") in Art. 69 Abs. 1 ATSG bedeutungsmässig als einheitliches Normelement, vergleichbar etwa mit der Wendung "Sinn und Zweck" (vgl. ADRIAN ROTHENBERGER, Die Verwirklichung der Koordinationsziele durch den Kongruenzgrundsatz, in: Aktuelle Probleme des Koordinationsrechts II, Weber/Beck [Hrsg.], 2017, S. 86). Sie fordert nur Gleichartigkeit des zugrunde liegenden Pflegeaufwands, nicht auch Gleichartigkeit der Leistung als solcher. Letztlich misst die bisherige Rechtsprechung damit der Unterscheidung in Sach- und Geldleistungen (Art. 14 f. ATSG) imZusammenhang mit der Überentschädigungsfrage keine Bedeutung zu.
6.3 An dieser Sichtweise ist nicht festzuhalten. Die Elemente "Art" und "Zweckbestimmung" haben je einen eigenständigen Sinngehalt. Sie erscheinen als unterschiedliche Formen der Kongruenz. "Leistungen gleicher Art" treffen in Form von Geldleistungen oder Sachleistungen zusammen (sogleich E. 6.4). Gleichartigkeit im Sinn von Art. 69 Abs. 1 ATSG meint funktionale Kongruenz (E. 6.5). Verschiedene Leistungen mit "gleicher Zweckbestimmung" sind derweil sachlich kongruent (E. 6.6).
6.4.1 Hilflosenentschädigungen sind Geldleistungen (Art. 15 ATSG). "Heilbehandlung (Krankenpflege)" fällt demgegenüber nach Art. 14 ATSG unter die Sachleistungen (vgl. Art. 24 ff. KVG; GEBHARD
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EUGSTER, Krankenversicherung [nachfolgend: SBVR], in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, Rz. 1264; KIESER, ATSG-Kommentar, a.a.O., N. 21 zu Art. 14 ATSG; RAFFAELLA BIAGGI, in: Basler Kommentar, ATSG, 2020, N. 4 und 16 f. zu Art. 14 ATSG), so auch die streitgegenständlichen Beiträge an Kinderspitexleistungen nach Art. 25a KVG und Art. 7 KLV. Der mit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Neuordnung der Pflegefinanzierung auf Anfang 2011 vollzogene Wechsel von der Vollkostendeckung (aArt. 24 f. KVG) zum Beitragsprinzip (Art. 25a KVG; HARDY LANDOLT, in: Basler Kommentar, KVG, 2020, N. 126 ff. zu Art. 25a KVG) im Bereich der Pflegekosten hat an der Qualifizierung der Pflegebeiträge als Sachleistung der Krankenversicherung nichts geändert.
6.4.2 Der Begriff der Sachleistung wird nicht nur im Sinn von Art. 14 ATSG - als Gegenstück zur Geldleistung nach Art. 15 ff. ATSG - verwendet. Er kann auch Ausdruck des Naturalleistungsprinzips sein; gemeint ist dann, dass der Versicherungsträger (z.B. der obligatorische Unfallversicherer) selbst Schuldner der (z.B. medizinischen) Leistung ist (EUGSTER, SBVR, a.a.O., Rz. 1264). So sind die bis zum vollendeten 20. Altersjahr beanspruchbaren medizinischen Massnahmen zur Behandlung von Geburtsgebrechen der Invalidenversicherung (Art. 13 IVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 ATSG), darunter ambulant erbrachte medizinische Pflegeleistungen (Art. 14 Abs. 1 lit. b IVG), im Sinn eines normativ verstandenen Naturalleistungsprinzips Sachleistungen (dazu MEYER/REICHMUTH, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 4. Aufl. 2022, N. 3 zu Art. 14 IVG; zur absoluten Priorität der medizinischen Massnahmen der Invalidenversicherung gegenüber den Pflegebeiträgen der Krankenversicherung: Art. 64 Abs. 2 ATSG). Hingegen gilt in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung das Kostenvergütungsprinzip, wonach die versicherte Person Schuldnerin des Leistungserbringers ist (Botschaft vom 16. Februar 2005 zum Bundesgesetz über die Neuordnung der Pflegefinanzierung, BBl 2005 2042 Fn. 9; KIESER, ATSG-Kommentar, a.a.O., N. 14 ff. zu Art. 14 ATSG); dies jedenfalls im System des tiers garant (Art. 42 Abs. 1 KVG), aber wohl auch im System des tiers payant (Art. 42 Abs. 2 KVG; GEBHARD EUGSTER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum KVG, 2018, N. 1 zu Art. 24 KVG). Auch die Pflegebeiträge der Krankenversicherung sind tarifvertraglich geregelte Kostenvergütungen (vgl. Art. 43 Abs. 4 KVG; Art. 59c
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KVV [SR 832.102]). Unter diesem Blickwinkel handelt es sich geradenicht um Sachleistungen. Vorliegend ist jedoch die Begrifflichkeit nach Art. 14 ATSG massgebend, nicht diejenige im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Naturalleistungs- und Kostenvergütungsprinzip.
6.4.3 Ferner ist festzuhalten, dass der regressrechtliche Begriff der "Leistungen gleicher Art" sich von demjenigen nach Art. 69 Abs. 1 ATSG unterscheidet und hier nicht massgebend ist. Art. 74 Abs. 2 lit. d ATSG bezeichnet Leistungen für Hilflosigkeit, den Assistenzbeitrag und Vergütungen für Pflegekosten sowie andere aus der Hilflosigkeit erwachsende Kosten als gleichartig. Im Zusammenhang mit dem Rückgriff auf einen für den Versicherungsfall haftenden Dritten stehen die aufgezählten Sozialversicherungsleistungen gemeinsam einer haftpflichtrechtlich kongruenten Anspruchsposition (Pflegeschaden) gegenüber. Gleichartig sind sie (nur) hinsichtlich des Forderungsgrundes (vgl. KLETT/MÜLLER, in: Basler Kommentar, ATSG, 2020, N. 13 zu Art. 74 ATSG; GHISLAINE FRÉSARD-FELLAY, in: Commentaire romand, LPGA, 2018, N. 48 ff. zu Art. 74 ATSG).
6.5 Das Gesetz unterscheidet Sach- und Geldleistungen (Art. 14 f. ATSG) anhand ihrer Wirkungsweise, ihrer Funktion. Sachleistungen sollen "proaktiv" auf das versicherte Risiko einwirken (Heilbehandlung von Gesundheitsschädigungen, berufliche Eingliederung, Hilfsmittel), während Geldleistungen im Wesentlichen dazu bestimmt sind, einen eingetretenen Schaden "reaktiv" auszugleichen (vgl. GIAN CLAUDIO MANI, Reform des Systems der Schweizerischen Sozialversicherungen: unter besonderer Berücksichtigung der Geldleistungen [Art. 15 ATSG], 2012, S. 15; KIESER, ATSG-Kommentar, a.a.O., N. 6 und 10 zu Art. 14 ATSG; BIAGGI, a.a.O., N. 5 zu Art. 14 ATSG; LOCHER/GÄCHTER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 4. Aufl. 2014, S. 209).
Dementsprechend ist die Krankenpflege als Sachleistung nach Art. 14 ATSG dazu bestimmt, tatsächliche Auswirkungen des versicherten Risikos anzugehen, das heisst das gesundheitsbedingte Selbstversorgungsdefizit auszugleichen. Neben diesem kompensatorischen Zweck wirkt die Krankenpflege stabilisierend und vorbeugend auf den Gesundheitszustand ein (LANDOLT, a.a.O., N. 59 zu Art. 25a KVG). Die Pflegebeiträge nach Art. 25a Abs. 1 KVG gleichen konkrete Pflegekosten (teilweise) aus (so schon BGE 127 V 94 E. 3d; BGE 125 V 297 E. 5a; vgl. auch BGE 148 V 28 E. 6.2.4). Die - in Art. 15 ATSG
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explizit als Geldleistung qualifizierte - Hilflosenentschädigung hingegen führt zu einem wirtschaftlichen Ausgleich des Aufwands für Hilfestellungen im Zusammenhang mit den alltäglichen Lebensverrichtungen. Sie wird nach Art. 42ter Abs. 1 IVG "personenbezogen ausgerichtet" und knüpft bei der behinderungsbedingten Pflegebedürftigkeit der betroffenen Person an (IRENE HOFER, in: Basler Kommentar, ATSG, 2020, N. 5 und 28 zu Art. 9 ATSG). Die Entschädigung steht dem Anspruchsberechtigten grundsätzlich zur freien Verfügung: Nach Art. 42ter Abs. 1 IVG soll sie "die Wahlfreiheit in den zentralen Lebensbereichen erleichtern". Dementsprechend wird die Hilflosenentschädigung als Pauschalleistung ausgerichtet, deren Höhe, anders als die der KVG-Pflegebeiträge, nicht vom effektiven Pflegeaufwand und der tatsächlichen Inanspruchnahme von Hilfestellungen abhängt (HOFER, a.a.O., N. 3 und 5 zu Art. 9 ATSG; HARDY LANDOLT, Hilflosenentschädigung - Irrlicht oder Leuchtturm?, in: Sozialversicherungsrechtstagung 2013, Ueli Kieser [Hrsg.], 2014, S. 188).Abgesehen davon, dass eine Anrechnung der Hilflosenentschädigung der gesetzlichen Differenzierung nach Sach- und Geldleistung ( Art. 14 und 15 ATSG ) widersprechen würde, fällt es auch aufgrund des beschriebenen kategorialen Unterschieds schwer, aus der Hilflosenentschädigung ein "gleichartiges" Äquivalent zu den Pflegebeiträgen zu isolieren. Es wäre nicht systemgerecht, mit Hilflosenentschädigung entgoltene konkrete Hilfestellungen zu identifizieren und zu quantifizieren, die ihrer Bestimmung nach den Pflegeleistungen zugeordnet werden können, für die die Krankenversicherung Beiträge ausrichtet. Die einzelnen Leistungen der Grundpflege müssten detailliert aufgelistet und mit den im Einzelfall betroffenen alltäglichen Lebensverrichtungen, welche der Hilflosenentschädigung zugrundeliegen, verglichen werden (ROMANA ?AN?AR, Intersystemische Leistungskoordination bei der spitalexternen Pflege - die Büchse der Pandora?, Pflegerecht 2015 S. 75, 77). Das Bundesgericht hat denn auch schon in BGE 125 V 297 E. 5b erkannt, der konkrete Nachweis einer Überentschädigung sei mit praktischen Schwierigkeiten verbunden, weil er eine Aufschlüsselung der Leistungen voraussetze, die sich angesichts der grundsätzlichen Unterschiede in den Leistungsarten kaum sachgerecht und rechtsgleich vornehmen lasse (dazu KIESER, ATSG-Kommentar, a.a.O., N. 12 zu Art. 14 ATSG; HARDY LANDOLT, Überentschädigung und Pflegekosten, Pflegerecht 2022 S. 204).
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Das Erfordernis in Art. 69 Abs. 1 ATSG, wonach die zusammentreffenden Leistungen gleicher Art, also übereinstimmend Geld- oder Sachleistung, sein müssen, um gemeinsam eine Überentschädigung bewirken zu können, behebt dieses Problem grundsätzlich. Insoweit die - funktional verschiedenartigen - KVG-Pflegebeiträge und die IV-Hilflosenentschädigung nicht im Sinn von Art. 69 Abs. 1 ATSG gleichartig sind, bildet diese Konstellation keinen Überentschädigungstatbestand.
6.6.1 Die bisherige Rechtsprechung ist wie erwähnt von einem anderen Verständnis von Gleichartigkeit ausgegangen (E. 6.2). Die Kongruenzprüfung wurde auf das Element der sachlichen Übereinstimmung im Sinn einer "gleichen Zweckbestimmung" verkürzt, indem sie allein nach einem inhaltlichen Vergleich der Leistungsgegenstände (Grundpflegeverrichtungen nach Art. 7 KLV und Hilfestellungen bei Hilflosigkeit nach Art. 9 ATSG) durchgeführt wurde. Dabei handelt es sich indessen um eine von der funktionalen getrennt zu betrachtende, weitere Art von Kongruenz: die sachliche. Unter diesem Aspekt fragt sich, ob und inwieweit die der jeweiligen Leistung zugrunde liegenden Gegenstände sachlich übereinstimmen, d.h. die zusammentreffenden Leistungen sozusagen den gleichen Einzelschaden beheben (BRIGITTE BLUM-SCHNEIDER, Pflege von behinderten und schwerkranken Kindern zu Hause, 2015, Rz. 478). Danach sind etwa Rentenleistungen bei der Überentschädigungsrechnung soweit zu berücksichtigen, wie sie einen Einkommensausfall ersetzen, aber auszuklammern, soweit sie einen Ausfall im Aufgabenbereich Haushalt entschädigen (vgl. Art. 6 ATSG; KIESER, ATSG-Kommentar, a.a.O., N. 61 zu Art. 69 ATSG; FRÉSARD-FELLAY/FRÉSARD, a.a.O., N. 20 zu Art. 69 ATSG).
Nachdem die funktionale Gleichartigkeit hier nicht gegeben ist, wird die Frage nach der sachlichen Kongruenz an sich gegenstandslos. Mit Blick auf die verbreitete Forderung nach Anerkennung eines ungeschriebenen allgemeinen Überentschädigungsverbots über Art. 69 ATSG hinaus (ADRIAN ROTHENBERGER, Das Spannungsfeld von Überentschädigungsverbot und Kongruenzgrundsatz, 2015, Rz. 339 ff. und 373 mit weiteren Hinweisen; a.M. GÄCHTER, a.a.O., S. 59 f.) resp. mit Rücksicht auf seine Bedeutung als "idée générale" oder ethisches Postulat, das die Entwicklung und Anwendung des Rechts leiten soll (FRÉSARD-FELLAY/FRÉSARD, a.a.O., N. 11 zu Art. 69 ATSG), mag dennoch von Interesse sein, dass das Fehlen eines
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Überentschädigungstatbestands kein stossendes Ergebnis zeitigt, weil sich die Grundpflegeverrichtungen nach Art. 7 Abs. 2 lit. c KLV und die Hilfestellungen im Sinn von Art. 9 ATSG und Art. 42 Abs. 1 IVG inhaltlich nicht erheblich überschneiden. Dazu das Folgende:
6.6.2 Die "Zweckbestimmung" (Art. 69 Abs. 1 ATSG) der Pflegebeiträge und diejenige der Hilflosenentschädigung fallen dort zusammen, wo im Bereich der für die Hilflosenentschädigung massgebenden alltäglichen Lebensverrichtungen ein behinderungsbedingter Bedarf - bei Kindern, je nach Alter, Mehr bedarf - an Hilfestellung besteht.
Art. 9 ATSG beschreibt die Hilflosigkeit als Zustand einer Person, die wegen der Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf. Massgebend für die Höhe der Hilflosenentschädigung ist das Ausmass der persönlichen Hilflosigkeit. Es ist zu unterscheiden zwischen schwerer, mittelschwerer und leichter Hilflosigkeit (Art. 42 Abs. 2 IVG), abhängig von der Zahl der betroffenen Lebensverrichtungen sowie von der Überwachungs- und Pflegebedürftigkeit (Art. 37 IVV [SR 831.201]; vgl. auch Art. 43bis AHVG und Art. 66bis AHVV, Art. 38 UVV), in der Invalidenversicherung überdies von der Notwendigkeit einer lebenspraktischen Begleitung (Art. 42 Abs. 3 IVG). Die massgebenden Lebensverrichtungen betreffen folgende Bereiche: Ankleiden und Auskleiden; Aufstehen, Absitzen, Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichten der Notdurft; Fortbewegung im Haus oder ausserhalb (BGE 133 V 450 E. 7.2; BGE 127 V 94 E. 3c).
Die hier relevante krankenversicherungsrechtliche Grundpflege wird in Art. 7 Abs. 2 lit. c Ziff. 1 KLV wie folgt konkretisiert: "Allgemeine Grundpflege bei Patienten oder Patientinnen, welche die Tätigkeiten nicht selber ausführen können, wie Beine einbinden, Kompressionsstrümpfe anlegen; Betten, Lagern; Bewegungsübungen, Mobilisieren; Dekubitusprophylaxe, Massnahmen zur Verhütung oder Behebung von behandlungsbedingten Schädigungen der Haut; Hilfe bei der Mund- und Körperpflege, beim An- und Auskleiden, beim Essen und Trinken". Dieser Katalog von Grundpflegeleistungen ist (im Gegensatz zu demjenigen in lit. b betreffend Behandlungspflege) dem Wortlaut nach ("wie", "tels que", "quali") nicht abschliessend (BGE 136 V 172 E. 5.3.1). Daher können gegebenenfalls weitere Pflegeleistungen vergleichbarer Art als Grundpflege anerkannt werden. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung richtet Beiträge aus,
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wenn die umschriebenen Pflegeleistungen aufgrund einer Bedarfsabklärung auf ärztliche Anordnung hin oder im ärztlichen Auftrag von Pflegefachkräften, Organisationen der Krankenpflege und Hilfe zu Hause (sc. Spitex) oder von Pflegeheimen erbracht werden (Art. 7 Abs. 1 KLV in der hier anwendbaren, bis 30. Juni 2024 gültigen Fassung).Art. 7 Abs. 2 lit. c KLV benennt ausdrücklich die Hilfe bei der Mund- und Körperpflege, beim An- und Auskleiden, beim Essen und Trinken (?AN?AR, a.a.O., S. 75; vgl. dazu die Übersicht bei HARDY LANDOLT, Behandlungspflege - medizinische Pflege - Grundpflege: ein Abgrenzungsversuch, Pflegerecht 2014 S. 35) als unter dem Titel der Pflegebeiträge entschädigungsfähig. Auf Seiten der Hilflosenentschädigung umschreiben Art. 9 ATSG und Art. 42 ff. IVG das versicherte Risiko als Hilfsbedürftigkeit bei alltäglichen Lebensverrichtungen resp. Angewiesensein auf lebenspraktische Begleitung; Art. 42ter Abs. 1 IVG macht die Höhe der Hilflosenentschädigung vom "Ausmass der persönlichen Hilflosigkeit" abhängig. Darüber hinausgehend bezieht sich Art. 37 IVV für die Bestimmung des Schweregrads einer Hilflosigkeit teilweise auf einen Bedarf nach dauernder resp. besonders aufwendiger Pflege (vgl. Abs. 1 und Abs. 3 lit. c; HARDY LANDOLT, Handbuch Pflegerecht, 2023, Rz. 1164 ff.). Das versicherte Risiko wird indessen auf der Ebene des formellen Gesetzes abschliessend festgelegt und kann nicht durch Verordnung weiter gefasst werden. Dass Art. 37 IVV für die Umschreibung des den Schweregrad bestimmenden gesundheitlichen Zustands auf den Pflegebedarf ausgreift, bedeutet nicht, dass die betreffenden pflegerischen Aufwendungen zum Gegenstand der Entschädigung gehörten. Dies folgt schon daraus, dass eine dauernde Pflege im Sinn von Art. 37 IVV auch sog. Behandlungspflege im Sinn von Art. 7 Abs. 2 lit. b KLV umfasst, die mit der Hilflosenentschädigung ohnehin nicht kongruent ist (BGE 125 V 297 E. 5b; Urteil 9C_43/2012 vom 12. Juli 2012 E. 4.1.2; LANDOLT, Handbuch Pflegerecht, a.a.O., Rz. 1242; EUGSTER, SBVR, a.a.O., Rz. 380).
Gleich wie die Behandlungspflege aussen vor zu lassen sind auch Hilfestellungen, die zwar der Grundpflege zugerechnet werden, aber nicht die für die Hilflosenentschädigung massgebenden Lebensverrichtungen beschlagen. Gemeint sind pflegerische Tätigkeiten, die überhaupt nur wegen der Behinderung anfallen, darunter gemäss beispielgebender Auflistung in Art. 7 Abs. 2 lit. c KLV etwa "Bewegungsübungen, Mobilisieren; Dekubitusprophylaxe, Massnahmen
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zur Verhütung oder Behebung von behandlungsbedingten Schädigungen der Haut". Diese als grundpflegerisch taxierten Vorkehren sind ihrer (oft medizinischen) Natur nach teilweise nicht klar von der Behandlungspflege (medizinische Hilfeleistungen) abzugrenzen und könnten genauso gut auch dort eingereiht sein; der Katalog behandlungspflegerischer Massnahmen in Art. 7 Abs. 2 lit. b KLV enthält ähnliche Massnahmen wie etwa das Spülen, Reinigen und Versorgen von Wunden (inkl. Dekubitus- und Ulcus-cruris-Pflege; Ziff. 10) oder die Hilfe bei Medizinalbädern und die Anwendung von Wickeln, Packungen und Fangopackungen (Ziff. 12; vgl. BGE 136 V 172 E. 5.3.1; LANDOLT, in: Sozialversicherungsrechtstagung 2013, a.a.O., S. 183).Bei den Hilfestellungen, die im Zusammenhang mit alltäglichen Lebensverrichtungen stehen, relativiert sich die sachliche Gleichartigkeit zudem mit Blick auf die Erfordernisse der Bedarfsabklärung, der ärztlichen Anordnung resp. des ärztlichen Auftrags und der Wahrnehmung durch Pflegefachleute oder die Spitex. Die konkurrierenden sozialversicherungsrechtlichen Entschädigungen werden auch über diese Anspruchsvoraussetzungen koordiniert: Anspruch auf Grundpflegebeiträge besteht in jedem Fall nur für Hilfe, die durch die erwähnten Fachkräfte geleistet wird (Art. 7 Abs. 1 KLV), nachdem der Hilfsbedarf durch eine Pflegefachkraft ermittelt worden ist (Art. 7 Abs. 2 lit. a Ziff. 1 und Art. 8 Abs. 2 und 3 KLV [in der bis Ende 2019 gültigen Fassung]) und die so bestimmten Leistungen mit ärztlichem Auftrag oder ärztlicher Anordnung spezifiziert worden sind (vgl. Art. 8 Abs. 1 KLV [in der bis Ende 2019 gültigen Fassung]; vgl. aber nunmehr auch Art. 25a Abs. 3 KVG und Art. 7 Abs. 4 KLV, in den seit 1. Juli 2024 in Kraft stehenden Fassungen). Diese Vorgaben reduzieren die nach Art. 7 KLV entschädigungsfähigen Verrichtungen auf solche, die geeignet sind, im Rahmen einer ärztlichen Anordnung näher umschrieben zu werden. Solche Tätigkeiten wiederum dürften eher selten alltägliche Hilfestellungen, etwa beim Essen und im Bereich Mobilität, betreffen.
Insgesamt ist keine weitgehende sachliche Übereinstimmung von Grundpflege und Hilfestellungen in alltäglichen Lebensverrichtungen ersichtlich. Entsprechend überschaubar sind auch die Konstellationen, in denen die Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung und die Pflegebeiträge der obligatorischen Krankenversicherung identischen Pflegeaufwand entschädigen, zumal der mit dem Bundesgesetz vom 13. Juni 2008 über die Neuordnung der
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Pflegefinanzierung eingefügte Art. 25a KVG auch nur noch Beiträge der Krankenversicherung an die Pflege vorsieht.Nach dem Gesagten verhalten sich die Pflegebeiträge nach Art. 25a KVG durchaus komplementär zur Hilflosenentschädigung, was den Gegenstand der (Teil-)Vergütung resp. Entschädigung angeht (vgl. Art. 27 KVG und Art. 110 KVV; Urteil 9C_886/2010 vom 10. Juni 2011 E. 4.3). Daher drängte sich eine Leistungskürzung wegen Überentschädigung selbst dann nicht auf, wenn das Element "Leistungen gleicher Art und Zweckbestimmung" (Art. 69 Abs. 1 ATSG) auf die sachliche Kongruenz im Sinn einer rein inhaltlichen Übereinstimmung verkürzt würde. Dies bestätigt der vorliegende Fall: Die Kinderspitex hat bei der Beschwerdegegnerin einen wöchentlichen Bedarf für Grundpflege von 4,5 Stunden geltend gemacht, während der Gesamtpflegebedarf bei 41,5 Stunden lag.
6.6.3 Was schliesslich die Überentschädigungsrelevanz des Intensivpflegezuschlags angeht, ist dieser - seiner akzessorischen Natur entsprechend - überentschädigungsrechtlich der Hilflosenentschädigung gleichzusetzen, d.h. beim krankenversicherungsrechtlichen Pflegebeitrag nicht anzurechnen. Daher muss nicht geklärt werden, ob er schon deshalb aus der Überentschädigungsrechnung fällt, weil nach Art. 39 Abs. 2 IVV der Zeitaufwand für ärztlich verordnete medizinische Massnahmen durch medizinische Hilfspersonen nicht als zusätzliche Betreuung (Mehrbedarf an Behandlungs- und Grundpflege im Vergleich zu nicht behinderten Minderjährigen gleichen Alters) anrechenbar ist, derweil ein Pflegebeitrag nach Art. 7 KLV gerade eine ärztliche Anordnung voraussetzt (vgl. nunmehr Art. 7 Abs. 4 und Art. 8 Abs. 1 KLV , in Kraft seit 1. Juli 2024). Insbesondere kann offenbleiben, ob die Grundpflege unter "medizinische Massnahmen" im Sinn von Art. 39 Abs. 2 IVV fällt (bejahend LANDOLT, a.a.O., Pflegerecht 2014 S. 36).
6.7 Zusammengefasst sind die KVG-Pflegebeiträge und Hilflosenentschädigung (mit Intensivpflegezuschlag) nicht im Sinn von Art. 69 Abs. 1 ATSG von "gleicher Art", mithin nicht funktional kongruent, und zudem auch bloss in relativ geringem Umfang von "gleicher Zweckbestimmung", also sachlich kongruent (vgl. ?AN?AR, a.a.O., S. 74 f., 77; NICOLE KUNZ, Koordination von Sach- und Geldleistungen: die Hilflosenentschädigung aus Sicht der Krankenversicherung, Schweizer Sozialversicherung 2/2016 S. 37 f.; BLUM-SCHNEIDER, a.a.O., Rz. 485 f.). Ihr Zusammentreffen begründet daher keine Überentschädigung.
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7. Allerdings gehen die Parteien und die Vorinstanz im vorliegenden Verfahren auf dem Boden der bisherigen Rechtsprechung (nicht publ. E. 3) implizit davon aus, Art. 69 Abs. 2 ATSG mache Abs. 1 sozusagen unwirksam (vgl. oben E. 6.1 a.E.). Ein Grossteil der Lehre nimmt an, das in Abs. 1 verankerte Kongruenzprinzip werde in Abs. 2 zugunsten eines Globalprinzips wieder zurückgedrängt (unten E. 8.2). Daher ist das Verhältnis der beiden Absätze von Art. 69 ATSG zu klären (nachfolgend E. 8). Zu prüfen sein wird auch, ob allenfalls Art. 122 KVV in vorliegender Konstellation als Rechtsgrundlage für eine Überentschädigung taugt und gegebenenfalls Art. 69 Abs. 1 ATSG vorgehen könnte (E. 9).
8.1 Laut dem zweiten Satz von Art. 69 Abs. 1 ATSG beschränkt sich die Überentschädigungsrechnung auf Leistungen gleicher Art und Zweckbestimmung, die der anspruchsberechtigten Person aufgrund des schädigenden Ereignisses gewährt werden. Nach Abs. 2 ist eine Überentschädigung insoweit gegeben, wie "die gesetzlichen Sozialversicherungsleistungen den wegen des Versicherungsfalls mutmasslich entgangenen Verdienst zuzüglich der durch den Versicherungsfall verursachten Mehrkosten und allfälliger Einkommenseinbussen von Angehörigen übersteigen". Ein "mutmasslich entgangener Verdienst" löst ausschliesslich Geldleistungen aus, die ohne Weiteres gleichartig sind. Insofern ist nicht davon auszugehen, Art. 69 Abs. 2 ATSG verdränge die Kongruenzvorgabe von Art. 69 Abs. 1 ATSG.
8.2 Ein gewichtiger Teil der Lehre sieht dies freilich anders: So führt KIESER (Kommentar zum ATSG, 4. Aufl. 2020, N. 15 ff., 22 ff., 33 ff., 36 f. und 58 ff. zu Art. 69 ATSG) aus, in Art. 69 Abs. 1 und 2 ATSG erschienen offensichtlich unterschiedliche Auffassungen. In Abs. 1 werde klar das Kongruenzprinzip verankert. Abs. 2 liege aber eine gegenteilige Auffassung zugrunde. Art. 69 Abs. 2 ATSG enthalte eine einzige Überentschädigungsgrenze. Dies deute klar darauf hin, dass der Gesetzgeber nach der Globalmethode koordinieren wolle. Hinzu komme, dass die Überentschädigungsgrenze von Art. 69 Abs. 2 ATSG Positionen (mutmasslich entgangenes Erwerbseinkommen, Mehrkosten) berücksichtige, die nicht kongruent seien (so auch EUGSTER, SBVR, a.a.O., Rz. 1503 [zu Art. 122 Abs. 1 KVV]; MANI, a.a.O., S. 192). Dies wäre bei strikter Beachtung des Kongruenzprinzips ausgeschlossen; vielmehr müsste bezogen auf die einzelnen (kongruenten) Leistungskoordinationen je eine eigene
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Überentschädigungsgrenze festgesetzt werden (mithin eine Grenze für die Koordination von einkommensersetzenden Leistungen, eine Grenze für Mehrkosten etc.), und es müsste bestimmt werden, dass für die Berechnung der Überentschädigung nur kongruente Leistungen berücksichtigt werden dürften. Art. 69 Abs. 2 ATSG entspreche im Wortlaut einer Fassung des Ständerats von 1991, die im ersten Absatz noch der Globalmethode folgte (vgl. BBl 1999 4639 f.). Mithin habe die ursprüngliche ständerätliche Fassung eine Überentschädigungsgrenze festgelegt, die bei Berücksichtigung der Globalmethode Bedeutung habe. Dies lasse sich am Zusammenfassen von grundsätzlich nichtkongruenten Bereichen (insbesondere Einkommen und Mehrkosten) erkennen, was nur richtig sein könne, wenn auch die zu berücksichtigenden sozialversicherungsrechtlichen Leistungen unter Ausserachtlassung des Kongruenzgrundsatzes herangezogen würden. Offensichtlich habe der Gesetzgeber beim Entscheid, die Überentschädigung nach dem Kongruenzprinzip (und nicht wie noch im Rahmen der Vorarbeiten beabsichtigt nach dem Globalprinzip) zu regeln, ungenügend berücksichtigt, dass die gesamte Bestimmung von Art. 69 ATSG (und nicht lediglich Abs. 1) umgestaltet werden müsste. Weil in Art. 69 Abs. 1 ATSG die Kongruenzmethode klar verankert sei und insoweit bewusst von der ständerätlichen Fassung abgewichen worden sei, hätte es auch einer Neuordnung der Überentschädigungsgrenze bedurft, die nicht mehr gestützt auf die Geltung der Globalmethode hätte festgelegt werden dürfen, sondern in Berücksichtigung des Kongruenzgrundsatzes hätte erfolgen müssen. Trotz der in Art. 69 Abs. 1 ATSG festgelegten Kongruenzmethode müsse letztlich davon ausgegangen werden, dass sich im Anwendungsbereich von Art. 69 ATSG die Überentschädigung nach der Globalmethode bestimme. Art. 69 Abs. 2 ATSG werfe in seiner Anwendung Auslegungsfragen auf, die kaum lösbar seien. Insoweit dränge sich auf, die Bestimmung neu zu fassen und - jedenfalls für die wichtigsten Kongruenzbereiche - die Überentschädigungsgrenzen je separat zu bestimmen. Ein Vorrang der Globalmethode gegenüber dem Kongruenzprinzip leitet KIESER auch aus dem Umstand ab, dass Art. 68 ATSG im Verhältnis von Taggeldern und Renten unterschiedlicher Sozialversicherer eine Überentschädigungskürzung nicht auf kongruente Leistungen beschränke (so wohl etwa im Fall von Invalidenrenten für Nichterwerbstätige; UELI KIESER, Die Sättigungsgrenze des mutmasslich entgangenen Verdienstes - Crux oder Fluch?, in: Aktuelle Probleme des Koordinationsrechts II, Weber/Beck [Hrsg.], 2017, S. 54).BGE 151 V 1 S. 18
Im Basler Kommentar zum ATSG geht HÜRZELER davon aus, Art. 69 Abs. 2 ATSG stehe in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem in Abs. 1 normierten Kongruenzgrundsatz, indem mit den Mehrkosten sowie den Einkommenseinbussen Angehöriger nichtkongruente Positionen in die Überentschädigungsberechnung einbezogen würden. Der in Abs. 1 festgeschriebene Kongruenzgrundsatz werde folglich durch Abs. 2 "in Form einer eingeschränkten Omnikongruenz aufgelöst". Dies schaffe Unklarheiten, die im Rahmen einer Neufassung der Norm beseitigt werden sollten (HÜRZELER, a.a.O., N. 25 zu Art. 69 ATSG). FRÉSARD-FELLAY/FRÉSARD führen im Commentaire romand zum ATSG aus, einerseits verankere Art. 69 Abs. 1 ATSG den Kongruenzgrundsatz; anderseits greife Abs. 2 für die Festlegung der Überentschädigungsgrenze auf nichtkongruente Elemente zurück. Das Sozialversicherungsrecht kenne keine einheitliche Überentschädigungsgrenze. Der Gesetzgeber weiche in Art. 69 Abs. 2 ATSG von der (haftpflichtrechtlich massgebenden) Obergrenze, die dem wirtschaftlichen Wert des eingetretenen Schadens entspreche, ab, indem er durch den Versicherungsfall verursachte Mehrkosten und Einkommenseinbussen von Angehörigen einbeziehe. Insofern wende er das Kongruenzprinzip nicht konsequent an (FRÉSARD-FELLAY/FRÉSARD, a.a.O., N. 15 und 30 ff. zu Art. 69 ATSG). Nach Auffassung von LANDOLT ist bei kumulierten Pflege- und Hilflosenentschädigungen die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit eine Überversicherung besteht, nicht "nach Massgabe der Globalmethode gemäss Art. 69 ATSG", sondern der Anrechnungsmethode gemäss Art. 122 KVV zu beantworten (HARDY LANDOLT, in: Kommentar zum schweizerischen Sozialversicherungsrecht, UVG, 2018, N. 102 zu Art. 26 UVG).GÄCHTER legt dar, die Überentschädigungsgrenze von Art. 69 Abs. 2 ATSG gelte für das Zusammentreffen aller kongruenten Sozialversicherungsleistungen. Auch er weist darauf hin, die innere Systematik von Art. 69 ATSG leide an einem auf die Entstehungsgeschichte zurückzuführenden Mangel. Die Kongruenzmethode von Art. 69 Abs. 1 ATSG sei nur sehr beschränkt mit der auf der Globalmethode beruhenden Maximalgrenze von Abs. 2 kompatibel (GÄCHTER, a.a.O., S. 34 ff.). Für ACKERMANN enthält Art. 69 ATSG zwei Komponenten: Nachdem Abs. 1 zweiter Satz kongruente Leistungen voraussetze, fixiere Abs. 2 eine Überentschädigungsgrenze nach der Globalmethode. Dieser Autor versteht dies aber nicht leistungs- sondern schadenseitig: Der Wortlaut dieser Bestimmung
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berücksichtige alle den schadenbezogenen Leistungen gegenüberzustellenden Schadenpositionen. Auch wenn sich diese beiden Bestimmungen widersprüchlich zueinander verhielten, könnten sie im Kontext miteinander vereinbart werden: Einerseits werde eine absolute Obergrenze der Überentschädigung fixiert, indem alle Schadenposten addiert würden. In diesem Rahmen könne die Überentschädigung nach der Kongruenzmethode im Einzelfall bemessen und so z.B. berücksichtigt werden, dass Hilflosenentschädigungen auch den Aufwand für die Betreuung durch Dritte abdeckten. Damit bestünden einzelne Überentschädigungsgrenzen hinsichtlich der kongruenten Leistungen; die entsprechenden Positionen würden am Schluss addiert und der maximalen resp. absoluten Überentschädigungsgrenze gegenübergestellt. Insoweit lasse sich auch die Frage beantworten, wie vorzugehen sei, wenn sich verschiedene versicherte Risiken verwirklicht hätten; dies, indem die Obergrenze sämtliche Schäden aus den verschiedenen verwirklichten versicherten Risiken kumuliert enthalte, die konkrete Kürzung jedoch anhand der Kongruenz vorgenommen werde (THOMAS ACKERMANN, Leistungskoordination: Sollen für die verschiedenen Koordinationsebenen analoge Koordinationsgrundsätze gelten?, in: Mehrspuriger Schadenausgleich, Fuhrer/Kieser/Weber [Hrsg.], 2022, S. 969 ff.). Ähnlich wie ACKERMANN erwägt BLUM-SCHNEIDER die Existenz einer "global berechneten Grenze der Überentschädigung". Die Berechnung der Überentschädigungsgrenze gemäss Art. 69 Abs. 2 ATSG beruhe auf der Globalmethode, die sich systemisch nicht mit dem Kongruenzprinzip aus Abs. 1 kombinieren lasse. Angesichts dieses Systemmangels sei fraglich, ob bei kongruenten Leistungen die nach Art. 69 Abs. 2 ATSG global berechnete Grenze der Überentschädigung den auszugleichenden Schaden auch übersteigen könne, wenn die Grenze noch nicht erreicht sei, oder ob jeder einzelne Schaden bis zum Maximum von 100 Prozent ausgeglichen werden solle, ohne Berücksichtigung der Globalmethode. Diese schwierige Ausgangslage lasse sich nicht einfach lösen (BLUM-SCHNEIDER, a.a.O., Rz. 480). Auch LÄUBLI ZIEGLER kommt zum Schluss, der Gesetzgeber habe den leitenden Kongruenzgrundsatz ausser Acht gelassen (SYLVIA LÄUBLI ZIEGLER, Überentschädigung und Koordination, Personen-Schaden-Forum 2004 S. 178).
8.3.1 Die vorstehende Übersicht der Lehrmeinungen zeigt, dass die Doktrin dem Art. 69 ATSG keine schlüssige Grundordnung der Art. 63-71 ATSG , in: Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG], 2003, S. 182 ff.). Ein offenkundiges Überbleibsel der überholten Normfassung setzt sich nicht gegen die vom klaren Willen des Gesetzgebers getragene Etablierung des Kongruenzgrundsatzes durch. Diese normative Entscheidung änderte den systematischen Kontext von Abs. 2 gegenüber dem Vorentwurf entscheidend. Nunmehr beschränken sich "die gesetzlichen Sozialversicherungsleistungen" auf die in Abs. 1 als massgebend bezeichneten (kongruenten) Leistungen. Ist eine in diesem Sinn harmonisierende Auslegung von Abs. 2 zwanglos möglich, darf nicht ein fernerliegendes Verständnis massgebend werden, durch das erst ein innerer Widerspruch zwischen den beiden Absätzen entstehen und die in Abs. 1 verankerte Grundentscheidung zugunsten des Kongruenzprinzips wirkungslos würde.
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Überentschädigung entnimmt. Die disparaten Literaturstellen dokumentieren namentlich eine erhebliche Unsicherheit über das Verhältnis von Abs. 1 zu Abs. 2. Sie gehen im Wesentlichen davon aus, dass Abs. 2 die Geltung des Kongruenzgrundsatzes beeinträchtige. Mit Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Norm wird angenommen, die "gesetzlichen Sozialversicherungsleistungen" umfassten alle Leistungen, unabhängig von ihrer Art und Zweckbestimmung. Im Gesetzgebungsprozess ist der ursprüngliche Wortlaut von Abs. 2, der im Zusammenhang mit der anfangs beabsichtigten Geltung des Globalprinzips entstanden ist (vgl. oben E. 6.1), unverändert geblieben und für die definitive Fassung von Art. 69 ATSG übernommen worden (vgl. BBl 1999 4639 f.). Daraus ist indessen nicht zu schliessen, Abs. 2 stehe im Widerspruch zu Abs. 1. In der Formulierung, eine Überentschädigung liege in dem Masse vor, wie "die gesetzlichen Sozialversicherungsleistungen" die genannten Verdiensteinbussen und Mehrkosten überstiegen, klingt das frühere Methodenverständnis an, wonach alle Leistungen unterschiedslos zu berücksichtigen seien. Letztlich aber erfolgte ein bewusster Entscheid für die Kongruenzmethode (dazu SUSANNE LEUZINGER, Die Leistungskoordination gemäss
8.3.2 Damit ist auch der Anwendungsbereich von Art. 69 Abs. 2 ATSG geklärt. Dieser stellt sich kleiner dar als derjenige von Abs. 1. Enthält Abs. 2 keine umfassende Festlegung der Überentschädigungsgrenze, so erweist er sich als Sonderbestimmung für Fälle, in denen sich das versicherte Risiko eines Einkommensverlusts realisiert hat. Die normative Bedeutung von Abs. 2 liegt in der Festsetzung einer Überentschädigungsgrenze, die um gewisse nicht
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versicherte Schaden- und Kostenpositionen erhöht wird. Diese sind, da nicht versichert, zwangsläufig auch nicht mit den gegenüberstehenden Sozialversicherungsleistungen kongruent. Abs. 2 hat nur die Überentschädigungsgrenze zum Gegenstand und wirkt nicht auf den in Abs. 1 bestimmten Geltungsbereich von Überentschädigungstatbeständen zurück, beeinflusst also nicht die Frage, welche zusammentreffenden Leistungen bei der Berechnung der Überentschädigung berücksichtigt werden. Eine Erweiterung der Überentschädigungsgrenze um nicht versicherte Elemente ändert mit anderen Worten nichts an der Geltung des Kongruenzprinzips, namentlich nicht an der gesetzlichen Beschränkung der zu koordinierenden Leistungen auf solche, die mit Blick auf kongruente Schadenpositionen als funktional gleichartig und sachlich gleichgerichtet erkannt werden (vgl. KIESER, Aktuelle Probleme des Koordinationsrechts II, a.a.O., S. 65).Soweit der Gesetzgeber diese Erweiterung auf die Überentschädigungsrechnung bei Verdienstausfall beschränkte, musste er in den übrigen, ausserhalb des Geltungsbereichs von Abs. 2 liegenden Konstellationen keine weiteren Überentschädigungsgrenzen definieren. Diese folgen jeweils als sozusagen natürliches Korrelat aus den kongruierenden Leistungen; mangels anderslautender spezifischer Regelung in den Einzelgesetzen (z.B. Art. 20 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 4 UVG : 90 Prozent des versicherten Verdienstes als Überentschädigungsgrenze; vgl. auch etwa Art. 43 Abs. 3 AHVG; KIESER, Aktuelle Probleme des Koordinationsrechts II, a.a.O., S. 51 f.) ergeben sich die Schadenpositionen, die zusammengenommen die Überentschädigungsgrenze bilden, aus der übereinstimmenden Zweckbestimmung der infrage kommenden Leistungsansprüche. In diesem Sinn ist die Überentschädigungsgrenze dem Kongruenzgrundsatz, namentlich in sachlicher Hinsicht, grundsätzlich inhärent.
8.4 Nach dem Gesagten ist Art. 69 Abs. 2 ATSG für die vorliegend interessierende Konstellation - das Zusammentreffen von KVG-Pflegebeiträgen und IV-Hilflosenentschädigung - nicht einschlägig. Damit bleibt es dabei, dass hier gemäss Art. 69 Abs. 1 ATSG kein Überentschädigungstatbestand gegeben ist.
9.1 Art. 122 Abs. 1 lit. b KVV erweitert die Überentschädigungsgrenze bei Sachleistungen - intersystemisch koordinierend (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 107/04 vom 28. September 2005 E. 5) - über die Pflegekosten hinaus auf "andere ungedeckte
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Krankheitskosten", einschliesslich tatsächliche Einkommenseinbussen pflegender Angehöriger, wenn und soweit sie behandlungs- und betreuungsbedingt sind (BGE 146 V 74 E. 5.3.10 und 8.1). Abs. 2 erklärt (innersystemisch) für zusammentreffende Taggeldleistungen die Überentschädigungsgrenze nach Art. 69 Abs. 2 ATSG als massgeblich (vgl. LANDOLT, a.a.O., Pflegerecht 2022 S. 202 f.). Abs. 1 modifiziert die Überentschädigungsgrenze für zusammentreffende Sachleistungen ähnlich wie Art. 69 Abs. 2 ATSG für Geldleistungen. Darüber hinaus reicht die normative Tragweite von Art. 122 KVV nicht. Es gilt das bei Art. 69 Abs. 2 ATSG Gesagte: Die Erhöhung der Überentschädigungsgrenze um nicht versicherte Elemente lässt die Geltung des Kongruenzprinzips intakt.Wenn Art. 122 Abs. 1 KVV von "Sachleistungen" spricht, kann dies - angesichts des in der Krankenversicherung herrschenden Kostenvergütungsprinzips (oben E. 6.4.2) - erneut nur im Sinn von Art. 14 ATSG verstanden werden. Die Überentschädigungsregel von Art. 122 Abs. 1 KVV ist daher im Verhältnis zur Hilflosenentschädigung als Geldleistung (Art. 15 ATSG) nicht anwendbar, es sei denn, man nehme an, der Passus "bei Sachleistungen" bezeichne nur die kürzbaren Leistungen, nicht aber den Umfang der in die Überentschädigungsrechnung fallenden Leistungsansprüche. Diese Möglichkeit ist indessen zu verwerfen: Wie schon im Verhältnis zwischen Art. 69 Abs. 1 und 2 ATSG tangiert die Regelung der Überentschädigungsgrenze wiederum nicht die Auswahl der in die Rechnung einzubeziehenden Sozialversicherungsleistungen. Bis zum Inkrafttreten des ATSG war dem jetzigen Abs. 1 von Art. 122 KVV (vormals Abs. 2) denn auch ein erster Absatz vorangestellt, der praktisch gleich lautete wie der spätere Art. 69 Abs. 1 ATSG, also für die Berechnung der Überentschädigung ebenfalls "Leistungen gleicher Art und Zweckbestimmung" voraussetzte.
9.2 Selbst wenn anzunehmen gewesen wäre, Art. 122 KVV gelte entgegen seinem Wortlaut nicht nur im Verhältnis unter verschiedenen Sachleistungen, bliebe immer noch fraglich, ob die so entstandene Normkollision zulasten von Art. 69 ATSG aufgelöst werden könnte. Eine abweichende Regelung setzt eine ausdrückliche Grundlage im KVG oder im Krankenversicherungsaufsichtsgesetz (KVAG; SR 832.12) voraus (so Art. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 1 KVG). Das KVG gibt dem Bundesrat in Art. 78 auf, durch Verordnungsvorschrift dafür zu sorgen, dass die Versicherten oder die Leistungserbringer durch die Leistungen der sozialen
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Krankenversicherung oder durch deren Zusammentreffen mit den Leistungen anderer Sozialversicherungen nicht überentschädigt werden. Angesichts der soeben skizzierten Entstehungsgeschichte von Art. 122 KVV besteht kein Grund zu prüfen, ob Art. 78 KVG, der eine Regelungsbefugnis für die intrasystemische Taggeldkoordination verleiht (HÜRZELER, a.a.O., N. 19 zu Art. 69 ATSG), delegationsrechtlich überhaupt eine Handhabe bieten könnte, um Art. 122 KVV intersystemisch der formellgesetzlichen Bestimmung von Art. 69 ATSG vorgehen zu lassen.