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Urteilskopf

150 IV 57


5. Auszug aus dem Urteil der I. strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Eidgenössische Steuerverwaltung, Hauptabteilung Direkte Bundessteuer Verrechnungssteuer und Stempelabgabe (Beschwerde in Strafsachen)
6B_1005/2021 vom 29. Januar 2024

Regeste

Art. 73 Abs. 1 VStrR; Überweisung zur gerichtlichen Beurteilung im Verwaltungsstrafverfahren ohne Vorliegen eines rechtskräftigen Entscheids über die Leistungs- oder Rückleistungspflicht.
In Fällen, in denen die Vorfrage der Leistungs- oder Rückleistungspflicht auf dem verwaltungsrechtlichen Weg nicht (mehr) entschieden werden kann, können die Akten gestützt auf Art. 73 Abs. 1 Satz 1 VStrR auch ohne Vorliegen eines rechtskräftigen Entscheids über die Leistungs- oder Rückleistungspflicht an die zuständige Staatsanwaltschaft zuhanden des zuständigen Strafgerichts überwiesen werden (E. 2.4).

Sachverhalt ab Seite 58

BGE 150 IV 57 S. 58

A.

A.a Mit Strafbescheid vom 5. Februar 2019 büsste die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) A. wegen vorsätzlicher Hinterziehung der Verrechnungssteuer mit Fr. 50'000.-. Dagegen erhob A. Einsprache und beantragte, das Verwaltungsverfahren gegen sie sei einzustellen, eventualiter sei der Fall einem Strafgericht zur Beurteilung zu überweisen.

A.b In der Folge büsste die ESTV A. mit Strafverfügung vom 12. Juli 2019 wegen mehrfacher vorsätzlicher Hinterziehung der Verrechnungssteuer mit Fr. 50'000.-. A. erhob auch hiergegen Einsprache und stellte ein Begehren um gerichtliche Beurteilung.

A.c Mit Überweisungsverfügung vom 27. Februar 2020 hielt die ESTV an der Strafverfügung fest und überwies die Akten der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat, welche die Sache am 3. März 2020 dem Bezirksgericht Zürich überwies.

B. Das Bezirksgericht Zürich verurteilte A. am 18. August 2020 wegen mehrfacher Hinterziehung der Verrechnungssteuer zu einer Busse von Fr. 50'000.-. Gegen dieses Urteil führte A. Berufung.

C. Auch das Obergericht des Kantons Zürich sprach A. am 15. Juni 2021 der Hinterziehung der Verrechnungssteuer schuldig und büsste sie mit Fr. 40'000.-.
Das Obergericht erachtet folgenden Sachverhalt als erstellt:
A. hat als einzige Verwaltungsrätin der B. AG im Jahr 2011 Verrechnungssteuern hinterzogen, indem sie es unterliess, die auf dem Liquidationserlös der Gesellschaft in der Höhe von über Fr. 1.7 Mio., der an Anteilsinhaber oder an ihnen nahestehende Personen ausgeschüttet worden war, geschuldete Verrechnungssteuer in Abzug zu bringen, innert der gesetzlichen Frist von 30 Tagen die Leistungen gegenüber der ESTV zu deklarieren oder die Verrechnungssteuer zu entrichten.

D. A. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil sei vollumfänglich aufzuheben, sie sei von Schuld und Strafe freizusprechen, es seien die Kosten- und Entschädigungsfolgen für das ganze Strafverfahren zu Lasten der Staatskasse zu verlegen, eventualiter sei die Sache zur Kosten- und Entschädigungsregelung bezüglich des Untersuchungsverfahrens vor der ESTV und der Gerichtsverfahren an die Vorinstanz zurückzuweisen, subeventualiter sei die Sache zur Beweisergänzung sowie zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
BGE 150 IV 57 S. 59
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.

Erwägungen

Aus den Erwägungen:

2.

2.1 Die Beschwerdeführerin macht weiter geltend, da bisher keine Veranlagung der Verrechnungssteuer vorliege, fehle es an einer Prozessvoraussetzung, womit auf die Anklage nicht einzutreten sei. Indem die Vorinstanz gleichwohl auf die Anklage eintrete und sie (die Beschwerdeführerin) verurteile, verletze sie (die Vorinstanz) Art. 73 Abs. 1 Satz 2 VStrR (SR 313.0).

2.2 Die Vorinstanz erwägt, die Frage, ob der Straftatbestand der Hinterziehung der Verrechnungssteuer gemäss Art. 61 Ziff. 1 [recte: lit. a] des Bundesgesetzes vom 13. Oktober 1965 über die Verrechnungssteuer (VStG; SR 642.21; in der Fassung vom 1. Januar 2010) erfüllt sei, hänge vom Entscheid über eine abgaberechtliche Frage ab. Die Steuerhinterziehung setze eine entsprechende Steuerpflicht voraus. Die Beantwortung der Fragen, ob und in welcher Höhe eine Leistungspflicht i.S.v. Art. 12 Abs. 1 und 2 VStrR bestehe, sei den Organen der öffentlichen Rechtspflege überlassen. Vorgesehen sei, dass das (streitige) Verwaltungsverfahren dem Strafverfahren vorauszugehen habe. An den verwaltungsrechtlichen Entscheid der Organe der öffentlichen Rechtspflege sei die strafbeurteilende Bundesverwaltungsbehörde gebunden, ebenso (mit wenigen Ausnahmen) das Strafgericht. Eine Mithaftung i.S.v. Art. 12 Abs. 3 VStrR sei im Strafverfahren zu beurteilen. Im vorliegenden Fall sei die B. AG Steuersubjekt. Nachdem über diese der Konkurs eröffnet und anschliessend mangels Aktiven eingestellt worden sei, sei sie am 17. Juli 2015 im Handelsregister gelöscht worden. Mangels Fortbestehens des Steuersubjekts sei ein Verwaltungsverfahren, welches sich mit den abgaberechtlichen Fragen befassen würde, undurchführbar. Die Haftung der Beschwerdeführerin i.S.v. Art. 12 Abs. 3 VStrR sei zudem im Strafverfahren zu beurteilen. Der vorliegende Fall, in welchem keine Verfügung über die Leistungspflicht des Steuersubjekts mehr getroffen werden könne, sei damit nicht von Art. 73 Abs. 1 Satz 2 VStrR erfasst. Die Überweisung des Strafverfahrens an das Strafgericht durch die ESTV sei deshalb nicht zu beanstanden. Eine vorgängige Veranlagung stelle hier keine Prozessvoraussetzung dar.

2.3 Gemäss Art. 73 Abs. 1 Satz 1 VStrR überweist die beteiligte Verwaltung, vorliegend die ESTV, die Akten der kantonalen
BGE 150 IV 57 S. 60
Staatsanwaltschaft zuhanden des zuständigen Strafgerichts, wenn die gerichtliche Beurteilung verlangt worden ist (...). Solange über die Leistungs- oder Rückleistungspflicht, die dem Strafverfahren zugrunde liegt, nicht rechtskräftig entschieden oder sie nicht durch vorbehaltlose Zahlung anerkannt ist, unterbleibt die Überweisung (Art. 73 Abs. 1 Satz 2 VStrR).

2.4

2.4.1 Vorliegend ist unbestritten, dass kein rechtskräftiger Entscheid der ESTV über die Leistungspflicht betreffend Verrechnungssteuer der B. AG im Geschäftsjahr 2011 vorliegt, und ein solcher mangels Fortbestehens des Steuersubjekts nicht mehr ergehen kann. Fraglich ist daher, wie vorzugehen ist, wenn mangels Steuersubjekts nicht mehr auf dem verwaltungsrechtlichen Weg über die Leistungspflicht entschieden werden kann.

2.4.2 Das Bundesgericht hat sich mit einer vergleichbaren Konstellation auseinandergesetzt und ist zum Schluss gelangt, dass Fälle, in denen kein Entscheid über die Leistungspflicht getroffen worden ist, in Art. 73 Abs. 1 VStrR nicht ausdrücklich geregelt sind und dieser insoweit lückenhaft ist (BGE 116 IV 223 E. 4d). In der damals zu beurteilenden Konstellation erwog das Bundesgericht, in Fällen, in denen aus irgendwelchen Gründen keine Entscheidung über die Leistungspflicht getroffen werden könne, müsse die Feststellungsverfügung im Sinne von Art. 124 der Verordnung vom 10. Juli 1926 zum Zollgesetz (AS 1974 1949; Verordnung in Kraft vom 1. Oktober 1926 bis 30. April 2007) und, wenn der Beschuldigte eine solche nicht verlangt habe, die Abgabenberechnung gemäss dem Schlussprotokoll als Voraussetzung für die Zulassung der Überweisung/Anklage genügen (BGE 116 IV 223 E. 4d). Diese Rechtsprechung, die in Zusammenhang mit der früheren Warenumsatzsteuer erging, kann zwar nicht unbesehen auf die vorliegende Konstellation angewendet werden (vgl. HEIMGARTNER/KESHELAVA, in: Basler Kommentar, Verwaltungsstrafrecht, 2020, N. 12 und 14 zu Art. 73 VStrR). Immerhin ist sie jedoch insofern relevant, als das Bundesgericht feststellte, dass Art. 73 Abs. 1 VStrR für gewisse Fälle keine Regelung enthält und insofern lückenhaft ist. Dies gilt weiterhin.
Demnach ist nachfolgend zu prüfen, wie vorzugehen ist, wenn auf dem verwaltungsrechtlichen Weg nicht (mehr) vorfrageweise über die Leistungspflicht - vorliegend die Steuerpflicht - entschieden
BGE 150 IV 57 S. 61
werden kann. Dabei ist insbesondere zu untersuchen, welchem Sinn und Zweck Art. 73 Abs. 1 Satz 2 VStrR dient.

2.4.3 Die Botschaft vom 21. April 1971 zum Entwurf eines Bundesgesetzes über das Verwaltungsstrafrecht führt aus, bei vielen Verwaltungsstrafsachen hänge die Beantwortung der Frage, ob ein Straftatbestand objektiv erfüllt sei, vom Entscheid über eine verwaltungsrechtliche Vorfrage ab. Eine Steuerhinterziehung setze zum Beispiel eine entsprechende Steuerpflicht voraus. Es wäre nun nicht zweckmässig, solche Fragen der Leistungs- oder Rückleistungspflicht, sofern sie für ein Verwaltungsstrafverfahren präjudizielle Bedeutung hätten, vorfrageweise vom Strafrichter entscheiden zu lassen und nicht mehr von den sonst zuständigen Organen der Verwaltungsrechtspflege. Dies würde zu einer uneinheitlichen Beurteilung dieser Fragen führen, und es würde überdies für den betroffenen Bürger eine unangemessene Belastung bedeuten, wenn er ein letztinstanzliches Urteil über derartige verwaltungsrechtliche Streitpunkte nur auf dem Wege eines gerichtlichen Strafverfahrens erlangen könnte. Entsprechend dem geltenden Recht sehe deshalb der Entwurf zwei verschiedene Rechtsmittelwege vor: einerseits für die Frage der Leistungs- oder Rückleistungspflicht den üblichen verwaltungsrechtlichen Weg (Verwaltungsbeschwerde, Verwaltungsgerichtsbeschwerde, verwaltungsrechtliche Klage) und andererseits für den Strafpunkt das Begehren um Beurteilung durch den Strafrichter, wobei das Strafverfahren auszusetzen sei, bis über eine umstrittene verwaltungsrechtliche Vorfrage ein rechtskräftiger Entscheid vorliege (mit Hinweis auf Art. 66 Abs. 3 in Verbindung mit den Art. 72 Abs. 2 und Art. 77 Abs. 1 des Entwurfs; BBl 1971 I 1013 Ziff. 3; vgl. auch ANDRÉ HAIBÖCK, in: Basler Kommentar, Verwaltungsstrafrecht, 2020, N. 2 zu Art. 63 VStrR).
Daraus ist zu schliessen, dass mit dem in Art. 73 Abs. 1 Satz 2 VStrR vorgeschriebenen Zuwarten mit der Überweisung an die kantonale Staatsanwaltschaft zuhanden des zuständigen Strafgerichts, bis über die Vorfrage der Leistungspflicht rechtskräftig entschieden worden ist, bezweckt wird, sich widersprechende Entscheide zu vermeiden (vgl. auch HEIMGARTNER/KESHELAVA, a.a.O., N. 11 zu Art. 73 VStrR; HAIBÖCK, a.a.O., N. 2 zu Art. 63 VStrR). Dies erscheint insbesondere auch deshalb sinnvoll, weil gemäss Art. 77 Abs. 4 VStrR ein rechtskräftiger Entscheid über die Leistungs- oder Rückleistungspflicht für das Strafgericht grundsätzlich verbindlich ist. Die Gefahr von sich widersprechenden Entscheiden besteht jedoch in jenen Fällen,
BGE 150 IV 57 S. 62
in denen ein Entscheid über die Leistungs- oder Rückleistungspflicht getroffen werden kann bzw. ein entsprechendes Verfahren durchgeführt wird. Kann - wie vorliegend - aus irgendwelchen Gründen die Vorfrage der Leistungs- oder Rückleistungspflicht auf dem verwaltungsrechtlichen Weg nicht (mehr) entschieden werden, besteht die Gefahr von sich widersprechenden Entscheiden nicht. Auch gibt es in diesem Fall keinen rechtskräftigen Entscheid über die Leistungs- oder Rückleistungspflicht, der für das Strafgericht verbindlich ist. Folglich können bzw. müssen die Akten in dieser Konstellation auch ohne rechtskräftigen Entscheid über die Leistungspflicht an die zuständige Staatsanwaltschaft zuhanden des zuständigen Strafgerichts überwiesen werden. Würde man die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens verneinen, hätte dies zur Konsequenz, dass es entweder bei der Strafverfügung bzw. dem Strafbescheid der ESTV bleibt, obwohl die betroffene Person dagegen Einsprache erhoben hat, oder infolge der Einsprache gegen den Strafbescheid bzw. die Strafverfügung das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt werden müsste. Beide Varianten können nicht im Sinne des Gesetzgebers sein, zumal das Strafgericht durchaus in der Lage sein sollte, über die Leistungspflicht zu entscheiden.

2.4.4 Zusammenfassend ergibt sich, dass in Fällen, in denen die Vorfrage der Leistungs- oder Rückleistungspflicht auf dem verwaltungsrechtlichen Weg aus irgendwelchen Gründen nicht (mehr) entschieden werden kann, die Akten gestützt auf Art. 73 Abs. 1 Satz 1 VStrR auch ohne Vorliegen eines rechtskräftigen Entscheids über die Leistungs- oder Rückleistungspflicht an die zuständige Staatsanwaltschaft zuhanden des zuständigen Strafgerichts überwiesen werden können.

2.5 Da die ESTV vorliegend nicht über die steuerrechtliche Vorfrage entschieden hat und mangels Steuersubjekts auch nicht mehr entscheiden kann, ist es nicht zu beanstanden, dass sie die Akten der kantonalen Staatsanwaltschaft zuhanden des zuständigen Strafgerichts überwiesen hat und dieses auf die Anklage eingetreten ist. Daran ändert nichts, dass die ESTV gemäss den Vorbringen der Beschwerdeführerin genügend Zeit gehabt hätte, über die Leistungspflicht der B. AG zu entscheiden. Es liegt keine Verletzung von Bundesrecht vor.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 2

Referenzen

BGE: 116 IV 223

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