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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_22/2024  
 
 
Urteil vom 9. April 2024  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichterin Koch, Bundesrichter Kölz, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Claudio Nosetti, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, 
Abteilung 5, Wirtschaftsdelikte, 
Obernauerstrasse 16, Postfach, 6011 Kriens. 
 
Gegenstand 
Entsiegelung und Durchsuchung, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Luzern, Einzelrichterin, vom 6. Dezember 2023 (ZMG 23 167). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Abteilung 5, Wirtschaftsdelikte, führt ein Strafverfahren gegen A.________ und andere Personen wegen gewerbsmässigen Betrugs. Die Strafverfolgungsbehörden stellten bei der Hausdurchsuchung seiner Wohnung und der Wohnung seiner Eltern am 25. April 2023 zahlreiche Aufzeichnungen und Gegenstände sicher. A.________ verlangte deren Siegelung. 
 
B.  
Die Staatsanwaltschaft ersuchte das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Luzern am 5. Mai 2023 um Entsiegelung, soweit A.________s Siegelungsantrag nicht ohnehin ungültig sei. Nachdem dieser seinen Siegelungsantrag teilweise zurückgezogen hatte, ordnete das Zwangsmassnahmengericht mit Verfügung vom 2. Oktober 2023 die Entsiegelung der betreffenden Aufzeichnungen und Gegenstände sowie die Freigabe an die Staatsanwaltschaft zur Durchsuchung an. Betreffend die übrigen sichergestellten Aufzeichnungen und Gegenstände - ein Notebook "Acer Aspire5" (Pos. D-1 des Durchsuchungs- und Beschlagnahmeprotokolls vom 25. April 2023), ein Mobiltelefon "iPhone14Pro" (Pos. D-3), ein Umschlag beschriftet mit "Wohnung Deutschland A.________" mit Unterlagen (Pos. D-14) und ein Umschlag adressiert an A.________ mit "Einschreiben der B.________ AG" (Pos. D-15) - trat das Zwangsmassnahmengericht mit Verfügung vom 6. Dezember 2023 zufolge Ungültigkeit des Siegelungsantrags nicht auf das Entsiegelungsgesuch der Staatsanwaltschaft ein und stellte fest, dass diese befugt sei, die betreffenden Aufzeichnungen und Gegenstände (Pos. D-1, D-3, D-14 und D-15) zu durchsuchen. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________ vor Bundesgericht, die Verfügung vom 6. Dezember 2023 sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass das Siegelungsgesuch vom 25. April 2023 betreffend die in seiner Wohnung sichergestellten und versiegelten "HD-Pos. D-1 und D-3 sowie D-14 und D-15" zufolge "rechtzeitiger Geltendmachung" gültig sei. Die "HD-Pos. D-1 und D-3 sowie D-14 und D-15" seien unter Durchführung der richterlichen Triage bloss teilweise zu entsiegeln, wobei sämtliche Unterlagen und Daten, welche in einem Zeitpunkt vor März 2017 erstellt wurden, sowie sämtliche Anwalts- und Notariatskorrespondenz nicht zu entsiegeln seien. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Die Staatsanwaltschaft und die Vorinstanz haben auf Vernehmlassung zur Sache verzichtet. 
A.________ s Gesuch um Gewährung der aufschiebenden Wirkung wurde mit Verfügung vom 1. Februar 2024 abgewiesen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein letztinstanzlicher kantonaler Entsiegelungsentscheid eines Zwangsmassnahmengerichts, gegen den die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht offensteht (Art. 80 Abs. 2 Satz 3 BGG i.V.m. aArt. 248 Abs. 3 StPO). Der angefochtene Entsiegelungsentscheid ist nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG nur dann unmittelbar mit Beschwerde an das Bundesgericht anfechtbar, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken ka nn. Der Beschwerdeführer macht ausreichend substanziiert geltend, dass der Entsiegelung geschützte Geheimhaltungsrechte entgegenstehen. Damit droht ihm ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.  
 
1.2. Die per 1. Januar 2024 in Kraft getretene Gesetzesänderung betreffend Siegelungs- bzw. Entsiegelungsverfahren hat keine Auswirkungen auf das vorliegende Urteil. Das Bundesgericht prüft im Rahmen der Beschwerde in Strafsachen nämlich nur, ob die kantonale Instanz das Bundesrecht richtig angewendet hat, mithin jenes Recht, welches die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid anwenden musste (Urteil 7B_2/2023 vom 12. März 2024 E. 2.1 mit Hinweisen). Massgebend für die Beurteilung der bundesgerichtlichen Beschwerde sind damit weiterhin die Siegelungs- bzw. Entsiegelungsbestimmungen, wie sie bis zum 31. Dezember 2023 galten.  
 
2.  
Gemäss aArt. 248 StPO sind Aufzeichnungen und Gegenstände, die nach Angaben der Inhaberin oder des Inhabers wegen eines Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrechts oder aus anderen Gründen nicht durchsucht oder beschlagnahmt werden dürfen, zu versiegeln und dürfen von den Strafbehörden weder eingesehen noch verwendet werden (Abs. 1). Stellt die Strafbehörde nicht innert 20 Tagen ein Entsiegelungsgesuch, so werden die versiegelten Aufzeichnungen und Gegenstände der berechtigten Person zurückgegeben (Abs. 2). Stellt sie ein Entsiegelungsgesuch, so entscheidet im Vorverfahren darüber innerhalb eines Monats endgültig das Zwangsmassnahmengericht (Abs. 3 lit. a). 
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz hält den Siegelungsantrag des Beschwerdeführers für ungültig. Sie erwägt, um die Siegelung gültig zu verlangen, müsse ein Siegelungsgrund glaubhaft gemacht werden, wozu immerhin die Anrufung eines spezifischen Siegelungsgrundes verlangt werde. Der Beschwerdeführer habe jedoch, als er am 25. April 2023 bei der Hausdurchsuchung die Siegelung verlangt habe, auf die Angabe eines Siegelungsgrundes verzichtet, obschon aus dem ihm übergebenen Formular "Orientierung über das Siegelungsrecht und Erklärung zur Siegelung" ersichtlich sei, dass eine Begründung verlangt werde. So habe er auf das Formular unter dem Aufdruck "Der/die Unterzeichnete verlangt die Siegelung folgender Gegenstände/Aufzeichnungen" lediglich "sämtliche beschlagnahmten Gegenstände" geschrieben, aber den Platz nach "Begründung" offengelassen. Da er von den Strafverfolgungsbehörden rechtzeitig und - auch für einen juristischen Laien - inhaltlich rechtsgenüglich über das Siegelungsrecht informiert worden sei, sei der Siegelungsantrag ungültig. Deshalb sei auf das Entsiegelungsbegehren der Staatsanwaltschaft nicht einzutreten und festzustellen, dass die Staatsanwaltschaft befugt sei, die sichergestellten Gegenstände und Aufzeichnungen zu durchsuchen.  
 
3.2. Nach der bundesgerichtlichen Praxis zu aArt. 248 StPO trifft die siegelungsberechtigte Person im Entsiegelungsverfahren die prozessuale Obliegenheit, allfällige Geheimhaltungsinteressen bzw. Entsiegelungshindernisse im Sinne von aArt. 248 Abs. 1 StPO und aArt. 264 StPO ausreichend zu substanziieren. Dagegen wird nicht verlangt, dass die betroffene Person die Siegelungsgründe bereits im Rahmen ihres Siegelungsantrags im Detail begründet (Urteile 7B_48/2023 vom 29. Januar 2024 E. 3.2.4; 7B_318/2023 vom 27. Dezember 2023 E. 3.2; je mit Hinweisen). Eine übertriebene prozessuale Strenge bei der Handhabung formeller Anforderungen für die Siegelung (etwa betreffend rechtzeitige Erhebung oder "Begründung" von Siegelungsbegehren) würde den im Gesetz vorgesehenen Rechtsschutz von betroffenen Personen gegenüber strafprozessualen Zwangsmassnahmen aushöhlen (Urteile 1B_172/2023 vom 9. Mai 2023 E. 2.1; 1B_303/2022 vom 19. Dezember 2022 E. 2.4; je mit Hinweisen). Damit eine Siegelung durch die Strafverfolgungsbehörde erfolgt, muss die betroffene Person aber immerhin einen spezifischen Siegelungsgrund sinngemäss anrufen bzw. glaubhaft machen (Urteile 1B_172/2023 vom 9. Mai 2023 E. 2.1; 1B_273/2021 vom 2. März 2022 E. 3.3 mit Hinweisen). Versäumt es die Strafverfolgungsbehörde, juristische Laien über ihr Siegelungsrecht ausreichend zu informieren, darf eine Siegelung nicht mit der Begründung verweigert werden, die betroffene Person habe bei der Sicherstellung noch keine Geheimnisrechte als Durchsuchungshindernis ausdrücklich angerufen (Urteile 1B_303/2022 vom 19. Dezember 2022 E. 2.4; 1B_273/2021 vom 2. März 2022 E. 3.3; je mit Hinweisen).  
Die siegelungsberechtigte Person muss das Siegelungsgesuch zwar sofort stellen, sie muss sich jedoch anwaltlich beraten lassen können. Daher kann sie die Siegelung auch noch einige Stunden nach der vorläufigen Sicherstellung ihrer Aufzeichnungen und Gegenstände verlangen, ausnahmsweise sogar noch einige Tage später; es kommt auf die Umstände des Einzelfalles an. Dagegen ist ein mehrere Wochen oder Monate nach der vorläufigen Sicherstellung der Aufzeichnungen oder Gegenstände gestelltes Siegelungsgesuch grundsätzlich verspätet (Urteile 7B_48/2023 vom 29. Januar 2024 E. 3.2.3; 7B_47/2023 vom 21. September 2023 E. 3.1.1; 1B_381/2022 vom 3. November 2022 E. 2; je mit Hinweisen). 
 
3.3. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt, indem sie seinen Siegelungsantrag für ungültig erklärt habe. Dem ist zuzustimmen: Nach den Vorakten gab der Beschwerdeführer am 25. April 2023 gegenüber der Luzerner Polizei mündlich an, dass er sich betreffend die Begründung seines Siegelungsantrages noch mit seinem Rechtsanwalt absprechen müsse. Nach der oben zitierten Rechtsprechung ist dies zulässig. Aus den Vorakten geht weiter hervor, dass der Beschwerdeführer am Folgetag von der Staatsanwaltschaft einvernommen wurde und auf deren Nachfrage hin erklärte, die gesiegelten Aufzeichnungen und Gegenstände enthielten "Anwaltskorrespondenz und Geschäftsgeheimnisse". Der Beschwerdeführer hat damit einen Siegelungsgrund angerufen und die Siegelung rechtzeitig und gültig beantragt.  
 
4.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen, ohne dass auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen ist. Die angefochtene Verfügung ist aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird insbesondere zu prüfen haben, ob einer Entsiegelung geschützte Geheimnisinteressen entgegenstehen. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Luzern hat dem obsiegenden Beschwerdeführer die durch das bundesgerichtliche Verfahren verursachten notwendigen Kosten zu ersetzen (Art. 68 BGG). Da der Beschwerdeführer um unentgeltliche Rechtspflege ersucht, ist die Entschädigung praxisgemäss seinem Rechtsvertreter zuzusprechen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts des Kantons Luzern vom 6. Dezember 2023 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Luzern hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Claudio Nosetti, für das Verfahren vor Bundesgericht mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Abteilung 5, Wirtschaftsdelikte, und dem Zwangsmassnahmengericht des Kantons Luzern, Einzelrichterin, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 9. April 2024 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern