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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_472/2021  
 
 
Urteil vom 27. April 2023  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Bundesrichterin Koch, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Fatih Aslantas, 
 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
1. Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Maurerstrasse 2, 8510 Frauenfeld, 
2. B.________, 
Beschwerdegegnerinnen. 
 
Gegenstand 
Sexuelle Handlungen mit einem Kind, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung; Willkür, Unschuldsvermutung etc., 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 25. November 2020 (SBR.2020.41). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Anklageschrift vom 17. Januar 2020 warf die Staatsanwaltschaft Frauenfeld dem 1962 geborenen A.________ unter anderem vor, in der Zeit zwischen Januar 2003 und Herbst 2005 regelmässig sexuelle Handlungen mit der damals 12 bis 14-jährigen B.________ vorgenommen zu haben. Mit Urteil vom 4. Mai 2020 stellte das Bezirksgericht Frauenfeld bezüglich der vor dem 4. Mai 2005 angeklagten Sachverhalte das Strafverfahren zufolge Eintritts der Verjährung ein. Gleichzeitig verurteilte es ihn wegen mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind, mehrfacher sexueller Nötigung und Vergewaltigung zu vier Jahren Freiheitsstrafe. Es stellte die grundsätzliche Schadenersatzpflicht des Beschuldigten fest und verurteilte diesen zur Zahlung einer Genugtuung von Fr. 20'000.- an die Geschädigte. 
 
B.  
Auf Berufung von A.________ und Anschlussberufung der Staatsanwaltschaft hin bestätigte das Obergericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 25. November 2020 das erstinstanzliche Urteil. Es verpflichtete zudem den Beschuldigten, sämtliche Identitätskarten und Reisepässe spätestens am 2. Dezember 2020 bis zum Antritt des Strafvollzugs bei der Kantonspolizei Thurgau zu Handen der Staatsanwaltschaft Frauenfeld zu hinterlegen. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________, er sei unter Aufhebung der Ziffer 1 und 3 des kantonalen Entscheides von den Vorwürfen der sexuellen Handlungen mit einem Kind, der sexuellen Nötigung sowie der Vergewaltigung freizusprechen. Weiter seien unter Aufhebung der Ziffer 5 des angefochtenen Entscheides die Zivilforderungen der Geschädigten abzuweisen, eventuell auf den Zivilweg zu verweisen. Eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an das kantonale Gericht zurückzuweisen. 
Im Weiteren sei unter Aufhebung der Ziffer 4 des angefochtenen Entscheides die Schriftensperre aufzuheben, eventuell verbunden mit der Auferlegung einer angemessenen Sicherheitsleistung. Mit Urteil 1B_215/2021 vom 19. Mai 2021 wies das Bundesgericht die Beschwerde, soweit sie diese Dispositivziffer betraf, ab. 
In ihrer Stellungnahme vom 5. Mai 2021 beantragt die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau eine Abweisung der Beschwerde, soweit auf sie einzutreten ist. 
In einer Eingabe vom 14. Mai 2021 hält die Beschwerdegegnerin 2 fest, sie habe kein Interesse an einer Verurteilung des Beschwerdeführers mehr. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Schuldsprüche wegen mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind, mehrfacher sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Er macht geltend, die obere kantonale Instanz hätte nicht ohne erneute Befragung der Beschwerdegegnerin 2 wesentlich auf deren Aussage abstellen dürfen. Im Weiteren macht er geltend, die Vorinstanz habe gegen die Unschuldsvermutung verstossen, in dem sie im angefochtenen Urteil auch hinsichtlich der angeklagten Taten, welche verjährt sind, ausführte, er habe diese begangen. 
 
2.  
 
2.1. Im Strafverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz. Danach klären die Strafbehörden von Amtes wegen alle für die Beurteilung der Tat und der beschuldigten Person bedeutsamen Tatsachen ab (Art. 6 Abs. 1 StPO). Sie untersuchen die belastenden und entlastenden Umstände mit gleicher Sorgfalt (Art. 6 Abs. 2 StPO).  
 
2.2. Das Berufungsverfahren setzt das Strafverfahren fort und richtet sich nach den Bestimmungen über die erstinstanzliche Hauptverhandlung (Art. 405 Abs. 1 StPO). Es knüpft an die bereits erfolgten Verfahrenshandlungen, namentlich die bereits durchgeführten Beweiserhebungen, an (BGE 143 IV 408 E. 6.2.1, 288 E. 1.4.1). Gemäss Art. 389 Abs. 1 StPO beruht das Rechtsmittelverfahren grundsätzlich auf den Beweisen, die im Vorverfahren und im erstinstanzlichen Hauptverfahren erhoben worden sind. Dieser Grundsatz gelangt indes nur zur Anwendung, soweit die Beweise, auf welche die Rechtsmittelinstanz ihren Entscheid stützen will, prozessrechtskonform erhoben worden sind. Erweisen sich die Beweiserhebungen des erstinstanzlichen Gerichts als rechtsfehlerhaft (lit. a), unvollständig (lit. b) oder erscheinen sie als unzuverlässig (lit. c), werden sie von der Rechtsmittelinstanz wiederholt (Art. 389 Abs. 2 StPO).  
 
2.3. Sofern die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint, erhebt das Berufungsgericht zudem auch im Vorverfahren ordnungsgemäss erhobene Beweise noch einmal (Art. 343 Abs. 3 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO; BGE 143 IV 288 E. 1.4.1; Urteile 6B_735/2020 vom 18. August 2021 E. 2.2.3; 6B_1087/2019 vom 17. Februar 2021 E. 1.2.2; je mit Hinweisen). Eine unmittelbare Abnahme eines Beweismittels ist notwendig im Sinne von Art. 343 Abs. 3 StPO, wenn sie den Ausgang des Verfahrens beeinflussen kann. Dies ist namentlich der Fall, wenn die Kraft des Beweismittels in entscheidender Weise vom Eindruck abhängt, der bei seiner Präsentation entsteht, beispielsweise wenn es in besonderem Masse auf den unmittelbaren Eindruck der Aussage der einzuvernehmenden Person ankommt, so wenn die Aussage das einzige direkte Beweismittel ("Aussage gegen Aussage"-Konstellation) darstellt. Allein der Inhalt der Aussage einer Person (was sie sagt), lässt eine erneute Beweisabnahme nicht notwendig erscheinen. Massgebend ist, ob das Urteil in entscheidender Weise von deren Aussageverhalten (wie sie es sagt) abhängt (BGE 140 IV 196 E. 4.4.2; Urteile 6B_249/2021 vom 13. September 2021 E. 1.1.2; 6B_735/2020 vom 18. August 2021 E. 2.2.3; 6B_1087/2019 vom 17. Februar 2021 E. 1.2.2; je mit Hinweisen).  
 
2.4. Das Gericht verfügt bei der Frage, ob eine erneute Beweisabnahme erforderlich ist, über einen Ermessensspielraum (BGE 140 IV 196 E. 4.4.2; Urteile 6B_735/2020 vom 18. August 2021 E. 2.2.3; 6B_1087/2019 vom 17. Februar 2021 E. 1.2.2; je mit Hinweisen). In der Beschwerdeschrift muss dargelegt werden, weshalb die erneute Beweisabnahme notwendig sei (Urteile 6B_1352/2019 vom 14. Dezember 2020 E. 2.4.2; 6B_888/2017 vom 25. Oktober 2017 E. 3.3, nicht publ. in: BGE 143 IV 434; je mit Hinweisen).  
 
2.5. Eine erneute Befragung der Beschwerdegegnerin 2 wurde vom Beschwerdeführer vor Vorinstanz nicht beantragt; entsprechend hat er im vorinstanzlichen Verfahren auch nicht dargelegt, weshalb eine erneute Beweisabnahme notwendig sein sollte (vgl. Urteil 6B_541/2021 vom 3. Oktober 2022 E. 1.3.4). Gemäss vorinstanzlichem Urteil wurde die Beschwerdegegnerin 2 im Laufe des Strafverfahrens insgesamt vier Mal einvernommen, nämlich am 18. September 2018 durch die Polizei, am 19. Februar 2019 und am 17. Januar 2020 durch die Staatsanwaltschaft und zuletzt während der Hauptverhandlung vor dem erstinstanzlichen Gericht. Somit hat das kantonale Gericht kein Bundesrecht verletzt, als es sich ohne erneute Einvernahme der Beschwerdegegnerin 2 auf deren Aussage abgestellt hat. Die Beschwerde ist in diesem Punkt abzuweisen.  
 
3.  
Der Beschwerdeführer macht geltend, der vorinstanzliche Entscheid verstosse in seiner Begründung gegen die Unschuldsvermutung. Abweichend vom Grundsatz, wonach nur das Dispositiv, nicht aber die Begründung eines Entscheides anfechtbar ist (vgl. Urteil 2C_451/2013 vom 7. Januar 2014 E. 3.2; BGE 120 V 233 E. 1a), ist er hierzu rechtsprechungsgemäss legitimiert (vgl. Urteil 6B_853/2021 vom 16. November 2022 E. 3.2 mit Hinweisen auf die Praxis des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, insbesondere auf das Urteil 48144/09 Cleve gegen Deutschland vom 15. Januar 2015).  
 
3.1. Gemäss Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 10 Abs. 1 StPO gilt jede Person bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig. Nach Art. 6 Ziff. 2 EMRK gilt jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Für einen nicht verurteilenden Verfahrensabschluss bedeutet dies, dass der verfahrensabschliessende Entscheid nicht den Eindruck des Bestehens strafrechtlicher Schuld erwecken darf. So sind etwa Kostenauflagen unzulässig, wenn sich aus dem Text des Entscheids eine strafrechtliche Missbilligung ergibt, die in der Kostenauflage zum Ausdruck kommt. Dabei ist nicht auf den Eindruck abzustellen, welchen der Entscheid beim juristisch geschulten Leser hervorruft, sondern darauf, wie ihn der juristische Laie verstehen darf und muss. Diese Grundsätze gelten auch hinsichtlich der Verweigerung einer Entschädigung bei nicht verurteilendem Verfahrensabschluss (BGE 115 Ia 309 E. 1a; 114 Ia 299 E. 2b, je mit Hinweisen; Urteil 6B_770/2008 vom 2. April 2009 E. 2.2).  
 
3.2. In der (nicht angefochtenen) Dispositivziffer 2 des vorinstanzlichen Entscheides wird das Strafverfahren bezüglich der vor dem 4. Mai 2005 angeklagten Sachverhalte zufolge Verjährung eingestellt. Wie der Beschwerdeführer indessen zu Recht geltend macht, wird im angefochtenen Urteil nicht nur bezüglich der nach dem 4. Mai 2005 angeklagten Taten, sondern auch bezüglich der vor diesem Datum angeblich begangenen Taten eine Beweiswürdigung vorgenommen und der Anklagesachverhalt aufgrund der als glaubhaft bezeichneten Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 als erstellt erachtet. Dies betrifft nicht nur jene Taten, die er nach der vorinstanzlichen Beweiswürdigung ab dem Jahr 2003 regelmässig verübt haben soll, sondern auch Sachverhalte wie etwa die angeklagten Handlungen in den Sommerferien 2004 in der Türkei, welche im Mai 2005 bereits abgeschlossen waren. Damit wird der Eindruck des Bestehens einer strafrechtlichen Schuld auch hinsichtlich der zufolge Verjährung eingestellten Anklagesachverhalte erweckt. Eine solche Begründung des angefochtenen Entscheides verstösst indessen gegen die Unschuldsvermutung.  
 
4.  
Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 25. November 2020 ist aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen. 
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten teilweise dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Demgegenüber sind vom Kanton Thurgau keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG); aufgrund der gesamten Umstände rechtfertigt es sich, auch auf eine Kostenauflage zu Lasten der Beschwerdegegnerin 2 zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG). Der Kanton Thurgau hat dem Beschwerdeführer eine reduzierte Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 25. November 2020 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten werden dem Beschwerdeführer im Umfang von Fr. 1'500.-- auferlegt. 
 
3.  
Der Kanton Thurgau hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu bezahlen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 27. April 2023 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold