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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_296/2022  
 
 
Urteil vom 24. Oktober 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
nebenamtlicher Bundesrichter Kradolfer, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsdienst Inclusion Handicap, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Bern, 
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 6. Mai 2022 
(200 22 62 IV). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die 1962 geborene A.________ meldete sich im März 2018 unter Hinweis auf eine Burnout-Erschöpfungsdepression bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern klärte die medizinischen und die erwerblichen Verhältnisse ab. Sie sprach der Versicherten Arbeitsvermittlung und ein Belastbarkeitstraining zu. Weiter beauftragte sie das Swiss Medical Assessment- und Business Center (SMAB) mit einer Begutachtung im Fachbereich Psychiatrie sowie einer neuropsychologischen Untersuchung mit Beschwerdevalidierung (psychiatrisches Gutachten vom 4. Januar 2021 einschliesslich neuropsychologisches Teilgutachten vom 25. November 2020). Vorbescheidweise stellte sie am 1. Juni 2021 die Verneinung eines Rentenanspruches in Aussicht. Auf den Einwand der Versicherten ersuchte die Verwaltung die Gutachterstelle um die Beantwortung verschiedener Zusatzfragen (Stellungnahme vom 18. Oktober 2021). Nach erneuter Durchführung des Vorbescheidverfahrens erliess sie am 22. Dezember 2021 aufgrund eines (anhand der gemischten Methode ermittelten) Invaliditätsgrades von 21 % eine rentenablehnende Verfügung. 
 
B.  
Beschwerdeweise liess die Versicherte die Aufhebung der Verfügung und die Zusprache einer Invalidenrente beantragen. Eventualiter sei der medizinische Sachverhalt angemessen abzuklären und auf dieser Grundlage der Rentenanspruch neu zu prüfen. Mit Urteil vom 6. Mai 2022 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Beschwerde ab. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, das kantonale Urteil sei aufzuheben. Es sei ihr ab 1. September 2018 eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit angemessen abkläre und den Rentenanspruch auf dieser Grundlage neu beurteile. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Die Beschwerdeführerin hat den Kostenvorschuss am 2. September 2022, einen Tag nach Ablauf der ihr mit Verfügung vom 9. August 2022 gesetzten Frist, bezahlt. Da ihr gestützt auf Art. 62 Abs. 3 BGG bei unbenütztem Fristablauf eine Nachfrist hätte gewährt werden müssen, ist auf die Beschwerde trotz verspäteter Einzahlung einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2 mit Hinweis). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.2. Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz ist erst dann offensichtlich unrichtig (willkürlich), wenn sie eindeutig und augenfällig unzutreffend ist. Willkür liegt insbesondere vor, wenn die Vorinstanz offensichtlich unhaltbare Schlüsse gezogen, erhebliche Beweise übersehen oder solche grundlos ausser Acht gelassen hat. Solche Mängel sind in der Beschwerde aufgrund des strengen Rügeprinzips (Art. 106 Abs. 2 BGG) klar und detailliert aufzuzeigen. Auf ungenügend begründete Rügen oder bloss allgemein gehaltene appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid geht das Bundesgericht nicht ein (BGE 144 V 50 E. 4.2 mit Hinweisen).  
 
3.  
 
3.1. Streitig ist, ob die vorinstanzliche Verneinung eines Rentenanspruches der Versicherten Bundesrecht verletzt.  
 
3.2. Aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde ist zu prüfen, ob das kantonale Gericht dem psychiatrischen SMAB-Gutachten vom 4. Januar 2021 (vgl. auch ergänzende Stellungnahme vom 18. Oktober 2021) zu Recht Beweiskraft beimass und für die Beurteilung der Arbeits- sowie der Leistungsfähigkeit der Versicherten darauf abstellte.  
 
4.  
 
4.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem hier angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging am 22. Dezember 2021. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar (BGE 148 V 174 E. 4.1).  
 
4.2. Die Vorinstanz hat die für die Beurteilung des vorliegend streitigen Rentenanspruchs massgebenden Bestimmungen (Art. 28 IVG in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung), insbesondere zur Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und zur Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Rechtsprechung zur Beweiskraft medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a). Darauf wird verwiesen.  
 
5.  
 
5.1. Im Gutachten vom 4. Januar 2021, dem die Vorinstanz Beweiskraft beimass, hielt Dr. med. B.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, als Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine Dysthymie (ICD-10: F34.1) mit additiven kognitiven Defiziten entsprechend einer leichten bis maximal mittelgradigen neuropsychologischen Funktionsstörung fest und als Diagnose ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung (ICD-10: Z73) im Sinne einer Akzentuierung von Persönlichkeitszügen mit ängstlich (vermeidender), anankastischer sowie partiell histrionischer Komponente. Zusammenfassend sei es vor dem Hintergrund als traumatisch erlebter Kindheitserfahrungen sowie weiterer psychosozialer Belastungen im biografischen Verlauf (Scheidung, Probleme mit dem Sohn, familiäre Todesfälle, Überlastung und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz mit Verlust desselben) bei insgesamt vulnerabler Persönlichkeitsstruktur zur Ausbildung einer affektiven Beschwerdesymptomatik gekommen, die von nicht unerheblichen neurotischen Einflüssen überlagert werde. Etwa seit Anfang August 2016 bestehe in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit eine Arbeitsfähigkeit von 70 % und in einer angepassten Tätigkeit (allgemein wohlwollendes Arbeitsumfeld, Möglichkeit für regelmässige Selbstkontrollen und zur Einlegung kurzer Pausen, geringe Anforderungen an die eigenständige Planung und Organisation) eine solche von 80 %. Die Beschwerdeführerin könne unter Berücksichtigung einer Leistungseinschränkung von 15 % aufgrund einer erhöhten Fehleranfälligkeit sowie eines vermehrten Pausenbedarfs acht Stunden pro Tag arbeiten. Diese Experteneinschätzung erachtete das kantonale Gericht als zuverlässig; sie werde durch die Ausführungen der behandelnden Psychologin M. Sc. C.________, eidg. anerkannte Psychotherapeutin, delegierte Psychologin FSP, und des delegierenden med. pract. D.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, nicht in Frage gestellt.  
 
5.2. Wie bereits im vorinstanzlichen Verfahren rügt die Beschwerdeführerin, dass sich der psychiatrische Gutachter weder in der Expertise vom 4. Januar 2021 noch in der Stellungnahme vom 18. Oktober 2021 mit der ihrer Auffassung nach entscheidenden, in den Einschätzungen der behandelnden Psychologin (mitunterzeichnet durch den delegierenden Psychiater) festgehaltenen Diagnose einer komplexen Traumafolgestörung auseinandergesetzt habe. Die Kompetenz des Dr. med. B.________ im Hinblick auf diese Diagnose sei zu hinterfragen, weil er in seinen Ausführungen durchwegs lediglich auf die Kriterien der einfachen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) verwiesen habe.  
 
5.2.1. Die Vorinstanz führte dazu zutreffend aus, die behandelnde Psychologin M. Sc. C.________ habe auch nicht im Ansatz begründet, weshalb die von ihr postulierte komplexe Traumafolgestörung sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirken sollte, nachdem die Beschwerdeführerin während Jahren ohne Probleme habe arbeiten können. Das SMAB-Gutachten äussere sich demgegenüber überzeugend zu den Auswirkungen der geltend gemachten traumatisierenden Erlebnisse. Im Übrigen seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der psychiatrische Gutachter nicht fähig gewesen wäre, die Situation der Beschwerdeführerin medizinisch korrekt zu erfassen.  
 
5.2.2. Dieser im angefochtenen Urteil vertretenen Auffassung ist beizupflichten. Sie vermag sich insbesondere auch auf die ergänzende Stellungnahme vom 18. Oktober 2021 abzustützen, in welcher der Gutachter auf die belastenden Lebensereignisse, welche die Beschwerdeführerin in ihrer Kindheit erlitt, Bezug nahm und überzeugend darlegte, weshalb die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F62.0) nicht erfüllt sind. Entgegen der in der Beschwerde vertretenen Auffassung schmälert die Aussagekraft seiner Ausführungen nicht etwa, dass Dr. med. B.________ nicht auch die komplexe posttraumatische Belastungsstörung erwähnte, weil diese sich von der posttraumatischen Belastungsstörung (gemäss ICD-11) durch Symptome aus drei weiteren Bereichen unterscheidet (Schwierigkeiten in der Regulierung von Emotionen, überdauerndes negatives Konzept des Selbst, Beziehungsschwierigkeiten) und in diesem Sinne bei Nichterfüllen der PTBS-Kriterien erst recht keine komplexe posttraumatische Belastungsstörung gegeben sein kann. Abgesehen davon wurde die komplexe posttraumatische Belastungsstörung in der ICD-10, auf welche sich der Gutachter stützte, noch nicht als eigenständige Diagnose aufgeführt, sondern erst in der ICD-11 ( https://icd.who.int/en), die im Zeitpunkt der Begutachtung noch nicht in Kraft stand. Insgesamt vermag die Beschwerdeführerin damit nicht aufzuzeigen, inwiefern Dr. med. B.________ die erhobenen Befunde nicht im Rahmen seines gutachterlichen Ermessens (vgl. dazu BGE 137 V 210 E. 3.4.2.3; Urteil 9C_397/2015 vom 6. August 2015 E. 5.3) adäquat einzuschätzen vermocht hätte.  
 
5.3. Weiter wird in der Beschwerde sinngemäss geltend gemacht, der psychiatrische Gutachter habe sich vorschnell auf die Diagnose der Dysthymie fokussiert, nur die dazu passenden Umstände berücksichtigt und nicht geprüft, ob die Kriterien einer depressiven Episode erfüllt seien. Die Argumentation der Vorinstanz, wonach die Befunde nicht genügend schwer seien, um von einer depressiven Episode auszugehen, halte bei dieser Sachlage nicht Stand. Die von der Beschwerdeführerin aufgestellte Behauptung läuft auf den Vorwurf hinaus, der Gutachter sei voreingenommen gewesen. Dafür fehlen indessen Anhaltspunkte: Dr. med. B.________ begründete seine Diagnose unter Hinweis auf die testpsychologischen Resultate, die erhobenen Befunde, die eigenanamnestischen Angaben sowie die Akten. Er legte nachvollziehbar dar, dass die Dysthymie in Bezug auf ihr eigentliches Ausmass die Kriterien einer depressiven Störung, gleich welcher Graduierung, prinzipiell nicht erfülle, und räumte ein, dass im Rahmen einer Dysthymie selten einzelne depressive Episoden von maximal leichter Ausprägung durchaus vorkommen könnten. Mit ihren unbegründeten Behauptungen vermag die Beschwerdeführerin nicht aufzuzeigen, inwiefern die gutachterliche Beurteilung nicht objektiv gewesen sein soll.  
 
5.4. Bei dieser Sachlage stellte die Vorinstanz nicht offensichtlich unrichtig fest, dass die Stellungnahmen, auf welche sich die Beschwerdeführerin berufen hatte, keine konkreten Indizien gegen die Zuverlässigkeit des SMAB-Gutachtens vom 4. Januar 2021 aufzuzeigen vermochten. Die weiteren Vorbringen gegen das angefochtene Urteil beschränken sich auf unzulässige appellatorische Kritik an der vorinstanzlichen Beweiswürdigung (vgl. dazu E. 2.2), indem an den bereits im kantonalen Verfahren vorgetragenen Einwänden gegen die Beweiskraft des psychiatrischen Gutachtens vom 4. Januar 2021 festgehalten wird.  
 
5.5. Soweit die Vorinstanz bei dieser Ausgangslage in antizipierter Beweiswürdigung auf weitere Abklärungen verzichtete, kann einzig Willkür gerügt werden (BGE 136 I 229 E. 5.3 mit Hinweisen; Urteil 8C_548/2021 vom 25. Februar 2022 E. 7.2.3 mit Hinweis). Die Beschwerdeführerin, welche eventualiter ergänzende Abklärungen beantragt, legt nicht ansatzweise dar, inwiefern das kantonale Gericht durch den Verzicht auf weitere Beweismassnahmen das Willkürverbot verletzt haben soll. Wie weit die Beschwerde diesbezüglich den qualifizierten Begründungsanforderungen (Art. 106 Abs. 2 BGG) genügt, kann offenbleiben, weil die Rüge ohnehin ins Leere ginge. Die Vorinstanz hatte sich aufgrund der bereits erhobenen Beweise ihre Überzeugung gebildet und durfte ohne Willkür in vorweggenommener Beweiswürdigung annehmen, dass der abgelehnte Beweisantrag daran nichts zu ändern vermocht hätte (BGE 144 V 361 E. 6.5; 136 I 229 E. 5.3).  
 
6.  
Nach dem Gesagten hat das kantonale Gericht zur Feststellung der gesundheitsbedingten Einschränkung der Leistungsfähigkeit der Beschwerdeführerin bundesrechtskonform auf das SMAB-Gutachten vom 4. Januar 2021 abgestellt. Seine Beweiswürdigung ist weder offensichtlich unrichtig noch beruht sie auf einer Rechtsverletzung. Sie bleibt - wie auch die Feststellungen betreffend die Arbeitsfähigkeit - für das Bundesgericht somit verbindlich. Weiterungen zur unbestritten gebliebenen Invaliditätsbemessung nach der gemischten Methode, welche einen rentenausschliessenden Invaliditätsgrad (21 %) ergab, erübrigen sich. Die Beschwerde ist abzuweisen. 
 
7.  
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 24. Oktober 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann