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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_731/2022  
 
 
Urteil vom 24. Mai 2024  
 
I. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichter von Felten, 
Gerichtsschreiber Roux-Serret. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Tobias Figi, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Verletzung der Verkehrsregeln, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, vom 2. Mai 2022 (SST.2022.39). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau sprach A.________ mit Strafbefehl vom 14. Juni 2021 der Verletzung der Verkehrsregeln schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 600.--. 
Sie erachtet es als erwiesen, dass dieser am 11. Februar 2021, um ca. 20:45 Uhr auf der Bernstrasse West in Suhr als Lenker eines Lieferwagens mit einer Geschwindigkeit von 77 km/h gefahren sei. Nach Abzug der Sicherheitsmarge von 5 km/h habe er die dort signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 22 km/h überschritten. 
A.________ erhob Einsprache gegen den Strafbefehl. 
 
B.  
Mit Urteil vom 27. Oktober 2021 bestätigte das Bezirksgericht Aarau den Schuldspruch sowie die Sanktion. Es sprach A.________ der Verletzung der Verkehrsregeln schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 600.--. Die dagegen erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 2. Mai 2022 ab, wobei es A.________ wegen Verletzung der Verkehrsregeln mit einer Busse von Fr. 600.-- bestrafte. 
 
C.  
A.________ gelangt mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung des Urteils des Obergerichts des Kantons Aargau vom 2. Mai 2022 sowie einen Freispruch vom Vorwurf der Verletzung der Verkehrsregeln. 
Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau verzichtete auf Vernehmlassung. Das Obergericht des Kantons Aargau reichte unter dem 13. März 2024 eine Stellungnahme ein, worin es sich im Wesentlichen zur Zulässigkeit des schriftlichen Verfahrens äussert. A.________ reichte eine kurze Vernehmlassung ein, in welcher er seine in der Beschwerde eingenommenen Standpunkte bekräftigt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der Beschwerdeführer stellt in Abrede, dass er das betreffende Fahrzeug im fraglichen Zeitpunkt gelenkt habe. Unter anderem rügt er, weder die erste noch die zweite Instanz habe den fehlbaren Lenker auf dem Radarfoto identifizieren können, weshalb seine Verurteilung willkürlich erfolgt sei.  
 
1.2.  
 
1.2.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Offensichtlich unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 148 IV 356 E. 2.1, 39 E. 2.3.5; 147 IV 73 E. 4.1.2). Willkür liegt nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn die vorinstanzliche Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist, d.h. wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen (BGE 148 IV 356 E. 2.1, 39 E. 2.3.5; 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 88 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). Dass eine andere Lösung ebenfalls vertretbar oder gar vorzuziehen ("préférable") wäre, genügt nicht (BGE 141 I 49 E. 3.4, 70 E. 2.2).  
Der vorinstanzliche Entscheid muss nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis willkürlich sein (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1; 144 III 368 E. 3.1; 141 IV 305 E. 1.2). Die Willkürrüge ist nach Art. 106 Abs. 2 BGG in der Beschwerde anhand des angefochtenen Entscheids explizit vorzubringen und substanziiert zu begründen. Auf ungenügend begründete Rügen oder allgemeine appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 148 IV 356 E. 2.1, 39 E. 2.6; 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 114 E. 2.1, 88 E. 1.3.1). 
 
1.2.2. Waren im erstinstanzlichen Hauptverfahren Übertretungen zu beurteilen, so beschränkt sich die Überprüfungsbefugnis des Berufungsgerichts auf Rechtsfragen sowie die Frage, ob die erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen willkürlich oder rechtsverletzend zustandegekommen sind (Art. 398 Abs. 4 StPO). Hinsichtlich des Sachverhalts überprüft das Bundesgericht anhand der einschlägigen Rügen in der Beschwerdeschrift, ob die vorinstanzliche Überprüfung der erstinstanzlichen Beweiswürdigung auf ihre Willkürfreiheit hin rechtens ist. Dabei handelt es sich um eine vom Bundesgericht frei zu beurteilende Rechtsfrage (Urteile 6B_1143/2023 vom 21. März 2024 E. 2.2, nicht zur Publikation bestimmt; 6B_1177/2019 vom 17. Juni 2020 E. 1.2; 6B_763/2019 vom 28. April 2020 E. 4.3.1 mit Hinweisen).  
 
1.3. Die erste Instanz erwog, auf dem Radarfoto sei ohne Zweifel zu erkennen, dass es sich um eine männliche Person handle, welche eine Gesichtsmaske trage. Mit Beweisverfügung vom 25. August 2021 sei der Beschwerdeführer aufgefordert worden, Passfotos sämtlicher seiner im fraglichen Zeitpunkt angestellten männlichen Mitarbeiter, welche seine Fahrzeuge lenken dürften, einzureichen. Auch nach dem Vergleich der vom Beschwerdeführer eingereichten Passfotos mit dem Radarfoto sei eine Identifikation des Beschwerdeführers als Lenker nicht zweifelsfrei möglich. Jedoch sei er an der Hauptverhandlung vom 27. Oktober 2021 persönlich anwesend gewesen und das Gericht habe sich davon überzeugen können, dass es sich beim fehlbaren Lenker auf dem Radarfoto bzw. bei der Person auf dem Foto oben rechts auf dem vom Beschwerdeführer eingereichten Fotobogen um den Beschwerdeführer handle.  
 
1.4. Wie vom Beschwerdeführer zu Recht geltend gemacht, erweist sich die erstinstanzliche Sachverhaltsfeststellung nicht als frei von Willkür.  
Letztere hielt zunächst fest, eine Identifikation des Lenkers mittels Abgleich des Radarfotos mit dem Bild des Beschwerdeführers erweise sich als nicht möglich. Entsprechend stützte sie sich dazu massgeblich auf ihren persönlichen, anlässlich der Hauptverhandlung vom Beschwerdeführer gewonnenen Eindruck und kam zum Schluss, es handle sich sowohl beim Fahrer auf dem Radarfoto als auch bei der Person oben rechts auf dem Fotobogen um den Beschwerdeführer. 
Dies ist insofern unzutreffend, als letzteres Foto erwiesenermassen dessen Bruder zeigt. Der Beschwerdeführer ist hingegen oben links abgebildet. Der Umstand, dass die erste Instanz den Beschwerdeführer auf einem Passfoto zu erkennen glaubte, das nachweislich einen der anderen potentiellen Fahrer abbildet, muss gleichzeitig und unweigerlich massgebliche Zweifel an der Richtigkeit der Identifikation auf dem Radarbild begründen. Dies umso mehr, als die Radaraufnahme von deutlich schlechterer Qualität als die eingereichten Passfotos ist. Die erstinstanzliche Feststellung, wonach es sich beim Fahrer um den Beschwerdeführer handle, erweist sich vor diesem Hintergrund als unhaltbar. 
Somit kann der Vorinstanz nicht gefolgt werden, wenn sie in der erstinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung keine Willkür erkennt. Zwar erwägt sie, beim fehlerhaften Verweis der ersten Instanz handle es sich um einen "offensichtlichen Verschrieb", damit ergeht sie sich jedoch in einer reinen Mutmassung zu Lasten des Beschwerdeführers. Da es sich bei der Bildidentifikation gemäss den erstinstanzlichen Erwägungen sodann um das wesentliche Beweismittel zur Begründung des Schuldspruchs handelt, ist der Entscheid auch im Ergebnis willkürlich. 
 
1.5. Dadurch, dass die Vorinstanz die erstinstanzliche Sachverhaltsfeststellung als willkürfrei bezeichnet, leidet ihr Entscheid an einem qualifizierten Mangel und verletzt Bundesrecht.  
 
2. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Die Vorinstanz beantragt in ihrer Vernehmlassung mit Verweis auf Urteil 6B_1177/2019 vom 17. Juni 2020 E. 4, die Sache sei im Falle der Gutheissung der Beschwerde an die erste Instanz zurückzuweisen, die als einzige über volle Kognition verfüge. In jenem Fall hatte das Bundesgericht allerdings mit Blick auf eine vorzunehmende Zeugeneinvernahme so entschieden (Urteil 6B_1177/2019 vom 17. Juni 2020 E. 3). In vorliegender Beschwerde bildet die Notwendigkeit einer weiteren Beweiserhebung demgegenüber kein Thema. Die Sache ist entsprechend an die Vorinstanz zur Neubeurteilung zurückzuweisen.  
Bei diesem Ergebnis kann dahingestellt bleiben, wie es sich mit den weiteren Rügen, insbesondere betreffend die Verwertbarkeit der Radarmessung sowie die Zulässigkeit der Durchführung eines schriftlichen Verfahrens verhält. 
Die Rückweisung zur Neubeurteilung gilt als Obsiegen des Beschwerdeführers. Für das bundesgerichtliche Verfahren sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen soweit darauf einzutreten ist. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 2. Mai 2022 wird aufgehoben und die Sache der Vorinstanz zur neuen Entscheidung zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 24. Mai 2024 
 
Im Namen der I. Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Roux-Serret