Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_250/2023  
 
 
Urteil vom 8. Juni 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Müller, Kölz, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Fürsprecher Sararard Arquint, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich, Schwere Gewaltkriminalität, Güterstrasse 33, 
Postfach, 8010 Zürich. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Anordnung Sicherheitshaft, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss vom 5. April 2023 
des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer (UB230043-O/U). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft | des Kantons Zürich führt eine Strafuntersuchung gegen A.________ wegen Mordes. Er wurde am 5. August 2019 verhaftet und anschliessend in Untersuchungshaft versetzt, die mehrfach und letztmals bis 31. April (sic) 2023 verlängert wurde. 
Die Staatsanwaltschaft erhob am 15. Februar 2023 Anklage gegen A.________ und stellte am 6. März 2023 einen "nachträglichen" Antrag auf Anordnung von Sicherheitshaft beim Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Zürich. Dieses verlängerte die Untersuchungshaft mit Verfügung vom 6. März 2023 bis zum definitiven Entscheid über die Anordnung der Sicherheitshaft und versetzte A.________ schliesslich mit Verfügung vom 10. März 2023 in Sicherheitshaft (Dispositiv-Ziffer 1). Dabei stellte sie im Dispositiv auch fest, dass die von A.________ vom 2. bis 5. März 2023 erstandene Haft auf keiner gültigen Rechtsgrundlage beruht habe (Dispositiv-Ziffer 2). 
 
B.  
Dagegen erhob A.________ Beschwerde bei der III. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich. Diese entschied mit Beschluss vom 5. April 2023 in teilweiser Gutheissung der Beschwerde, Dispositiv-Ziffer 2 des angefochtenen Entscheids aufzuheben und wie folgt zu ersetzen: "Es wird festgestellt, dass die durch den Beschuldigten zwischen Eingang der Anklage am 1. März 2023 bis zur provisorischen Anordnung der Sicherheitshaft am 6. März 2023 erlittene Haft auf keiner gültigen Rechtsgrundlage beruhte." Im Übrigen wies sie die Beschwerde ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________ vor Bundesgericht, den Beschluss vom 5. April 2023 aufzuheben und festzustellen, dass die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts vom 10. März 2023 nichtig sei. Eventualiter sei diese aufzuheben. Weiter sei festzustellen, dass seit Eingang der Anklageschrift am 1. März 2023 beim Sachgericht kein Hafttitel bestehe und der Freiheitsentzug ab diesem Zeitpunkt rechtswidrig sei. Er sei zudem unverzüglich aus der Haft zu entlassen. 
Die Vorinstanz und die Staatsanwaltschaft verzichten ausdrücklich auf Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid betreffend Anordnung von Sicherheitshaft. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht gemäss Art. 78 ff. BGG offen. Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und befindet sich in Haft. Er hat folglich ein aktuelles, rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids und ist somit gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
 
2.  
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet dabei "willkürlich" (BGE 148 IV 409 E. 2.2; 147 IV 73 E. 4.1.2; 145 IV 154 E. 1.1). 
 
3.  
 
3.1. Gemäss Art. 220 StPO beginnt die Untersuchungshaft mit ihrer Anordnung durch das Zwangsmassnahmengericht und endet unter anderem mit dem Eingang der Anklage beim erstinstanzlichen Gericht (Abs. 1). Als Sicherheitshaft gilt die Haft während der Zeit zwischen dem Eingang der Anklageschrift beim erstinstanzlichen Gericht und der Rechtskraft des Urteils, dem Antritt einer freiheitsentziehenden Sanktion, dem Vollzug der Landesverweisung oder der Entlassung (Abs. 2).  
Nach Art. 229 StPO entscheidet das Zwangsmassnahmengericht über die Anordnung der Sicherheitshaft bei vorbestehender Untersuchungshaft auf schriftliches Gesuch der Staatsanwaltschaft (Abs. 1). Ergeben sich erst nach der Anklageerhebung Haftgründe, so führt die Verfahrensleitung des erstinstanzlichen Gerichts in sinngemässer Anwendung von Art. 224 StPO ein Haftverfahren durch und beantragt dem Zwangsmassnahmengericht die Anordnung der Sicherheitshaft (Abs. 2). Das Verfahren vor dem Zwangsmassnahmengericht richtet sich ohne vorbestehende Untersuchungshaft sinngemäss nach Art. 225 f. StPO (Abs. 3 lit. a); bei vorbestehender Untersuchungshaft sinngemäss nach Art. 227 StPO (Abs. 3 lit. b). 
 
3.2. Die Vorinstanz hält im angefochtenen Entscheid fest, die Staatsanwaltschaft habe auf Nachfrage des Zwangsmassnahmengerichts erklärt, der Antrag auf Anordnung der Sicherheitshaft sei in der Anklageschrift "untergegangen". Der nachträgliche Antrag sei "auf Bitte des Sachgerichts hin und nach Rücksprache mit dem Zwangsmassnahmengericht" gestellt worden. Die Vorinstanz schliesst daraus, die Sicherheitshaft sei "offenbar im Einvernehmen mit dem Sachgericht" beantragt worden.  
Sie erwägt weiter, die Staatsanwaltschaft habe ihren Antrag offensichtlich verspätet eingereicht. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ändere diese Verspätung aber nichts an ihrer Zuständigkeit dafür, beim Zwangsmassnahmengericht Sicherheitshaft zu beantragen. Die Strafprozessordnung knüpfe die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft klar an das Kriterium der vorbestehenden Untersuchungshaft an. Im vorliegenden Fall habe sich der Beschwerdeführer vor Stellung des Antrages "grundsätzlich" in Untersuchungshaft befunden, der Antrag sei zeitnah gestellt worden und es habe sich bei der Verspätung offensichtlich um ein Versehen seitens der Staatsanwaltschaft gehandelt. In diesem Fall sei nicht massgebend, wer am 6. März 2023 die Verfahrensleitung inne gehabt habe. Ferner stütze sich der verspätete Antrag nicht auf neue Haftgründe, sondern vielmehr auf die bereits zuvor bejahte Fluchtgefahr. 
Die Vorinstanz weist im angefochtenen Entscheid zudem darauf hin, dass der Entscheid, mit dem Sicherheitshaft angeordnet wurde, ihrer Auffassung nach ohnehin nicht nichtig gewesen wäre, da er vom örtlich und sachlich zuständigen Zwangsmassnahmengericht im dafür vorgesehen Verfahren gefällt wurde. 
 
3.3. Nach dem Beschwerdeführer hat die Vorinstanz dagegen "zwingend festgeschrieben[e] Verfahrensabläufe und sachliche[...] Zuständigkeiten" verletzt. Neben den "strafprozessrechtlichen Normen" rügt er auch eine Verletzung von Art. 31 Abs. 1 BV und Art. 5 EMRK. Im Einzelnen macht er geltend, am 6. März 2023 wäre nicht mehr die Staatsanwaltschaft, sondern das Sachgericht dafür zuständig gewesen, beim Zwangsmassnahmengericht Sicherheitshaft zu beantragen. Soweit die Staatsanwaltschaft folglich mit Eingabe vom 6. März 2023 "nachträglich" die Anordnung von Sicherheitshaft beantragte, wäre - seiner Auffassung nach - mangels Zuständigkeit nicht darauf einzutreten gewesen. Dies ergebe sich direkt aus dem Gesetzeswortlaut von Art. 229 StPO und entspreche auch der gesetzgeberischen Absicht, wonach die Herrschaft über das Verfahren mit der Anklageerhebung von der Staatsanwaltschaft auf das erstinstanzliche Gericht übergehen soll und damit auch die Zuständigkeit, dem Zwangsmassnahmengericht die Haft zu beantragen. Selbiges ergebe sich auch aus der Gesetzessystematik; denn mit der Anklageerhebung verliere die Staatsanwaltschaft ihre Stellung als Verfahrensleiterin und das damit einhergehende Antragsrecht. Weiter bringt der Beschwerdeführer vor, am 6. März 2023 habe bereits seit fünf Tagen keine Untersuchungshaft mehr bestanden. Unter diesen Umständen hätte die Vorinstanz auch nicht "ohne weiteres" davon ausgehen dürfen, dass ein Fall vorbestehender Untersuchungshaft im Sinne von Art. 229 Abs. 1 StPO vorliege.  
 
3.4. Der Argumentation des Beschwerdeführers kann nicht gefolgt werden. Ihm ist zwar zuzustimmen, dass die Verfahrensleitung mit Anklageerhebung auf das Bezirksgericht Zürich übergegangen und damit zumindest fraglich ist, ob die Staatsanwaltschaft nach dem 1. März 2023 noch dazu befugt war, beim Zwangsmassnahmengericht Sicherheitshaft zu beantragen, um ihr Versäumnis nachzuholen. Nach der verbindlichen Feststellung des Sachverhalts der Vorinstanz (vgl. E. 2 hiervor) beantragte die Staatsanwaltschaft die Anordnung der Sicherheitshaft jedoch "auf Bitte des Sachgerichts hin" bzw. "im Einvernehmen mit" diesem. Der Antrag auf Anordnung von Sicherheitshaft wurde demnach sowohl von der Staatsanwaltschaft als auch vom Bezirksgericht unterstützt. Damit kann offenbleiben, welche der beiden Behörden am 6. März 2023 für die Stellung des Antrages zuständig war bzw. ob für die Festlegung der Zuständigkeit hierfür an die vorbestehende Untersuchungshaft oder an die Verfahrensleitung anzuknüpfen ist; bei dieser besonderen Sachlage erscheint es jedenfalls vertretbar, dass die Vorinstanz den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts, auf den Antrag einzutreten, geschützt hat.  
 
4.  
 
4.1. Untersuchungs- oder Sicherheitshaft sind gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist (sog. allgemeiner Haftgrund) und zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Fluchtgefahr; lit. a), Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (Kollusions- oder Verdunkelungsgefahr; lit. b) oder durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Wiederholungsgefahr; lit. c). Nach Art. 221 Abs. 2 StPO ist Haft auch zulässig, wenn ernsthaft zu befürchten ist, eine Person werde ihre Drohung, ein schweres Verbrechen auszuführen, wahrmachen (Ausführungsgefahr). Überdies muss die Haft verhältnismässig sein (vgl. Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 197 Abs. 1 lit. c und d sowie Art. 212 Abs. 2 lit. c StPO).  
 
4.2. Nach der Vorinstanz sind die materiellen Voraussetzungen für Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft erfüllt, da sowohl ein dringender Tatverdacht gegen den Beschwerdeführer vorliege als auch die Fluchtgefahr "evident" bleibe. Zudem erweise sich die Haft nach wie vor als verhältnismässig, da der Beschwerdeführer im Verurteilungsfall eine langjährige Freiheitsstrafe zu gewärtigen habe. Unter diesen Umständen falle eine Haftentlassung trotz zeitweiligen Fehlens eines Hafttitels ausser Betracht.  
 
4.3. Nach konstanter Rechtsprechung fällt die Haftentlassung wegen verfassungs- oder EMRK-widrigen Verfahrensmängeln ausser Betracht, wenn die materiellen Haftvoraussetzungen gegeben sind (BGE 142 IV 245 E. 4.1; 139 IV 41 E. 2.2 und 3.4; Urteil 1B_420/2022 vom 9. September 2022 E. 4.1.1 mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass die materiellen Haftvoraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind. Er kann demnach trotz fehlenden Hafttitels vom 1. bis 6. März 2023 nicht aus der Haft entlassen werden.  
 
5.  
Nach dem Dargelegten erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der unterliegende Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig (vgl. Art. 66 Abs. 1 BGG). Er stellt indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. Art. 64 BGG), ist diesem stattzugeben. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.  
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
2.2. Fürsprecher Sararard Arquint wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.  
 
3.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 8. Juni 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern