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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_433/2023  
 
 
Urteil vom 25. März 2024  
 
I. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Denys, 
Bundesrichter Rüedi, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Gerichtsschreiber Matt. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Alain Joset, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
1. Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern, 
2. Bewährungs- und Vollzugsdienste des Kantons Bern, 
Südbahnhofstrasse 14d, Postfach, 3001 Bern, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Haftentschädigung, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 10. Februar 2023 (BK 22 280). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Das Kreisgericht VI Signau-Trachselwald verurteilte A.________ am 23. Januar 2009 wegen mehrfacher sexueller Nötigung, mehrfachen sexuellen Handlungen mit einem Kind und Pornografie zu einer Gefängnisstrafe von 14 Monaten und ordnete eine ambulante Massnahme während und nach dem Vollzug an.  
Am 14. September 2010 ordnete das Kreisgericht VI auf Antrag von A.________ nachträglich eine stationäre therapeutische Massnahme nach Art. 59 StGB an. Die Strafe von 14 Monaten wurde aufgeschoben. 
 
A.b. In einem zweiten Strafverfahren verurteilte das Obergericht des Kantons Bern A.________ am 8. Dezember 2010 zweitinstanzlich wegen mehrfacher Vergewaltigung, mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern, mehrfachen Inzests, Pornografie, Drohung und mehrfacher einfacher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren, teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil des Kreisgerichts VI vom 23. Januar 2009. Es schob die Freiheitsstrafe auf und ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme gemäss Art. 59 StGB an.  
 
A.c. Mit Verfügung vom 22. Dezember 2010 legte die damalige Vollzugsbehörde den Vollzug der erwähnten stationären Massnahmen, die das Kreisgericht VI und das Obergericht angeordnet hatten, zusammen.  
 
A.d. Das Regionalgericht Emmental-Oberaargau verlängerte die stationäre therapeutische Massnahme am 10. Juni 2015 um 4 Jahre und am 19. August 2019 um weitere 2 Jahre.  
 
B.  
Mit Verfügung vom 28. Juli 2021 hob die Vollzugsbehörde die stationäre therapeutische Massnahme infolge Aussichtslosigkeit auf. Am 30. August 2021 beantragte sie die Verwahrung von A.________. 
Mit Beschluss vom 27. April 2022 ordnete das Regionalgericht Emmental-Oberaargau in einem nachträglichen gerichtlichen Verfahren nach Art. 363 ff. StPO die Verwahrung an. 
 
C.  
Die dagegen gerichtete Beschwerde von A.________ hiess das Obergericht des Kantons Bern mit Beschluss vom 10. Februar 2023 teilweise gut und wies den Antrag auf Verwahrung ab. Es ordnete eine ambulante therapeutische Massnahme gemäss Art. 63 StGB samt Bewährungshilfe und Kontaktverbot zu Minderjährigen an. Schliesslich ordnete es Sicherheitshaft an bis zum effektiven Antritt der Massnahme, längstens aber bis zum 31. März 2023. 
 
D.  
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der obergerichtliche Beschluss sei insofern abzuändern, als der Kanton Bern zu verpflichten sei, ihm für unrechtmässigen Freiheitsentzug mindestens Fr. 122'200.-- zu bezahlen. Eventualiter sei die Sache zur Festsetzung einer angemessenen Entschädigung an das Obergericht zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung. 
Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern verzichtet auf eine Vernehmlassung, ebenso das Obergericht, das auf Abweisung der Beschwerde schliesst. Das Amt für Justizvollzug, Bewährungs- und Vollzugsdienste des Kantons Bern beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Vernehmlassungen wurden dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebracht. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der Beschwerdeführer fordert gestützt auf Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO und Art. 5 Ziff. 5 EMRK eine Entschädigung für unrechtmässigen Freiheitsentzug für die Zeit nach Aufhebung der stationären therapeutischen Massnahme infolge Aussichtslosigkeit per 29. Juli 2021 bis zum Tag der vorinstanzlichen Hauptverhandlung am 8. Februar 2023. 
 
1.1.  
 
1.1.1. Wird die beschuldigte Person ganz oder teilweise freigesprochen oder wird das Verfahren gegen sie eingestellt, so hat sie Anspruch auf Genugtuung für besonders schwere Verletzungen ihrer persönlichen Verhältnisse, insbesondere bei Freiheitsentzug (Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO). Sind gegenüber der beschuldigten Person rechtswidrig Zwangsmassnahmen angewandt worden, so spricht ihr die Strafbehörde eine angemessene Entschädigung und Genugtuung zu (Art. 431 Abs. 1 StPO). Im Fall von Untersuchungs- und Sicherheitshaft besteht ein Anspruch auf angemessene Entschädigung und Genugtuung, wenn die zulässige Haftdauer überschritten ist und der übermässige Freiheitsentzug nicht an die wegen anderer Straftaten ausgesprochenen Sanktionen angerechnet werden kann (Art. 431 Abs. 2 StPO).  
Die Ansprüche aus Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO und Art. 431 Abs. 2 StPO setzen je voraus, dass die Haft unter Einhaltung der formellen und materiellen Vorgaben angeordnet wurde. Die beiden Bestimmungen grenzen sich jedoch nach ihrem klaren Wortlaut durch die Verfahrensfolgen ab. So kommt Art. 431 Abs. 2 StPO im Gegensatz zu Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO immer im Zusammenhang mit einer ausgesprochenen Sanktion zur Anwendung (Urteil 6B_375/2018 vom 12. August 2019 E. 2.4, nicht publ. in: BGE 145 IV 359). 
 
1.1.2. Die Genugtuung nach Art. 429 Abs. 1 lit. c StPO bezweckt einen Ausgleich für erlittene Unbill. Eine rechtswidrige Zwangsmassnahme ist nicht vorausgesetzt. Der Anspruch besteht allein aufgrund des späteren Freispruchs oder der Verfahrenseinstellung, auch wenn die Zwangsmassnahme zum Zeitpunkt ihrer Anordnung rechtmässig war. Art. 429 StPO kommt auch bei einem Teilfreispruch oder einer teilweisen Verfahrenseinstellung zur Anwendung und es ist zu prüfen, in welchem Umfang die beschuldigte Person zu entschädigen oder ihr eine Genugtuung zuzusprechen ist (WEHRENBERG/FRANK, Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N. 5 ff. und N. 26 ff. zu Art. 429 StPO).  
Art. 431 Abs. 2 StPO regelt den Fall der sogenannten Überhaft. Eine solche liegt vor, wenn die Haft zwar rechtmässig angeordnet wurde, aber länger dauerte als die ausgefällte Sanktion. Bei Überhaft nach Art. 431 Abs. 2 StPO ist also nicht die Haft per se, sondern nur ihre Länge ungerechtfertigt. Sie wird erst im Nachhinein übermässig, das heisst nach Fällung des Urteils (BGE 141 IV 236 E. 3.2; Urteile 6B_375/2018 vom 12. August 2019 E. 2.5, nicht publ. in: BGE 145 IV 359; 6B_632/2017 vom 22. Februar 2018 E. 1.5; 6B_1076/2016 vom 12. Januar 2017 E. 3.2). Art. 431 Abs. 2 StPO stellt die Grundregel auf, dass Überhaft nur zu entschädigen ist, wenn sie nicht an die wegen anderer Straftaten ausgesprochenen Sanktionen angerechnet werden kann, was im Einklang mit der im Kern kongruenten Regel von Art. 51 StGB steht (BGE 141 IV 236 E. 3.3; Urteil 6B_375/2018 vom 12. August 2019 E. 2.5, nicht publ. in: BGE 145 IV 359). Der Anspruch nach Art. 431 Abs. 2 StPO entfällt zudem, wenn die beschuldigte Person zu einer Geldstrafe, zu gemeinnütziger Arbeit oder zu einer Busse verurteilt wird, die umgewandelt eine Freiheitsstrafe ergäbe, die nicht wesentlich kürzer wäre als die ausgestandene Untersuchungs- und Sicherheitshaft (Art. 431 Abs. 3 lit. a StPO), oder wenn die beschuldigte Person zu einer bedingten Freiheitsstrafe verurteilt wird, deren Dauer die ausgestandene Untersuchungs- und Sicherheitshaft überschreitet (Art. 431 Abs. 3 lit. b StPO). 
 
1.1.3. Mit Art. 364a ff. StPO hat der Gesetzgeber per 1. März 2021 eine explizite gesetzliche Grundlage für die Anordnung von Sicherheitshaft im Verfahren auf Erlass eines selbstständigen nachträglichen Entscheids nach Art. 363 ff. StPO, sog. vollzugsrechtliche Sicherheitshaft, geschaffen.  
Demnach kann die Behörde, die für die Einleitung des Verfahrens auf Erlass eines selbständigen nachträglichen Entscheids des Gerichts zuständig ist, die verurteilte Person festnehmen lassen, wenn ernsthaft zu erwarten ist, dass: gegen die Person der Vollzug einer freiheitsentziehenden Sanktion angeordnet wird; und die Person sich deren Vollzug entzieht, oder erneut ein Verbrechen oder ein schweres Vergehen begeht (Art. 364a Abs. 1 StPO). Das Verfahren richtet sich sinngemäss nach den Artikeln 222-228 StPO (Art. 364a Abs. 2 StPO). 
Die Verfahrensleitung kann die verurteilte Person unter den Voraussetzungen von Artikel 364a Absatz 1 StPO festnehmen lassen (Art. 364b Abs. 1 StPO). Sie führt in sinngemässer Anwendung von Artikel 224 StPO ein Haftverfahren durch und beantragt dem Zwangsmassnahmengericht beziehungsweise der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts die Anordnung der Sicherheitshaft. Das Verfahren richtet sich sinngemäss nach den Art. 225 und 226 (Abs. 2) StPO. Bei vorbestehender Sicherheitshaft richtet sich das Verfahren sinngemäss nach Artikel 227 StPO. Im Übrigen gelten die Artikel 222 und 230-233 StPO sinngemäss (Art. 364b Abs. 3 und Abs. 4 StPO). 
 
1.2.  
 
1.2.1. Im vorliegenden Fall wurde die stationäre therapeutische Massnahme infolge Aussichtslosigkeit am 28. Juli 2021 aufgehoben. Anschliessend befand sich der Beschwerdeführer vom 29. Juli 2021 bis zur vorinstanzlichen Verhandlung am 8. Februar 2023 während 559 Tagen in Sicherheitshaft. Dies zunächst auf Anordnung der Vollzugsbehörde nach Art. 364a StPO und später auf Antrag des Regionalgerichts Emmental-Oberaargau durch das zuständige Zwangsmassnahmengericht gestützt auf Art. 364b StPO bis 30. April 2022. Am 25. August 2022 ordnete die Vorinstanz Sicherheitshaft an, die sie im angefochtenen Beschluss längstens bis zum 31. März 2023 verlängerte, damit ein ambulanter Rahmen samt Überwachung geschaffen werden konnte.  
 
1.2.2. Die Vorinstanz erwägt, die stationäre therapeutische Massnahme sei am 28. Juli 2021 aufgehoben worden. Danach sei für die Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens Sicherheitshaft angeordnet worden. Im Beschluss vom 27. April 2022 ordnete die Erstinstanz die Verwahrung an. Die Vorinstanz nahm an, dass die Beschwerde keine aufschiebende Wirkung hatte und die erstinstanzlich angeordnete Verwahrung einen Hafttitel für den weiteren Freiheitsentzug darstellt. Dennoch beantragte der Präsident der Beschwerdekammer am 23. August 2022 vorsorglich Sicherheitshaft bei der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts, die mit Verfügung vom 25. August 2022 bewilligt wurde.  
Die Rüge des Beschwerdeführers ist begründet. Wie die I. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts im Urteil 1B_375/2022 vom 4. August 2022 entschieden hat, kommt der Beschwerde im Verfahren bei selbständigen Entscheiden des Gerichts - der Entscheid über die Anordnung der Verwahrung stellt ein solches Verfahren dar - von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zu. Andernfalls würde die am 1. März 2021 in Kraft getretene Regelung von Art. 364a StPO ihres Sinnes entleert. Nachdem somit die Sicherheitshaft erstinstanzlich am 8. Dezember 2021 durch das Zwangsmassnahmengericht bis längstens am 30. April 2022 angeordnet wurde, und der Beschwerdeführer am 23. Juni 2022 gegen den Beschluss vom 27. April 2022, womit die Erstinstanz die Verwahrung angeordnet hatte, rekurrierte, bestand ab dem 1. Mai 2022 bis zur Anordnung von Sicherheitshaft durch die Vorinstanz am 25. August 2022 kein Hafttitel. Es besteht für die I. strafrechtliche Abteilung des Bundesgerichts kein Anlass, auf diese Rechtsprechung zurückzukommen bzw. davon abzuweichen. Die Inhaftierung des Beschwerdeführers ist damit für den vorerwähnten Zeitraum als formell rechtswidrig zu qualifizieren. Danach bestand hingegen ein gültiger Hafttitel in Form der Anordnung gemäss Verfügung der Vorinstanz vom 25. August 2022. 
Nach dem Gesagten wird sich die Vorinstanz, an welche die Sache zu diesem Zweck zurückzuweisen ist, zum Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Haftentschädigung nach Art. 431 Abs. 1 StPO zu äussern bzw. diese festzusetzen haben. Auf ihre übrigen Erwägungen und die diesbezüglichen Vorbringen des Beschwerdeführers braucht nicht eingegangen zu werden. 
 
2.  
Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen. Der angefochtene Beschluss vom 10. Februar 2023 ist aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen. 
Es sind keine Gerichtskosten zu erheben. Der Kantons Bern hat den Beschwerdeführer bzw. seinen amtlichen Verteidiger für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist als gegenstandslos abzuschreiben (Art. 64 ff. BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der angefochtene Beschluss vom 10. Februar 2023 wird aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Der Kanton Bern entschädigt den Beschwerdeführer bzw. seinen amtlichen Verteidiger für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'500.--. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 25. März 2024 
 
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Matt