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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_178/2024  
 
 
Urteil vom 27. März 2024  
 
I. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Muschietti, als präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichterin van de Graaf, 
Bundesrichter von Felten, 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Verletzung der Verkehrsregeln, Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit (Motorfahrzeugführer), pflichtwidriges Verhalten bei Unfall; rechtliches Gehör, Treu und Glauben, Vertrauensschutz, Willkür, Grundsatz in dubio pro reo etc., 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Dreiergericht, vom 18. Januar 2024 (SB.2020.14). 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Das Einzelgericht in Strafsachen des Kantons Basel-Stadt verurteilte den Beschwerdeführer am 21. November 2019 wegen Verkehrsregelverletzung, Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit und pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall zu einer bedingt vollziehbaren Geldstrafe von 20 Tagen zu Fr. 70.-- bei einer Probezeit von 5 Jahren und zu einer Busse von Fr. 1'000.-- (Ersatzfreiheitsstrafe 10 Tage). Die am 17. Mai 2016 von der Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg bedingt ausgesprochene Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 70.-- erklärte es für nicht vollziehbar. Zudem regelte es die Kostenfolgen.  
 
1.2. Dagegen erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Berufung mit den Anträgen, das Urteil des Einzelgerichts in Strafsachen vom 21. November 2019 sei aufzuheben, er sei freizusprechen, eventualiter sei die Strafe angemessen zu reduzieren und die Verfahrenskosten seien neu festzusetzen.  
 
1.3. Nachdem das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt das Berufungsverfahren am 23. November 2021 zufolge Rückzugs der Berufung (unentschuldigtes Fernbleiben von der Berufungsverhandlung) als erledigt abgeschrieben hatte, hiess es mit Entscheid vom 14. September 2023 das Wiederherstellungsgesuch des Beschwerdeführers gut.  
 
1.4. Mit Urteil vom 18. Januar 2024 sprach das Appellationsgericht den Beschwerdeführer der Verletzung der Verkehrsregeln, der Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit und des pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingt vollziehbaren Geldstrafe von 16 Tagessätzen zu Fr. 70.-- bei einer Probezeit von 5 Jahren sowie mit einer Busse von Fr. 900.-- (Ersatzfreiheitsstrafe 9 Tage).  
 
1.5. Mit Beschwerde in Strafsachen verlangt der Beschwerdeführer die Aufhebung des Urteils, eventualiter dessen Rückweisung. Das Appellationsgericht habe in seinem Entscheid vom 14. September 2023 - im Hinblick auf die Wiederholung der Berufungsverhandlung - grundsätzlich Mündlichkeit, jedenfalls aber, unter Vorbehalt des Wechsels ins schriftliche Verfahren, Verfügungen zu den Modalitäten zugesichert. Darauf habe er in guten Treuen vertrauen dürfen. Ohne jedoch auf diese Zusicherungen zurückzukommen, habe das Appellationsgericht das Berufungsurteil am 18. Januar 2024 überraschend im schriftlichen Verfahren gefällt. Dadurch habe es Art. 5 Abs. 3 BV sowie Art. 29 Abs. 1 und 2 BV i.V.m. Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt.  
 
2.  
 
2.1. Das Berufungsverfahren ist grundsätzlich mündlich; es findet nach den Vorschriften über die erstinstanzliche Hauptverhandlung kontradiktorisch statt (siehe BGE 147 IV 127 E. 2.1; 143 IV 288 E. 1.4.2; je mit Hinweisen) und setzt regelmässig die Anwesenheit der Parteien voraus. Auf diese kann nur in einfach gelagerten Fällen verzichtet werden, namentlich wenn der Sachverhalt unbestritten, also nicht angefochten ist und Einvernahmen folglich nicht erforderlich sind (vgl. Art. 405 Abs. 2 StPO; BGE 147 IV 127 E. 2.1; 143 IV 288 E. 1.4.4; je mit Hinweisen). Damit ist gleichsam gesagt, dass das Verfahren nicht schriftlich durchgeführt werden kann, wenn Sachverhaltsfragen umstritten sind, es sei denn, es handle sich um die in Art. 406 Abs. 2 StPO geregelten Fälle.  
Gemäss Art. 406 Abs. 2 StPO kann die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts mit dem Einverständnis der Parteien das schriftliche Verfahren anordnen, wenn (lit. a) die Anwesenheit der beschuldigten Person nicht erforderlich ist, sowie wenn (lit. b) ein Urteil eines Einzelgerichts Gegenstand der Berufung ist (BGE 147 IV 127 E. 2.2.1 mit Hinweis). Nach der Rechtsprechung handelt es sich bei Art. 406 Abs. 2 lit. a und b StPO um kumulative Voraussetzungen (BGE 147 IV 127 E. 2.2.2 und E. 3.2). Die Zustimmung zum schriftlichen Berufungsverfahren kann die gesetzlichen Voraussetzungen von Art. 406 Abs. 2 lit. a und b StPO nicht ersetzen, sondern tritt zu diesen hinzu. Ob die Voraussetzungen für die Durchführung des schriftlichen Verfahrens gegeben sind, ist von der Berufungsinstanz von Amtes wegen zu prüfen. Liegen die Voraussetzungen des schriftlichen Verfahrens nicht vor, kann darauf nicht gültig verzichtet werden (BGE 147 IV 127 E. 2.2.3; Urteile 6B_253/2023 vom 16. März 2023 E. 2.3; 6B_589/2020 vom 20. Juli 2021 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). 
Art. 406 StPO ist als "Kann-Vorschrift" ausgestaltet. Die Bestimmung entbindet das Berufungsgericht nicht, im Einzelfall zu prüfen, ob der Verzicht auf die öffentliche Verhandlung auch mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist. Diese Bestimmung gibt der beschuldigten Person im Strafverfahren - als Teilgehalt der umfassenden Garantie auf ein faires Verfahren - Anspruch auf eine öffentliche Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung (BGE 147 IV 127 E. 2.3.1; 143 IV 483 E. 2.1.2; je mit Hinweisen). Ob vor einer Berufungsinstanz eine mündliche Verhandlung durchgeführt werden muss, ist insbesondere unter Beachtung des Verfahrens als Ganzem und der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen; es kommt insofern entscheidend darauf an, ob die Angelegenheit unter Beachtung aller Gesichtspunkte sachgerecht und angemessen beurteilt werden kann (zum Ganzen BGE 147 IV 127 E. 2.3 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR; ferner BGE 143 IV 483 E. 2.1.2; Urteil 6B_1430/2021 vom 15. Februar 2023 E. 1.2.1; je mit Hinweisen). 
 
2.2. Nach Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör. Der Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV; Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) gebietet ein loyales und vertrauenswürdiges Verhalten. Er verpflichtet als Grundsatz des Strafverfahrensrechts und als verfassungsrechtliches Gebot rechtsstaatlichen Handelns sowohl Behörden als auch Parteien (BGE 146 IV 297 E. 2.2.6) und verleiht einer Person Anspruch auf Schutz des berechtigten Vertrauens in eine Zusicherung, Auskunft oder sonstiges Verhalten einer Behörde (BGE 137 I 69 E. 2.5.1; 137 II 182 E. 3.6.2; je mit Hinweisen). Voraussetzung ist, dass die sich auf den Vertrauensschutz berufende Person berechtigterweise auf diese Grundlage vertrauen durfte und gestützt darauf nachteilige Dispositionen getroffen hat, die sie nicht mehr rückgängig machen kann (vgl. zu den Voraussetzungen im Einzelnen BGE 141 I 161 E. 3.1; 137 II 182 E. 3.6.2; je mit Hinweisen).  
 
3.  
Die Verfahrensleitung des Appellationsgerichts verfügte am 20. Juli 2020, nachdem der Beschwerdeführer Berufung erhoben hatte, die Ladung der Parteien zur mündlichen Berufungsverhandlung; offensichtlich wurde die Anwesenheit des Beschwerdeführers und diejenige der Zeugen sowie deren Befragung als notwendig erachtet (kantonale Akten, pag. 214 ff., pag. 229). Die Vorladungen wurden am 18. November 2020 bzw. am 10. Juni 2021 verschickt (kantonale Akten, pag. 252-269 sowie pag. 271-282). Weil der Beschwerdeführer nicht zur Berufungsverhandlung erschien, schrieb das Appellationsgericht das Berufungsverfahren mit Beschluss vom 23. November 2021 gestützt auf Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO zufolge Rückzugs der Berufung als erledigt ab (kantonale Akten, pag. 306 ff.). In der Folge ersuchte der Beschwerdeführer um Wiederherstellung des versäumten Termins. Am 16. Juni 2023 teilte die Verfahrensleitung mit, dass der Wiederherstellungsentscheid demnächst folge (kantonale Akten, pag. 349), worauf der Beschwerdeführer am 21. Juni 2023 unaufgefordert in einem Schreiben u.a. ausführte, die Beurteilung der Berufung wäre seines Erachtens auch im schriftlichen Verfahren möglich (kantonale Akten, pag. 351). Die Verfahrensleitung verfügte am 5. September 2023, das Verfahren werde - ohne Gegenantrag der Staatsanwaltschaft - antragsgemäss schriftlich und ohne Parteiverhandlung durchgeführt. Ergänzende schriftliche Eingaben hätten bis 16. Oktober 2023 zu ergehen (kantonale Akten, pag. 354). Mit Entscheid vom 14. September 2023 hiess das Appellationsgericht das Gesuch um Wiederherstellung gut (kantonale Akten, pag. 356 ff.) und erkannte zudem, dass die Berufungsverhandlung in Anwesenheit des Beschwerdeführers wiederholt werde, der Wechsel ins schriftliche Verfahren vorbehalten bleibe und die Verfügungen zu den Modalitäten später folgen würden (kantonale Akten, pag. 362). Am 18. Januar 2024 fällte das Appellationsgericht das Berufungsurteil - ohne jegliche Weiterungen und ohne jegliche Begründung - im schriftlichen Verfahren (kantonale Akten, pag. 363 ff.). 
 
4.  
Die Kritik in der Beschwerde am prozessualen Vorgehen des Appellationsgerichts ist berechtigt. Die verfahrensleitende Instruktion, aber auch die richterlichen Entscheide hinterlassen den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit in Bezug auf die Frage der Verfahrensdurchführung; einmal soll es mündlich, das andere Mal schriftlich sein. Im Wiederherstellungsentscheid vom 14. September 2023 wird diesem "Hin und Her" vermeintlich ein vorläufiges Ende gesetzt. Das fragliche Entscheiddispositiv ist unmissverständlich: "Die Berufungsverhandlung wird in Anwesenheit des Beschwerdeführers wiederholt. Der Wechsel ins schriftliche Verfahren bleibt vorbehalten. Die Verfügungen betreffend die Modalitäten folgen später." Aus den Entscheiderwägungen ergibt sich korrelierend, dass die Berufung regelmässig im mündlichen Verfahren und in Anwesenheit der Parteien behandelt werde. In begründeten Ausnahmefällen könne sie im schriftlichen Verfahren abgewickelt werden. Der Beschwerdeführer habe in seiner Eingabe vom 21. Juni 2023 vorgebracht, die Berufung könne auch schriftlich durchgeführt werden, worauf zu gegebener Zeit zurückzukommen sein werde (vgl. Entscheid vom 14. September 2023 S. 8 E. 3.). Und weiter konkret: Die Berufungsverhandlung sei grundsätzlich in Anwesenheit des Beschwerdeführers zu wiederholen. Dieser werde zu gegebener Zeit durch die Verfahrensleitung vorgeladen und auf die Möglichkeit eines (erneuten) Antrags auf Dispensation bzw. Schriftlichkeit hingewiesen (Entscheid vom 14. September 2023 S. 8 E. 4). 
Gestützt auf diese klaren gerichtlichen Zusagen durfte der Beschwerdeführer (grundsätzlich) mit der Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung in seiner Anwesenheit rechnen, anlässlich welcher er seine Sachverhalts- und Rechtsstandpunkte nach Abschluss des Beweisverfahrens in einem Parteivortrag hätte begründen können (Art. 346 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO). Jedenfalls aber durfte er in guten Treuen darauf vertrauen, über die weiteren Verfahrensmodalitäten unter Einhaltung seines Gehörsanspruchs - wie zugesichert - noch orientiert zu werden. Dies geschah nicht. Das Appellationsgericht fällte am 18. Januar 2024, zeitlich einhergehend mit einem unangekündigten Wechsel ins schriftliche Verfahren, das Urteil in der Sache selbst und zwar entgegen seiner Zusicherungen und ohne dem Beschwerdeführer zumindest das rechtliche Gehör gewährt oder ihm auch nur Frist zur Einreichung einer schriftlichen Eingabe eingeräumt zu haben. 
Dass der Beschwerdeführer zuvor, am 21. Juni 2023, sein Einverständnis kundtat, das Verfahren auch schriftlich durchführen zu können, und die Verfahrensleitung den Parteien in der Folge am 5. September 2023 Frist zur Einreichung von ergänzenden schriftlichen Eingaben bis zum 16. Oktober 2023 ansetzte, ist durch die Zusicherungen im Wiederherstellungsentscheid, in welchem im Übrigen auf die Erklärung vom 21. Juni 2023 Bezug genommen wird, derogiert und damit irrelevant. Entsprechend kann dem Beschwerdeführer auch nicht vorgeworfen werden, die Möglichkeit nicht wahrgenommen zu haben, sich zumindest schriftlich zu äussern. In guten Treuen durfte er sich vielmehr darauf verlassen bzw. war er in seinem Vertrauen darauf geschützt, dass sich das Appellationsgericht an das im Wiederherstellungsentscheid vom 14. September 2023 explizit vorgezeichnete Vorgehen halten werde. Wie bereits ausgeführt, geschah das Gegenteil: Das Appellationsgericht wechselte unangekündigt, formlos und ohne überhaupt nachvollziehbar zu prüfen oder geprüft zu haben, ob die Voraussetzungen diesbezüglich vorliegen, ins schriftliche Verfahren und fällte kurzerhand - ohne Schriftenwechsel - das Berufungsurteil. Damit verletzte es den Gehörsanspruch des Beschwerdeführers sowie den Grundsatz von Treu und Glauben und das Gebot der Verfahrensfairness. 
 
5.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei dieser Ausgangslage braucht auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers in der Beschwerde nicht eingegangen zu werden. 
 
Die Rückweisung an die Vorinstanz erfolgt prozessualiter. Die Sache wird damit nicht präjudiziert, sodass auf die Einholung von Vernehmlassungen verzichtet werden kann (vgl. Urteil 6B_151/2019 vom 17. April 2019 E. 5). 
Ausgangsgemäss sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Dem nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer ist keine Parteientschädigung zuzusprechen, da er keine besonderen Verhältnisse oder Auslagen geltend macht, die eine solche rechtfertigen könnten (vgl. BGE 127 V 205 E. 4b; 125 II 518 E. 5b). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gegenstandslos. Das Gesuch um aufschiebende Wirkung wird mit dem Entscheid in der Sache gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 18. Januar 2024 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Dreiergericht, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 27. März 2024 
 
Im Namen der I. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Muschietti 
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill