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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_485/2022  
 
 
Urteil vom 3. Oktober 2022  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Chaix, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Müller, Merz, 
Gerichtsschreiber Hahn. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Amr Abdelaziz, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat, 
Büro C-3, Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8036 Zürich. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Anordnung Untersuchungshaft, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 2. September 2022 (UB220140-O/U/HON). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat übernahm am 5. August 2022 eine von der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland gegen A.________ wegen des Verdachts der Körperverletzung geführte Strafuntersuchung. Der Grund für die Verfahrensübernahme lag darin, dass bei der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat bereits eine Strafuntersuchung gegen A.________ wegen des Verdachts des Diebstahls hängig war. Aufgrund der ihm vorgeworfenen Körperverletzung zum Nachteil von B.________ wurde A.________ am 1. August 2022 festgenommen und vom Zwangsmassnahmengericht des Bezirks Winterthur mit Verfügung vom 3. August 2022 wegen Kollusions- und Fluchtgefahr in Untersuchungshaft versetzt. Eine von A.________ hiergegen erhobenen Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 2. September 2022 ab. Es bejahte den dringenden Tatverdacht und Fluchtgefahr. 
 
B.  
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 14. September 2022 beantragt A.________, der Beschluss des Obergerichts vom 2. September 2022 sei aufzuheben und er sei aus der Sicherheitshaft zu entlassen. In prozessualer Hinsicht ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. 
Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft beantragt die Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer hält mit Replik vom 28. September 2022 an seinen Anträgen fest. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid betreffend die Anordnung von Untersuchungshaft. Dagegen steht grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG offen. Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und befindet sich - soweit ersichtlich - nach wie vor in Haft. Er ist deshalb nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2.  
Nach Art. 221 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft unter anderem zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Abs. 1 lit. a). An ihrer Stelle sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 f. StPO). 
Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen eines massgeblichen dringenden Tatverdachts nicht und die diesbezüglichen Ausführungen der Vorinstanz halten vor Bundesrecht stand. Er rügt jedoch, die Vorinstanz habe den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO zu Unrecht bejaht. 
 
3.  
 
3.1. Die Annahme von Fluchtgefahr als besonderer Haftgrund setzt ernsthafte Anhaltspunkte dafür voraus, dass sich die beschuldigte Person dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion durch Flucht entziehen könnte (Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts darf die Schwere der drohenden Sanktion zwar als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein nicht, um einen Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falls, insbesondere die gesamten Lebensverhältnisse der beschuldigten Person, in Betracht gezogen werden (BGE 145 IV 503 E. 2.2; 143 IV 160 E. 4.3; 125 I 60 E. 3a; je mit Hinweisen). So ist es zulässig, ihre familiären und sozialen Bindungen, ihre berufliche Situation und Schulden sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches mitzuberücksichtigen, ebenso besondere persönliche Merkmale (wie z.B. eine Tendenz zu überstürzten Aktionen, ausgeprägte kriminelle Energie etc.), die auf eine Fluchtneigung schliessen lassen könnten. Auch bei einer befürchteten Ausreise in ein Land, das die beschuldigte Person grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw. stellvertretend verfolgen könnte, fiele die Annahme von Fluchtgefahr nicht dahin (BGE 145 IV 503 E. 2.2; 123 I 31 E. 3d). Die Wahrscheinlichkeit einer Flucht nimmt in der Regel mit zunehmender Verfahrens- bzw. Haftdauer ab, da sich auch die Dauer des allenfalls noch zu verbüssenden strafrechtlichen Freiheitsentzugs mit der bereits erstandenen prozessualen Haft, die auf die mutmassliche Freiheitsstrafe anzurechnen wäre (vgl. Art. 51 StGB), kontinuierlich verringert (BGE 143 IV 160 E. 4.3 mit Hinweis).  
 
3.2. Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen 21-jährigen algerischen Staatsbürger, der sich im Zeitpunkt seiner Festnahme erst seit zwei Monaten in der Schweiz aufgehalten hatte und hier ein Asylgesuch stellte. Eine enge soziale oder wirtschaftliche Bindung zur Schweiz, die den Beschwerdeführer von einer Flucht abhalten könnte, kann aufgrund einer derart kurzen Aufenthaltsdauer nicht angenommen werden, was die Vorinstanz als gewichtiges Fluchtindiz werten durfte. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist bei der Beurteilung der Fluchtgefahr auch die ihm im Falle einer Verurteilung drohende Strafe zu berücksichtigen. Im Wesentlichen wird dem Beschwerdeführer vorgeworfen, im Rahmen einer tätlichen Auseinandersetzung mit einer zerbrochenen Flasche auf B.________ eingeschlagen zu haben, wobei dieser am rechten Arm eine Schnittverletzung der "vena basilica" erlitt und ohne unverzügliche ärztliche Intervention und Operation verblutet wäre. Unabhängig von der vom Beschwerdeführer und der Beschwerdegegnerin diskutierten Frage, ob dieser Tatvorwurf den Tatbestand der einfachen oder schweren Körperverletzung erfüllt, hat der Beschwerdeführer bei dieser Ausgangslage, wie die Vorinstanz nachvollziehbar ausführte, im Falle einer Verurteilung jedenfalls ernsthaft mit einer empfindlichen, mehrmonatigen Freiheitsstrafe zu rechnen. Mit Blick auf die zitierte Rechtsprechung wertete die Vorinstanz diesen Umstand zu Recht als weiteres Fluchtindiz.  
Entgegen der Kritik des Beschwerdeführers durfte die Vorinstanz bei der Beurteilung der von ihm ausgehenden Fluchtgefahr schliesslich auch seine aufenthaltsrechtliche Situation in der Schweiz berücksichtigen (vgl. Urteile 1B_458/2022 vom 23. September 2022 E. 5.2; 1B_679/2021 vom 30. Dezember 2021 E. 2.3; 1B_334/2018 vom 30. Juli 2018 E. 5.2.3 f.). Insoweit hat die Vorinstanz ausgeführt, die Statistiken des Staatssekretariats für Migration (SEM) zeige auf, dass für das Jahr 2022 von insgesamt 677 erledigten Asylgesuchen von Personen aus Algerien nur in zwei Fällen Asyl gewährt und in keinem Fall eine vorläufige Aufnahme verfügt worden sei. Nach der Auffassung der Vorinstanz erscheint es angesichts dieser statistischen Zahlen und der Tatsache, dass der Beschwerdeführer in einem Bundesasylzentrum für Personen untergebracht sei, welche die Schweiz in der Regel nach kurzer Zeit wieder verlassen müssen, als unwahrscheinlich, dass er ein Bleiberecht erwerben könne. Diese Schlussfolgerung ist, anders als dies der Beschwerdeführer pauschal behauptet, nachvollziehbar und nicht diskriminierend, hat sich die Vorinstanz bei ihrer Beurteilung doch lediglich auf die offiziellen statistischen Zahlen des SEM bezogen, die vom Beschwerdeführer nicht bestritten werden. Dieser hat in Bezug auf seine Person denn auch keine besonderen Umstände geltend gemacht. Er weist bloss auf die "Attraktivität" der Schweiz für ihn und Menschen aus seiner Heimat hin. Wenn die Vorinstanz die unklare Aufenthaltssituation des Beschwerdeführers folglich als ein die Fluchtgefahr zusätzlich erhöhendes Indiz deutete, hält dies vor Bundesrecht stand. 
 
3.3. Die grundsätzlich nicht zu beanstandenden Erwägungen der Vorinstanz zur Fluchtgefahr gilt es insofern etwas zu relativieren, als die finanzielle Abhängigkeit des Beschwerdeführers von den staatlichen Unterstützungsleistungen, wie er vor Bundesgericht nachvollziehbar vorbringt, eine Flucht erschweren würde (vgl. Urteil 1B_334/2018 vom 30. Juli 2017 E. 5.2.4). Würde er sich in einen Nachbarstaat der Schweiz begeben, müsste er als Asylsuchender zudem mit einer Rücküberstellung rechnen (Urteil 1B_150/2015 vom 12. Mai 2015 E. 3.4). Trotzdem hält die vorinstanzliche Bejahung des besonderen Haftgrunds der Fluchtgefahr vor Bundesrecht stand. Den mit einer Flucht verbundenen finanziellen Schwierigkeiten stehen die komplett fehlenden sozialen Bezugspunkte zur Schweiz, die im Falle einer Verurteilung mutmasslich zu erwartende Freiheitsstrafe sowie die insgesamt schlechten Perspektiven auf ein Bleiberecht gegenüber. Neben einer Flucht ins Ausland fällt zudem auch ein Untertauchen in der Schweiz in Betracht. Schliesslich besteht angesichts der Schwere der zu untersuchenden Körperverletzung auch ein erhöhtes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall auch entscheidend von dem Sachverhalt, der dem Urteil 1B_150/2015 des Bundesgerichts zugrunde lag, in welchem bei einem sich erst seit wenigen Monaten in der Schweiz befindlichen marokkanischen Asylbewerber die Fluchtgefahr verneint wurde. Ausschlaggebend war damals insbesondere die Tatsache, dass die damals im Raum stehenden Delikte - anders als vorliegend - nicht besonders schwerwiegend waren (vgl. Urteil 1B_150/2015 vom 12. Mai 2015 E. 3.4 f.).  
 
3.4. Zusammengefasst liegen zum aktuell noch sehr frühen Verfahrenszeitpunkt aufgrund der erwähnten konkreten Lebensverhältnisse des Beschwerdeführers sowie der ihm im Falle einer Verurteilung drohenden empfindlichen Freiheitsstrafe ernsthafte Anhaltspunkte dafür vor, dass er sich durch Flucht im In- oder Ausland der zu erwartenden Sanktion entziehen könnte. Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, überzeugt nach dem Gesagten nicht. Folglich durfte die Vorinstanz von Fluchtgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO ausgehen.  
 
4.  
Mildere Massnahmen, die den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (vgl. Art. 237 Abs. 1 StPO), sind nicht ersichtlich und werden vom Beschwerdeführer auch nicht beantragt. Dass die erstmals angeordnete Untersuchungshaft in zeitlicher Hinsicht unverhältnismässig wäre, macht der Beschwerdeführer zu Recht nicht geltend. 
 
5.  
Die Beschwerde ist aus den genannten Gründen abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens würde der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er stellt indessen ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden (vgl. Art. 64 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. 
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
2.2. Rechtsanwalt Amr Abdelaziz wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt.  
 
3.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 3. Oktober 2022 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Chaix 
 
Der Gerichtsschreiber: Hahn