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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_548/2023  
 
 
Urteil vom 30. Oktober 2023  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Hurni, Hofmann, 
Gerichtsschreiberin Lustenberger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, vertreten durch Herr Philip Stolkin, Herr Bernard Rambert und Herr Thomas Häusermann, Rechtsanwälte, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich, Schwere Gewaltkriminalität, Güterstrasse 33, 
 
Gegenstand 
Psychiatrische Begutachtung, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 18. Juli 2023 (UH220424-O/U/GRO). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft | des Kantons Zürich führt gegen A.________ eine Strafuntersuchung. Ihm werden für den Zeitraum vom 22. November 2018 bis 28. Juni 2022 über 30 Straftaten zur Last gelegt, die er mehrheitlich in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Pöschwies begangen haben soll, darunter versuchte schwere Körperverletzung, mehrfache (teils versuchte) einfache Körperverletzung, mehrfache Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte, mehrfache Drohung sowie mehrfache Sachbeschädigung, je zum Nachteil des Vollzugspersonals bzw. der JVA. 
Am 11. Dezember 2022 beauftragte die Staatsanwaltschaft Dr. med. B.________ mit der Erstellung eines psychiatrischen Fokalgutachtens über A.________. 
 
B.  
Gegen den Gutachtensauftrag erhob A.________ am 22. Dezember 2022 Beschwerde an das Obergericht des Kantons Zürich mit dem Antrag, die Anordnung der Begutachtung sei aufzuheben; weiter sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu erteilen. 
Mit Verfügung vom 27. Dezember 2022 wies das Obergericht das Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung ab. Mit Beschluss vom 18. Juli 2023 wies es auch die Beschwerde ab. 
In der Zwischenzeit wurde das Fokalgutachten erstellt, datierend vom 16. März 2023. 
 
C.  
A.________ wendet sich mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht und beantragt, der Beschwerdeentscheid sei aufzuheben und "es sei der Verstoss gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens bei der Gutachtensvergabe festzustellen". Eventualiter sei die "Angelegenheit an die Vorinstanz zur weiteren Abklärung zurückzuweisen". Zudem sei ihm für das bundesgerichtliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu erteilen. 
Es wurden die kantonalen Akten, nicht aber Vernehmlassungen eingeholt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein Rechtsmittel zulässig ist (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 148 IV 155 E. 1.1; 143 IV 357 E. 1; je mit Hinweisen). 
 
1.1. Gegen den angefochtenen kantonal letztinstanzlichen Entscheid steht die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG grundsätzlich offen. Der angefochtene Beschluss betreffend Anordnung einer psychiatrischen Begutachtung schliesst das Strafverfahren indes nicht ab. Es handelt sich daher entgegen der in Rz. 3 der Beschwerdeschrift ausgeführten Auffassung nicht um einen Endentscheid, sondern um einen Zwischenentscheid, der nur unter den Voraussetzungen von Art. 92 und Art. 93 BGG angefochten werden kann. Demnach ist die Beschwerde insbesondere zulässig, wenn der angefochtene, selbstständig eröffnete Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG).  
Beim drohenden nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG muss es sich im Bereich der Beschwerde in Strafsachen um einen solchen rechtlicher Natur handeln. Nicht wieder gutzumachend bedeutet, dass er auch mit einem für die beschwerdeführende Person günstigen Endentscheid nicht oder nicht vollständig behebbar ist (BGE 148 IV 155 E. 1.1; 147 IV 188 E. 1.3.2; 144 IV 127 E. 1.3.1, 321 E. 2.3). Ein lediglich tatsächlicher Nachteil wie die Verteuerung oder Verlängerung des Verfahrens genügt nicht (BGE 148 IV 155 E. 1.1; 144 IV 321 E. 2.3; 136 IV 92 E. 4; je mit Hinweisen). 
Das Gesetz legt besonderes Gewicht darauf, dass schon im Vorverfahren für ein grundsätzlich gültiges und gerichtlich verwertbares psychiatrisches Gutachten zu sorgen ist (Urteile 7B_223/2023 vom 3. August 2023 E. 2.3; 1B_162/2022 vom 17. Februar 2023 E. 3.4, zur Publ. bestimmt; 1B_520/2017 vom 4. Juli 2018 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 144 I 253). Nach der Rechtsprechung ist die Anordnung einer psychiatrischen Begutachtung aufgrund des damit einhergehenden Grundrechtseingriffs (vgl. Art. 10 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 1 BV) und des erhöhten Risikos eines drohenden Beweisverlusts daher grundsätzlich sofort, d.h. noch im Vorverfahren (und nicht erst mit dem Endentscheid), höchstrichterlich überprüfbar (vgl. Urteile 1B_215/2023 vom 16. Mai 2023 E. 1; 1B_559/2021 vom 17. Januar 2022 E. 1 mit Hinweisen; 1B_520/2017 vom 4. Juli 2018 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 144 I 253). Auch bei Beschwerden gegen einen Gutachtensauftrag obliegt es aber nach Art. 42 Abs. 2 BGG der beschwerdeführenden Person, wenn dies nicht von vornherein offensichtlich ist, darzulegen, inwiefern ihr ein nicht wieder gutzumachender Nachteil rechtlicher Natur drohen soll (vgl. BGE 141 IV 284 E. 2.3; Urteile 1B_162/2022 vom 17. Februar 2023 E. 3.5, zur Publ. bestimmt; 1B_559/2021 vom 17. Januar 2022 E. 1). 
 
1.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, sich nach wie vor in Haft zu befinden, wofür namentlich die Risikoanalyse im streitigen Fokalgutachten verantwortlich sei. Er sei zur Beschwerdeführung legitimiert, weil das Gutachten erheblichen Einfluss auf die Haftdauer habe.  
Diesen Ausführungen kann gefolgt werden: Die Anordnung der - im Zeitpunkt des vorliegenden Entscheids zumindest noch - aktuellen Sicherheitshaft wegen Wiederholungsgefahr stützte sich zu wesentlichen Teilen auf das Fokalgutachten vom 16. März 2023. Im entsprechenden Haftprüfungsentscheid hielt das Bundesgericht ausdrücklich fest, dass die Haft einer erneuten Überprüfung bedürfe, wenn sich herausstellen sollte, dass das Gutachten wegen Befangenheit des Sachverständigen mit formellen Mängeln behaftet ist (Urteil 7B_188/2023 vom 24. Juli 2023 E. 10.5.2). Der angefochtene Zwischenentscheid hat somit direkte Auswirkungen auf die Fortführung der Haft, womit ein nicht wieder gutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zu bejahen ist (vgl. Urteil 1B_441/2022 vom 13. September 2022 E. 1.1). 
 
1.3. Nur im vorinstanzlichen Entscheid bereits Behandeltes kann Gegenstand des bundesgerichtlichen Verfahrens sein (vgl. Art. 80 Abs. 1 BGG). Im vorliegend angefochtenen Beschluss geht es einzig um die Anordnung einer (erneuten) psychiatrischen Begutachtung des Beschwerdeführers. Soweit dieser inhaltliche Kritik am zwischenzeitlich bereits vorliegenden Gutachten äussert, ist auf seine Beschwerde somit nicht einzutreten.  
 
2.  
In formeller Hinsicht rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung der richterlichen Begründungspflicht und damit seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 BV und Art. 6 EMRK). 
 
2.1. Er habe vor der Vorinstanz vorgebracht, so die Begründung des Beschwerdeführers, dass die einseitigen Finanzierungs- und Abhängigkeitsverhältnisse zwischen dem Gutachter und der Staatsanwaltschaft die Grundsätze des fairen Verfahrens, der Waffengleichheit und der Verhältnismässigkeit verletzen würden. Die Vorinstanz nehme diese Einwände wohl in ihre Sachverhaltsschilderungen auf, handle sie in den Urteilserwägungen aber nicht ab.  
 
2.2. Der Anspruch auf rechtliches Gehör verlangt schon von Verfassungs wegen (Art. 29 Abs. 2 BV), dass das Gericht die Vorbringen der Parteien auch tatsächlich hört, prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt; daraus folgt insbesondere die Verpflichtung, richterliche Entscheide ausreichend und nachvollziehbar zu begründen (BGE 145 IV 99 E. 3.1 mit Hinweisen). Die Entscheidbegründung muss kurz die wesentlichen Überlegungen nennen, von denen sich das Gericht leiten liess und auf die es seinen Entscheid stützt. Es muss sich nicht mit jedem Parteivorbringen einlässlich auseinandersetzen (BGE 146 IV 297 E. 2.2.7; 141 IV 249 E. 1.3; 139 IV 179 E. 2.2). Dies entspricht den konventionsrechtlichen Anforderungen. Die EMRK verpflichtet nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Entscheide zu motivieren, wobei es auf den Einzelfall ankommt, doch lässt sich Art. 6 Ziff. 1 EMRK nicht in der Weise auslegen, dass eine detaillierte Antwort auf jedes Argument gefordert würde. Wie jedes behördliche Handeln hat auch der Motivationsaufwand sachbezogen und verhältnismässig zu sein (BGE 146 IV 297 E. 2.2.7 mit Hinweisen).  
 
2.3. Die Rüge des Beschwerdeführers erweist sich als unbegründet. Gegenstand seiner Beschwerde an die Vorinstanz war die angeblich fehlende Notwendigkeit und Verhältnismässigkeit einer Begutachtung, nicht aber die Person des Gutachters B.________. Mit den von ihm aufgeworfenen Fragen setzt sich die Vorinstanz einlässlich auseinander. Nur in einem Satz erwähnt der Beschwerdeführer, das Gutachterverfahren sei wegen seiner einseitigen Ausrichtung unfair, bedenke man "u.a. die Finanzierungs- und Abhängigkeitsverhältnisse und den Grundsatz der Waffengleichheit" (Akten Vorinstanz act. 2 Rz. 14). Eine nähere Begründung hierzu liefert er weder in der Beschwerde selbst noch in der Replik (act. 33), weshalb die Vorinstanz auch nicht gehalten war, sich mit dieser beiläufig vorgetragenen Bemerkung näher zu befassen.  
 
3.  
Mit der Eingabe des Beschwerdeführers ans Bundesgericht verhält es sich gerade umgekehrt: Hier diskutiert der Beschwerdeführer einzig die angeblich fehlende (strukturelle) Unparteilichkeit und Unabhängigkeit des Gutachters, nicht aber die Notwendigkeit einer Begutachtung überhaupt. Er thematisiert die Frage der Unabhängigkeit vor Bundesgericht erstmals in substanziierter Weise, obwohl er allfällige Ablehnungsgründe gegen die Person des Gutachter gemäss Art. 183 Abs. 3 i.V.m. Art. 58 Abs. 1 StPO zeitnah hätte geltend machten müssen. Die Beschwerde erweist sich in diesem Punkt somit als unzulässig. 
 
4.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit überhaupt darauf eingetreten werden kann. Da sie von vornherein aussichtslos war, ist das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen (Art. 64 BGG). Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seiner Mittellosigkeit wird bei der Kostenfestsetzung Rechnung getragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 600.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 30. Oktober 2023 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Die Gerichtsschreiberin: Lustenberger