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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_360/2022  
 
 
Urteil vom 4. November 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Advokat Erich Züblin, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 23. Juni 2022 (VBE.2022.15). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1972 geborene A.________ meldete sich im Oktober 2016 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen - insbesondere Einholung des Gutachtens der MGSG Medizinisches Gutachtenzentrum Region St. Gallen GmbH (nachfolgend: MGSG) vom 21. April 2021 - und Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau A.________ mit Verfügung vom 17. Dezember 2021 eine Viertelsrente vom 1. Juni bis zum 30. September 2018 zu. 
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 23. Juni 2022 ab. 
 
C.  
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Urteils vom 23. Juni 2022 sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihm eine halbe Invalidenrente vom 1. Juni bis zum 30. September 2018 und eine Viertelsrente ab dem 1. Oktober 2018 auszurichten. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Der Rentenanspruch ist abgestuft: Bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 % resp. 50 %, 60 % oder 70 % besteht Anspruch auf eine Viertelsrente resp. halbe Rente, Dreiviertelsrente oder ganze Rente (Art. 28 Abs. 2 IVG in der bis Ende 2021 geltenden und hier anwendbaren Fassung [vgl. BGE 144 V 210 E. 4.3.1]). 
Für die Bestimmung des Invaliditätsgrades von erwerbstätigen Versicherten wird das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs. 1 Satz 1 IVG). 
 
3.  
 
3.1. Die IV-Stelle legte in der Verfügung vom 17. Dezember 2021 das Valideneinkommen des Jahres 2018 auf Fr. 79'863.- fest. Für das Invalideneinkommen hat sie auf der Grundlage eines Tabellenlohnes der Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik (LSE 2018, Tabelle TA1, Kompetenzniveau 1, Total, Männer) Beträge von Fr. 47'437.- ab dem 1. Juni 2018 und von Fr. 54'214.- ab dem 1. Juli 2018 ermittelt. Daraus resultierten Invaliditätsgrade von 41 und 32 %.  
 
3.2. Die Vorinstanz hat einzig die Festsetzung des Invalideneinkommens überprüft. Sie hat folgende Arbeiten als leidensangepasst betrachtet: körperlich leichte Tätigkeiten in temperierten Räumen, abwechselnd sitzend und stehend, ohne häufig inklinierte, reklinierte und rotierte Körperhaltungen, ohne erhöhte emotionale Belastung, Stressbelastung und geistige Flexibilität, ohne vermehrte Kundenkontakte und überdurchschnittliche Dauerbelastung. Sie hat festgestellt, solche Arbeiten seien dem Beschwerdeführer bei voller Stundenpräsenz zu 70 % (Juni 2017 bis Juni 2018) resp. zu 80 % (ab Juli 2018) zumutbar gewesen. Die leidensbedingten Einschränkungen seien im Profil einer angepassten Tätigkeit bereits berücksichtigt, weshalb sie nicht zusätzlich unter dem Aspekt des leidensbedingten Abzugs vom Tabellenlohn in Anschlag gebracht werden dürften. Ob aufgrund des Aufenthaltsstatus des Beschwerdeführers (Aufenthaltsbewilligung B) ein Abzug angezeigt wäre, hat sie offengelassen mit dem Hinweis, dass auch ein Abzug von 10 % nichts am Ergebnis ändern würde. Folglich hat das kantonale Gericht die Rentenzusprache gemäss Verfügung vom 17. Dezember 2021 bestätigt.  
 
3.3. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz hätte vom Tabellenlohn mindestens 15 % abziehen müssen. Einerseits sei die Teilzeitarbeit zu berücksichtigen; anderseits seien ihm nur noch körperlich leichte Tätigkeiten eingeschränkt zumutbar.  
 
4.  
 
4.1. Wird das Invalideneinkommen auf der Grundlage von statistischen Lohndaten wie namentlich der LSE ermittelt, ist unter der hier anwendbaren, bis Ende 2021 geltenden Rechtslage jeweils vom sogenannten Zentralwert (Median) auszugehen (BGE 148 V 174 E. 6.2; 126 V 75 E. 3b/bb; Urteil 8C_58/2021 vom 30. Juni 2021 E. 4.1.1).  
Weiter ist der so erhobene Ausgangswert allenfalls zu kürzen. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad, Auswirkungen auf die Lohnhöhe haben können, und die versicherte Person je nach Ausprägung deswegen die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann (BGE 135 V 297 E. 5.2; 126 V 75 E. 5b/aa i.f.). Der Abzug soll aber nicht automatisch erfolgen. Er ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen und darf 25 % nicht übersteigen (BGE 135 V 297 E. 5.2; 134 V 322 E. 5.2; 126 V 75 E. 5b/bb-cc). Die bisherige Rechtsprechung gewährt insbesondere dann einen Abzug vom Invalideneinkommen, wenn eine versicherte Person selbst im Rahmen körperlich leichter Hilfsarbeitertätigkeit in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist. Allfällige bereits in der Beurteilung der medizinischen Arbeitsfähigkeit enthaltene gesundheitliche Einschränkungen dürfen nicht zusätzlich in die Bemessung des leidensbedingten Abzugs einfliessen und so zu einer doppelten Anrechnung desselben Gesichtspunkts führen (BGE 148 V 174 E. 6.3; 146 V 16 E. 4.1). Dem Abzug kommt als Korrekturinstrument bei der Festsetzung eines möglichst konkreten Invalideneinkommens überragende Bedeutung zu (BGE 148 V 174 E. 9.2.2 und 9.2.3). 
 
4.2. O b ein behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter Abzug vom Tabellenlohn vorzunehmen ist, ist eine vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage. Dagegen ist die Höhe des Abzugs eine Ermessensfrage und daher letztinstanzlich nur bei Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung korrigierbar (BGE 148 V 174 E. 6.5; 146 V 16 E. 4.2).  
 
4.3.  
 
4.3.1. Laut den unbestritten gebliebenen und für das Bundesgericht verbindlichen (vgl. vorangehende E. 1) vorinstanzlichen Feststellungen sind dem Beschwerdeführer nur noch körperlich leichte (Hilfs-) Arbeiten zumutbar. Dabei ist er zu 20 resp. 30 % in seiner Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Dem ist rechtsprechungsgemäss (vgl. vorangehende E. 4.1) mit einem leidensbedingten Abzug Rechnung zu tragen. Entgegen der vorinstanzlichen Auffassung werden dadurch die qualitativen Anforderungen an eine zumutbare Tätigkeit nicht doppelt berücksichtigt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass bei entsprechenden Einschränkungen in der Regel mit einer erheblichen Lohneinbusse im Vergleich zum Tabellenlohn (Medianwert) gerechnet werden muss.  
 
4.3.2. Aus der Tabelle T12_b der LSE 2018 ergibt sich, dass in diesem Jahr Männer der Kategorie "ohne Kaderfunktion" und mit Aufenthaltsbewilligung B - wozu der Beschwerdeführer laut vorinstanzlicher Feststellung zählt - im Vergleich zum Total von Schweizern und Ausländern der gleichen Kategorie einen um 13,26 % geringeren Lohn erzielten. Dieser Umstand ist im Rahmen des Abzugs zu berücksichtigen.  
 
4.3.3. Das kantonale Gericht hat verbindlich (vorangehende E. 1) festgestellt, dem Versicherten sei eine " volle Stundenpräsenz" zumutbar. Der Beschwerdeführer macht denn auch nicht geltend, aufeine Teilzeitarbeit angewiesen zu sein. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist bei Männern ein Abzug vom Tabellenlohn unter dem Titel Beschäftigungsgrad allenfalls bei einer gesundheitlich bedingten Teilzeiterwerbstätigkeit, nicht aber bei einer Vollzeiterwerbstätigkeit mit gesundheitlich bedingt eingeschränkter Leistungsfähigkeit gerechtfertigt (statt vieler Urteile 9C_407/2019 vom 28. August 2019E. 4.4.1; 9C_232/2019 vom 26. Juni 2019 E. 3.1; 9C_38/2019 vom 9. Mai 2019 E. 3.5; 8C_403/2017 vom 25. August 2017 E. 4.3; je mit Hinweisen). Ernsthafte Gründe für eine Abkehr von d ieser Rechtsprechung (vgl. zu den Voraussetzungen für eine Praxisänderung BGE 145 V 304 E. 4.4; 141 II 297 E. 5.5.1) macht der Beschwerdeführer nicht geltend. Demnach ist in concreto kein "Teilzeitabzug" angezeigt.  
 
 
4.4. Soweit die Vorinstanz - im Sinne einer Eventualbegründung - einzig mit Blick auf den Aufenthaltsstatus einen Abzug von 10 % gewährt hat, hat sie nicht alle relevanten Aspekte (vgl. vorangehende E. 4.3.1) berücksichtigt und dadurch ihr Ermessen unterschritten. Dem Beschwerdeführer ist beizupflichten, dass der Abzug bei gesamthafter Betrachtung - auch wenn keine weiteren einschlägigen Merkmale geltend gemacht werden oder ersichtlich sind - auf mindestens 15 % festzusetzen ist. Damit sind die Invalideneinkommen auf (höchstens) Fr. 40'321.- und Fr. 46'082.- festzusetzen, woraus (beim unveränderten Valideneinkommen von Fr. 79'863.-) Invaliditätsgrade von (gerundet) 50 % und 42 % resultieren. Damit hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine halbe Invalidenrente vom 1. Juni bis zum 30. September 2018 und auf eine Viertelsrente ab dem 1. Oktober 2018. Die Beschwerde ist begründet.  
 
5.  
 
5.1. Dem Prozessausgang entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).  
 
5.2. Die Sache ist zur Neuverlegung der Kosten und Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 23. Juni 2022 wird aufgehoben, und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 17. Dezember 2021 wird insoweit abgeändert, als der Beschwerdeführer Anspruch auf eine halbe Invalidenrente vom 1. Juni bis zum 30. September 2018 und auf eine Viertelsrente ab dem 1. Oktober 2018 hat. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, dem Bundesamt für Sozialversicherungen und der B.________, Steinach, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 4. November 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann