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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_335/2022  
 
 
Urteil vom 2. März 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Adrian Rufener, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Unfallversicherung (Wiedererwägung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. April 2022 (UV 2021/53). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1955 geborene A.________ stand im Jahr 1995 bei der B.________ AG in einem Arbeitsverhältnis und war dadurch obligatorisch bei der damaligen Berner Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft AG (inzwischen: Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft AG; nachfolgend: Allianz) unfallversichert. Gemäss Unfallmeldung vom 12. Oktober 1995 stolperte A.________ am 28. September 1995 beim Einkaufen über einen Stein, knickte mit dem rechten Fuss um und fiel auf die linke Körperseite. In der Folge klagte sie über Rückenschmerzen. Der Unfallversicherer erbrachte Taggelder und übernahm die Kosten der Heilbehandlung.  
 
Nach Abklärungen in medizinischer Hinsicht stellte die Allianz die Versicherungsleistungen mit Verfügung vom 24. November 1997 ab 14. November 1995 ein. Ausserdem forderte sie ebenfalls mit Verfügung vom 24. November 1997 die aus ihrer Sicht zu Unrecht erbrachten Taggeldleistungen für die Dauer vom 14. November 1995 bis 30. September 1997 zurück. A.________ erhob Einsprache, woraufhin der Unfallversicherer bei Prof. Dr. med. C.________, Wirbelsäulen- und Rückenmarkschirurgie, ein Gutachten vom 8. Februar 2000 sowie eine ergänzende Stellungnahme vom 22. Mai 2000 einholte. Mit Einspracheentscheid vom 11. Dezember 2000 hob die Allianz die Verfügung vom 24. November 1997 auf und anerkannte ihre Leistungspflicht ab 14. November 1995. Ebenfalls hob sie die Rückforderungsverfügung vom 24. November 1997 auf.  
 
Am 14. November 2001 sprach der Unfallversicherer A.________ eine Invalidenrente (Invaliditätsgrad: 59 %) ab 1. November 2001 zu und anerkannte einen Integritätsschaden von 15 %. 
 
A.b. Auf der Grundlage der Aktenbeurteilung ihres beratenden Arztes Dr. med. D.________, Facharzt für Rheumatologie, vom 29. Januar 2019 zog die Allianz die Verfügung vom 14. November 2001 in Wiedererwägung und stellte die Versicherungsleistungen auf den 31. Juli 2019 hin ein. Als Begründung hielt sie fest, gemäss Dr. med. D.________ sei seit längerer Zeit von einem Status quo sine auszugehen. Auf die Rückforderung der für August 2019 bereits ausbezahlten Rente verzichtete sie (Verfügung vom 31. Juli 2019). Daran hielt der Unfallversicherer mit Einspracheentscheid vom 15. Juni 2021 fest.  
 
B.  
Die dagegen erhobene Beschwerde der A.________ hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 27. April 2022 gut und hob den Einspracheentscheid vom 15. Juni 2021 auf. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Allianz die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sowie die Bestätigung des Einspracheentscheids vom 15. Juni 2021. 
A.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Die Allianz reicht eine Replik ein, woraufhin A.________ eine weitere Stellungnahme ins Recht legt. Das Bundesamt für Gesundheit lässt sich nicht vernehmen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen).  
 
1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).  
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz bundesrechtskonform einen Wiedererwägungsgrund verneint und folglich zu Recht den Einspracheentscheid vom 15. Juni 2021 aufgehoben hat.  
 
2.2. Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Überprüfung gebildet haben, zurückkommen, wenn diese nach damaliger Sach- und Rechtslage zweifellos unrichtig sind, und - was auf periodische Dauerleistungen regelmässig zutrifft (vgl. BGE 119 V 475 E. 1c) - ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. In diesem Sinn dient die Wiedererwägung der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Feststellung bei der Würdigung des Sachverhalts, insbesondere bei klarer Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes. Zweifellose Unrichtigkeit meint dabei, dass kein vernünftiger Zweifel an der (von Beginn weg bestehenden) Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also einzig dieser Schluss denkbar ist (BGE 148 V 195 E. 5.3; 138 V 324 E. 3.3). Soweit ermessensgeprägte Teile der Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage einschliesslich der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung in vertretbarer Weise beurteilt worden sind, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus (BGE 141 V 405 E. 5.2). Bei der Annahme zweifelloser Unrichtigkeit im Bereich der invaliditätsmässigen Leistungsvoraussetzungen ist daher Zurückhaltung geboten (Urteile 9C_994/2010 vom 12. April 2011 E. 3.2.1, in: SVR 2011 IV Nr. 71 S. 213; 8C_784/2020 vom 18. Februar 2021 E. 2.2). Ansonsten würde die Wiedererwägung zum Instrument einer voraussetzungslosen Neuprüfung des Anspruchs, was sich nicht mit dem Wesen der Rechtsbeständigkeit formell zugesprochener Dauerleistungen verträgt (Urteil 9C_819/2017 vom 13. Februar 2018 E. 2.2 mit weiteren Hinweisen).  
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz prüfte, ob die Bejahung der natürlichen Kausalität zwischen der Erwerbsunfähigkeit und dem Unfallereignis vom 28. September 1995 im Zeitpunkt der Verfügung vom 14. November 2001 vertretbar gewesen sei. Dazu erkannte sie, die der ursprünglichen Rentenverfügung zugrunde liegende Annahme, aus somatischer Sicht sei die Traumatisierung der Spondylarthrose weiterhin mitursächlich für den Gesundheitsschaden und für die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit geblieben, könne mit Blick auf die medizinische Aktenlage nicht als zweifellos unrichtig bezeichnet werden. Daran ändere auch die knapp 20 Jahre später ergangene Einschätzung des Dr. med. D.________ nichts. Diese sei nicht geeignet, das Erreichen des Status quo sine spätestens bis zum Zeitpunkt der ursprünglichen Rentenverfügung mit einer Überzeugungskraft nachzuweisen, welche die damalige Annahme des Unfalls als eine fortbestehende Teilursache als schlechterdings unvertretbar erscheinen liesse. Darüber hinaus habe es sich um eine objektivierbare Ursache gehandelt, weshalb im Zeitpunkt der Rentenprüfung keine besondere Adäquanzprüfung notwendig gewesen sei.  
 
Im Weiteren legte das kantonale Ger icht dar, es sei vertretbar gewesen, dass die Allianz für die Bestimmung des Invalideneinkommens bei der Beschwerdegegnerin von einer 50%igen Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit als Bürokraft ausgegangen sei. 
 
3.2. Die Erwägungen der Vorinstanz zur Adäquanzprüfung wie auch die von ihr verneinte zweifellose Unrichtigkeit in Bezug auf die Bemessung des Invalideneinkommens bestreitet die Allianz letztinstanzlich nicht mehr, weshalb sich Weiterungen dazu erübrigen.  
Sie bringt jedoch vor, das kantonale Gericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass das Gutachten des Prof. Dr. med. C.________ vom 8. Februar 2000 beweiswertig und gestützt darauf erwiesen sei, die von der Beschwerdegegnerin geklagten Einschränkungen stünden auch über die Leistungseinstellung hinaus in natürlichem Kausalzusammenhang mit dem Unfallereignis vom 28. September 1995. Die am 31. Juli 2019 wiedererwägungsweise Aufhebung der Verfügung vom 14. November 2001 wegen zweifelloser Unrichtigkeit und die Einstellung der Leistungen ex nunc et pro futuro seien rechtens. 
 
4.  
 
4.1. Wie bereits die Vorinstanz festgehalten hat, liegen mehrere fachmedizinische Einschätzungen in den Akten, die im objektivierbaren Gesundheitsschaden (und dessen Verlauf) nach dem Unfallereignis vom 28. September 1995 nicht bloss eine degenerative Genese erblickt, sondern diesen zumindest teilweise auf die traumatische Einwirkung zurückgeführt haben. So ist Dr. med. E.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie, im Gutachten vom 26. März 1997 davon ausgegangen, dass die strukturellen Veränderungen erst im Verlauf nach dem Unfallereignis deutlich geworden seien. Der aktuelle Befund der Spondylolyse und der Spondylolisthesis sei eindeutig und in der Anfangsphase nach dem Unfallereignis nicht signifikant vorhanden gewesen. Unter anderem das nach dem Sturz aufgetretene Wirbelgleiten lasse doch den dringenden Verdacht zu, dass durch das Trauma eine erhebliche Lockerung im möglicherweise zuvor schon vorhandenen Lysebereich zustande gekommen sei ("wegweisende Verschlechterung eines möglicherweise vorbestehenden Leidens"; vgl. ergänzende Beurteilung vom 6. Mai 1998). Auch Dr. med. F.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie, hat am 22. April 1998 von einer Traumatisierung der (vorbestehenden) Spondylarthrose sowie von einer richtunggebenden Verschlechterung berichtet.  
In der Folge hat auch Prof. Dr. med. C.________, Wirbelsäulenexperte der Klinik G.________, in seiner Expertise vom 8. Februar 2000 konstatiert, dass der Unfall die Rückenbeschwerden ausgelöst habe, "die bis jetzt anhalten". Aus seiner Sicht ist mit Blick auf die bildgebenden Untersuchungsergebnisse vom 12. Dezember 1996 der Verdacht auf eine Spondylose naheliegend gewesen. Auf der Basis seiner Abklärungen und unter Berücksichtigung der damaligen Akten hat er - wie auch in seiner späteren Einschätzung vom 22. Mai 2000 - auf eine "partielle traumatische Kausalität" geschlossen. 
 
4.2. Der Verfügung vom 14. November 2001 hat mithin ein fachärztlich abgeklärter Sachverhalt zugrunde gelegen. Das kantonale Gericht ist diesbezüglich zu Recht davon ausgegangen, dass von weiteren Untersuchungen keine neuen Erkenntnisse mehr zu erwarten gewesen wären. In Anbetracht des Gesagten wie auch mit Blick darauf, dass die Würdigung der medizinischen Unterlagen damals mit einem gewissen Ermessen verbunden war, kann bei der Rentenzusprache im Jahr 2001 unter Berücksichtigung der gebotenen Zurückhaltung weder eine klare Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes noch eine sonstige Rechtsverletzung ausgemacht werden (vgl. E. 2.2 oben).  
 
Soweit die Allianz auf die Stellungnahme ihres beratenden Arztes, Dr. med. D.________, vom 29. Januar 2019 hinweist, kann sie daraus nichts zu ihren Gunsten ableiten. Einerseits ist dessen Kritik nicht derart, dass sie die Rentenzusprache als qualifiziert unrichtig erscheinen lässt, wie dies für eine Wiedererwägung erforderlich wäre. Anderseits hat Dr. med. D.________ zwar Zweifel an einer richtunggebenden Verschlimmerung durch das Ereignis vom 28. September 1995 geäussert; allerdings hat er dies aus heutiger medizinisch-rheumatologischer Sicht getan. Selbst wenn angenommen wird, dass das Gutachten des Prof. Dr. med. C.________ vom 8. Februar 2000 (inkl. Stellungnahme vom 22. Mai 2000) aus heutiger Sicht nicht in allen Teilen zu überzeugen vermag, wie die Allianz rügt, ist die Rentenzusprache nicht zweifellos unrichtig gewesen. Das Vorgehen der Allianz im Rahmen der Wiedererwägung kommt einer unzulässigen voraussetzungslosen Neuprüfung des Rentenanspruchs gleich. 
Zusammenfassend hat die Vorinstanz einen Wiedererwägungsgrund verneint und den Einspracheentscheid vom 15. Juni 2021 aufgehoben, ohne dabei Bundesrecht zu verletzen. 
 
4.3. Bei diesem Ergebnis kann die zwischen den Parteien strittige Frage, ob es sich bei der Verfügung vom 14. November 2001 betreffend die Frage der Unfallkausalität um einen Vergleich gehandelt hat oder nicht, offen bleiben. Ist, wie im vorliegenden Fall, die zweifellose Unrichtigkeit der damaligen Rentenzusprache zu verneinen, würde sich daran erst recht nichts ändern, wenn es sich um einen Vergleich gehandelt hätte. Denn unter dieser Voraussetzung wären gar noch höhere Anforderungen an die zweifellose Unrichtigkeit zu stellen (BGE 140 V 77 E. 3.2.2; 138 V 147 E. 2.3; Urteile 8C_182/2021 vom 9. November 2021 E. 2.2.3; 8C_86/2020 vom 14. Mai 2020 E. 4.2).  
 
5.  
Dem Verfahrensausgang entsprechend hat die unterliegende Allianz die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG) und darüber hinaus der Beschwerdegegnerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 2. März 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber