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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_162/2023  
 
 
Urteil vom 9. Oktober 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Métral, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Beat Rohrer, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, 
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Arbeitsunfähigkeit; Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 8. Februar 2023 (VBE.2022.322). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Der 1967 geborene A.________ arbeitete seit 2. August 2011 als Chauffeur bei der B.________ AG. Am 24. November 2012 meldete er sich bei der IV-Stelle des Kantons Aargau zum Leistungsbezug an. Da er am 15. August 2013 eine neue Arbeitsstelle als Fahrer angetreten hatte, beendete die IV-Stelle am 14. Februar 2014 die ihm gewährten Integrationsmassnahmen.  
 
A.b. Am 2. November 2017 meldete sich der Versicherte erneut bei der IV-Stelle zum Leistungsbezug an. Diese holte u.a. ein interdisziplinäres Gutachten des Zentrums für Medizinische Begutachtungen (ZMB), Basel, vom 5. Juli 2021 mit Ergänzung vom 20. Januar 2022 ein. Mit Verfügung vom 18. Juli 2022 verneinte sie den Rentenanspruch, da der Invaliditätsgrad 36 % betrage.  
 
B.  
Die hiergegen vom Versicherten erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Urteil vom 8. Februar 2023 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, in Aufhebung des kantonalen Urteils sei ihm eine ganze Invalidenrente zuzusprechen. Eventuell sei die Sache zu ergänzenden Abklärungen und neuem Entscheid an die Vorinstanz oder an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung, wobei Erstere auf Beschwerdeabweisung schliesst. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2). 
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
Rechtsfrage ist, ob die rechtserheblichen Tatsachen vollständig festgestellt und ob der Untersuchungsgrundsatz bzw. die Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG beachtet wurden. Gleiches gilt für die Frage, ob die Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1) erfüllt wurden. Bei den aufgrund dieser Berichte getroffenen Feststellungen zum Gesundheitszustand sowie zur Arbeitsfähigkeit und bei der konkreten Beweiswürdigung geht es um Sachverhaltsfragen (nicht publ. E. 1 des Urteils BGE 142 V 342, veröffentlicht in SVR 2016 IV Nr. 41 S. 131). 
 
2.  
Streitig ist, ob die vorinstanzlich bestätigte Verneinung des Rentenanspruchs vor Bundesrecht standhält. 
 
2.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Entsprechend den allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsätzen (vgl. BGE 144 V 210 E. 4.3.1) ist nach der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Rechtslage zu beurteilen, ob bis zu diesem Zeitpunkt ein Rentenanspruch entstanden ist. Zwar erging die dem hier angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erst nach dem 1. Januar 2022. Indessen steht zur Diskussion, ob davor ein Rentenanspruch entstanden ist. Damit beurteilt sich die vorliegende Streitigkeit allein nach der bis zum 31. Dezember 2021 geltenden Rechtslage, wie die Vorinstanz richtig erkannt hat.  
 
2.2. Die Vorinstanz hat die rechtlichen Grundlagen und die Rechtsprechung betreffend die Invaliditätsbemessung nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG), den Begriff des hierbei massgebenden ausgeglichenen Arbeitsmarkts (BGE 134 V 64 E. 4.2.1, 457 E 3.1; vgl. auch BGE 148 V 174 E. 9.1) sowie den Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten (Art. 44 ATSG; E. 1 hiervor; BGE 135 V 465 E. 4.4, 125 V 351 E. 3a und E. 3b/bb) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.  
 
2.3. Zu ergänzen ist, dass der Zweck polydisziplinärer Gutachten darin besteht, alle relevanten gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu erfassen und die sich daraus je einzeln ergebenden Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit in ein Gesamtergebnis zu bringen. Der abschliessenden, gesamthaften Beurteilung von Gesundheitszustand und Arbeitsfähigkeit kommt damit dann grosses Gewicht zu, wenn sie auf der Grundlage einer Konsensdiskussion der an der Begutachtung mitwirkenden Fachärzte erfolgt (BGE 143 V 124 E. 2.2.4, 137 V 210 E. 1.2.4). Ob sich die einzelnen, aus mehreren Behinderungen resultierenden Einschränkungsgrade summieren und in welchem Masse, betrifft eine spezifisch medizinische Problematik und Einschätzung, von der das Gericht grundsätzlich nicht abrückt (vgl. BGE 137 V 210 E. 3.4.2.3; Urteil 8C_547/2022 vom 1. März 2023 E. 2.3).  
 
3.  
In medizinischer Hinsicht erwog die Vorinstanz im Wesentlichen, das interdisziplinäre (internistische, orthopädische, gastroenterologische) ZMB-Gutachten vom 5. Juli 2021 mit Ergänzung vom 20. Januar 2022 erfülle die praxisgemässen Anforderungen an beweiskräftige Entscheidungsgrundlagen. Gestützt hierauf sei davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer die angestammte Tätigkeit seit Juni 2019 nicht mehr zumutbar sei. In einer angepassten Tätigkeit bestehe eine Verminderung des Rendements von 30 %. Weiter zeigte die Vorinstanz auf, weshalb die Einwände des Beschwerdeführers an diesem Ergebnis nichts zu ändern vermöchten. 
 
4.  
 
4.1. Der Beschwerdeführer wendet ein, das ZMB-Gutachten vom 5. Juli 2021 sei hinsichtlich der diagnostizierten Diarrhoe widersprüchlich. Einerseits sei unter Berufung auf die von ihm aufgelegte Fotodokumentation wiederholt festgehalten worden, es könnten zehn bis 15 Stuhlgänge pro 24 Stunden objektiviert werden. An anderer Stelle des ZMB-Gutachtens sei davon abweichend angegeben worden, die Intervalle zwischen den einzelnen Stuhlgängen könnten "auf drei bis vier Stunden angesetzt werden", was lediglich sechs bis acht Stuhlgängen pro 24 Stunden entspräche. Die ergänzende Stellungnahme des gastroenterologischen ZMB-Gutachters Dr. med. C.________ vom 20. Januar 2022 vermöge diese Diskrepanz nicht aufzulösen. Widersprüchlich sei das ZMB-Gutachten auch bezüglich der möglichen Diarrhoe-Therapien. Im gastroenterologischen ZMB-Gutachten vom 5. Juli 2021 habe Dr. med. C.________ nämlich festgehalten, die Intervalle zwischen den Stuhlgängen hätten einzig durch die Einnahme von Tinctura opii verlängert werden können. An anderer Stelle habe er aber angegeben, die Option einer solchen Therapie müsse aufgrund der früheren Drogensucht "äusserst zurückhaltend formuliert werden". Es sei mithin nicht nachvollziehbar, weshalb Dr. med. C.________ am 20. Januar 2022 zum Schluss gekommen sei, die Therapie mit Tinctura opii sei legitimiert. Vielmehr habe der Beschwerdeführer vorinstanzlich dargelegt, dass er 2019 die tägliche Einnahme von Tinctura opii habe absetzen müssen, da sich eine Abhängigkeit einzustellen begonnen habe. Nur noch ausnahmsweise vor wichtigen Terminen nehme er Tinctura opii ein. Ausführungen zur Zumutbarkeit dieser Therapie fehlten im interdisziplinären ZMB-Gutachten.  
 
4.2. Die Vorinstanz hat aufgezeigt, dass Dr. med. C.________ in der Stellungnahme vom 20. Januar 2022 dem Gutachten vom 5. Juli 2021 nicht widersprochen, sondern dieses konkretisiert habe. Gestützt hierauf bestünden zwischen den einzelnen Stuhlgängen des Beschwerdeführers Intervalle von drei bis vier Stunden, was durch Spasmolytika weiter beherrscht werden könne. Diese Einschätzung gelte laut Dr. med. C.________ ohne die Verwendung des Medikaments Tinctura opii. Die Vorbringen des Beschwerdeführers lassen dieses vorinstanzliche Ergebnis weder in tatsächlicher Hinsicht als offensichtlich unrichtig noch sonstwie als bundesrechtswidrig erscheinen (vgl. auch E. 6.1 hiernach).  
 
5.  
 
5.1. Der Beschwerdeführer macht weiter im Wesentlichen geltend, gemäss dem gastroenterologischen ZMB-Gutachten vom 5. Juli 2021 sei er aufgrund der Leberzirrhose in leichten Tätigkeiten zu 30 % und in mittelschweren bis schweren Tätigkeiten zu 50 % arbeitsunfähig. Dass Letzteres im interdisziplinären ZMB-Gutachten vom 5. Juli 2021 nicht erwähnt worden sei, sei nicht nachvollziehbar. Zudem sei die Leberzirrhose im interdisziplinären ZMB-Gutachten nicht nur bei den Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit, sondern in widersprüchlicher Weise auch bei denjenigen ohne Auswirkung auf diese aufgeführt worden. Weiter sei im orthopädischen ZMB-Gutachten festgehalten worden, die angepassten Tätigkeiten seien ihm "vollschichtig" zumutbar, wobei keine zeitliche Leistungsverminderung angegeben werde. Dies sei offenbar unrichtig, da im interdisziplinären ZMB-Gutachten die Einschränkung seiner Arbeitsfähigkeit u.a. mit "degenerativen Veränderungen im Bewegungssystem bei verlangsamten Bewegungsabläufen" begründet worden sei. Vor allem sei es aber widersprüchlich und nicht schlüssig, dass seine generelle Rendementsverminderurg gemäss dem interdisziplinären ZMB-Gutachten vom 5. Juli 2021 nur 30 % betragen solle. Denn der Gastroenterologe Dr. med. C.________ habe in seinem Gutachten angegeben, allein schon aufgrund der Leberzirrhose bestehe eine Leistungsverminderung von 30 % in sämtlichen Arbeitsprofilen. Weiter habe er in der Stellungnahme vom 20. Januar 2022 die aus der Diarrhoe resultierende Einschränkung auf 20 % festgelegt. Somit sei die Rendementsverminderung aufgrund der Diarrhoe in derjenigen wegen der Leberzirrhose nicht enthalten, sondern trete - in Form von vermehrtem Pausenbedarf zum Aufsuchen sanitärer Einrichtungen - hinzu. Folglich resultiere gemäss den ZMB-Einschätzungen eine Leistungseinschränkung von 50 %.  
 
5.2.  
 
5.2.1. Aus der interdisziplinären Gesamtbeurteilung (Konsensbeurteilung) der ZMB-Gutachter vom 5. Juli 2021 geht hervor, dass bei der Bemessung der Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers die chronische Diarrhoe, die Leberzirrhose, das iliolumbospondylogene Syndrom und das chronische Schultersyndrom beidseits berücksichtigt wurden. Interdisziplinär kamen die ZMB-Gutachter zum Schluss, in angepassten leichten Tätigkeiten bestehe eine Verminderung des Rendements von 30 %. Widersprüche sind in dieser Einschätzung nicht zu erkennen.  
 
5.2.2. Dass die im gastroenterologsichen ZMB-Gutachten auf 50 % geschätzte Einschränkung in schweren Tätigkeiten im interdisziplinären ZMB-Gutachten nicht erwähnt wurde, ist nicht entscheidrelevant, da interdisziplinär davon ausgegangen wurde, der Beschwerdeführer könne aus somatischer Sicht angepasst nur leichte Tätigkeiten ausüben.  
 
5.2.3. Von der ärztlichen Bemessung der aus mehreren Behinderungen gesamthaft resultierenden Arbeitsunfähigkeit rückt das Gericht grundsätzlich nicht ab (siehe E. 2.3 hiervor). Es erscheint mithin weder in tatsächlicher Hinsicht als offensichtlich unrichtig noch sonstwie als bundesrechtswidrig, wenn die Vorinstanz davon ausging, der von Dr. med. C.________ in der Stellungnahme vom 20. Januar 2022 angegebene, wegen der Diarrhoe bestehende 20%ige Pausenbedarf für das Aufsuchen sanitärer Einrichtungen sei in der von den Gutachtern gesamthaft auf 30 % festgelegten Leistungsverminderung enthalten (vgl. E. 5.2.1 hiervor).  
 
6.  
 
6.1. Zusammenfassend vermag der Beschwerdeführer keine konkreten Indizien gegen die Zuverlässigkeit des interdisziplinären ZMB-Gutachtens vom 5. Juli 2021 samt Ergänzung vom 20. Januar 2022 aufzuzeigen (vgl. BGE 147 V 79 E. 8.1, 135 V 465 E. 4.4). Insbesondere ruft er auch keine Arztberichte an, die dieses Gutachten zu entkräften vermöchten. Vielmehr gibt er im Wesentlichen die eigene Sicht wieder, wie die medizinischen Akten zu würdigen und welche Schlüsse daraus zu ziehen seien. Dies genügt nicht, um die vorinstanzliche Beurteilung, die sich auf dieses Gutachten stützte, in Frage zu stellen (BGE 143 V 208 E. 6.3.2; Urteil 8C_508/2022 vom 24. Januar 2023 E. 7.1). Insgesamt ist es somit nicht bundesrechtswidrig, wenn die Vorinstanz gestützt auf das ZMB-Gutachten vom 5. Juli 2021 zum Schluss kam, seit Juni 2019 sei dem Beschwerdeführer die angestammte Tätigkeit nicht mehr zumutbar. In einer angepassten Tätigkeit bestehe eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit von 30 % (vgl. E. 3 hiervor).  
 
6.2. Da von weiteren medizinischen Abklärungen nach willkürfreier Einschätzung der Vorinstanz keine entscheidrelevanten Resultate zu erwarten waren, durfte sie davon absehen (Art. 29 Abs. 2 BV; antizipierte Beweiswürdigung; BGE 144 V 361 E. 6.5; Urteil 8C_715/2022 vom 8. März 2023 E. 8).  
 
7.  
Gegen den vorinstanzlich bestätigten Einkommensvergleich, der ausgehend von einer 30%igen Arbeitsunfähigkeit in leidensangepassten Tätigkeiten einen rentenausschliessenden Invaliditätsgrad von 36 % ergab, bringt der Beschwerdeführer keine Einwände vor, weshalb es damit sein Bewenden hat. 
 
8.  
Der unterliegende Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 9. Oktober 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar