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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_601/2023  
 
 
Urteil vom 22. März 2024  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Hurni, Kölz, 
Gerichtsschreiber Stadler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Ursula Weber, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, 
Postfach, 8036 Zürich, 
Beschwerdegegnerin, 
 
Roger Harris, 
c/o Bezirksgericht Zürich, 10. Abteilung, 
Einzelgericht, Postfach, 8036 Zürich. 
 
Gegenstand 
Ausstand, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts 
des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 20. Juli 2023 (UA230026-O/U/SBA). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl erliess am 6. Oktober 2021 gegen A.________ einen Strafbefehl wegen Nötigung im Zusammenhang mit einer Teilnahme an einer Aktion der Organisation "C.________". Nachdem A.________ gegen diesen Strafbefehl Einsprache eingelegt hatte, erhob die Staatsanwaltschaft Anklage beim Bezirksgericht Zürich. Mit Verfügung vom 26. Juli 2022 wurde die Hauptverhandlung angesetzt und zudem angekündigt, dass Vizepräsident Roger Harris der zuständige Einzelrichter sei (Verfahrensnummer GB220012). 
 
B.  
 
B.a. Am 29. September 2022 stellte die Staatsanwaltschaft beim Obergericht des Kantons Zürich ein Ausstandsgesuch gegen Einzelrichter Roger Harris. Dieser - so die Begründung - habe in einem parallel laufenden Verfahren (Verfahrensnummer GB220088) mit einem mehr oder weniger identischen Tatvorwurf die beschuldigte Person freigesprochen und an der Hauptverhandlung mit seinen Äusserungen den Eindruck erweckt, er werde in künftigen Fällen ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls gleich entscheiden.  
 
B.b. Mit Beschluss UA220042 vom 14. November 2022 hiess das Obergericht das Ausstandsgesuch gut. Auf Beschwerde von A.________ hin hob das Bundesgericht mit Urteil 1B_10/2023 vom 6. April 2023 den obergerichtlichen Beschluss auf und wies die Sache zur neuen Beurteilung an das Obergericht zurück, da es A.________ im Ausstandsverfahren hätte Parteistellung einräumen müssen.  
 
B.c. In Nachachtung des bundesgerichtlichen Rückweisungsentscheids lud das Obergericht A.________ zur Stellungnahme ein. Mit Eingabe vom 30. Mai 2023 nahm A.________ Stellung und beantragte, es sei die Tonbandaufnahme der Hauptverhandlung im Verfahren GB220088 beizuziehen, diese den Parteien zur Stellungnahme zuzustellen und hernach über das Ausstandsbegehren zu entscheiden. Eventualiter sei das Ausstandsbegehren abzuweisen. Mit Beschluss UA230026 vom 20. Juli 2023 hiess das Obergericht das Ausstandsgesuch (erneut) gut (Dispositiv-Ziffer 1).  
 
C.  
A.________ gelangt mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragt, Dispositiv-Ziffer 1 des vorinstanzlichen Beschlusses UA230026 vom 20. Juli 2023 sei aufzuheben und das Ausstandsgesuch der Staatsanwaltschaft gegen Vizepräsident Roger Harris sei abzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der angefochtene Beschluss stellt einen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid über ein Ausstandsbegehren dar. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen offen (Art. 78 Abs. 1 und Art. 92 BGG).  
 
1.2. Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG verlangt ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids. Die Beschwerdeführerin beantragt die Abweisung des von der Vorinstanz gutgeheissenen Ausstandsgesuchs der Staatsanwaltschaft gegen Einzelrichter Roger Harris. Eine Partei ist in ihrem Anspruch auf das verfassungsmässige Gericht nach Art. 30 Abs. 1 BV beeinträchtigt, wenn das Ablehnungsbegehren eines andern Prozessbeteiligten ohne stichhaltigen Grund gutgeheissen worden ist. Dementsprechend ist ein genügendes Rechtsschutzinteresse der Beschwerdeführerin im bundesgerichtlichen Verfahren zu bejahen (BGE 149 I 153 E. 1; 137 I 340 E. 2.2.1; 108 Ia 48 E. 1; Urteile 1B_15/2020 vom 30. März 2020 E. 1; 1P.726/2003 vom 30. Januar 2004 E. 1.3).  
 
1.3. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist einzutreten.  
 
2.  
Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz verletze Art. 56 StPO, Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK, indem sie das Ausstandsbegehren gegen Einzelrichter Roger Harris gutheisse, obwohl dieser weder befangen sei noch den Anschein der Befangenheit erwecke. 
 
2.1. Nach Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II hat jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Justizpersonen ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird. Dies soll zu der für einen korrekten und fairen Prozess erforderlichen Offenheit des Verfahrens beitragen und ein gerechtes Urteil ermöglichen (BGE 144 I 159 E. 4.3; 140 I 326 E. 5.1; 138 I 1 E. 2.2; 137 I 227 E. 2.1; je mit Hinweisen). Die grundrechtliche Garantie wird in Art. 56 StPO konkretisiert (BGE 148 IV 137 E. 2.2; 144 I 234 E. 5.2; 143 IV 69 E. 3.2).  
Eine in einer Strafbehörde tätige Person tritt, abgesehen von den in Art. 56 lit. a-e StPO genannten Fällen, in den Ausstand, wenn sie aus anderen Gründen, insbesondere wegen Freundschaft oder Feindschaft mit einer Partei oder deren Rechtsbeistand, befangen sein könnte (Art. 56 lit. f StPO). Die Garantie des verfassungsmässigen Richters wird verletzt, wenn bei objektiver Betrachtung der Anschein der Befangenheit oder die Gefahr der Voreingenommenheit besteht. Voreingenommenheit und Befangenheit werden nach der Rechtsprechung angenommen, wenn Umstände vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters oder die Richterin zu erwecken. Solche Umstände können in einem bestimmten Verhalten des betreffenden Richters oder in gewissen äusseren Gegebenheiten funktioneller und organisatorischer Natur liegen. Bei der Beurteilung solcher Gegebenheiten ist nicht auf das subjektive Empfinden einer Partei abzustellen. Das Misstrauen in die Unvoreingenommenheit muss vielmehr in objektiver Weise begründet erscheinen. Es genügt, wenn Umstände vorliegen, die bei objektiver Betrachtung den Anschein der Befangenheit bzw. der Voreingenommenheit erwecken. Für die Ablehnung wird nicht verlangt, dass der Richter oder die Richterin tatsächlich befangen ist (BGE 148 IV 137 E. 2.2; 147 I 173 E. 5.1; 143 IV 69 E. 3.2; je mit Hinweisen). 
Der Anschein der Befangenheit kann durch unterschiedlichste Umstände und Gegebenheiten erweckt werden. Dazu können nach der Rechtsprechung insbesondere vor oder während eines Prozesses abgegebene Äusserungen eines Richters zählen, die den Schluss zulassen, dass sich dieser bereits eine feste Meinung über den Ausgang des Verfahrens gebildet hat (BGE 137 I 227 E. 2.1; 134 I 238 E. 2.1 mit weiteren Hinweisen). Bloss ungeschickte Bemerkungen eines Richters lassen diesen nicht als befangen erscheinen, wenn sie sich nicht gegen eine Person richten und sofern es sich nicht um eine schwere Verfehlung handelt (BGE 127 I 196 E. 2d; 116 Ia 14 E. 6; Urteil 1B_434/2017 vom 4. Januar 2018 E. 5.2). 
 
2.2. Die Staatsanwaltschaft begründet ihr Ausstandsgesuch zusammengefasst damit, dass sie in einem parallel laufenden Verfahren mit einem in der Sache mehr oder weniger identischen Tatvorwurf wie gegenüber der Beschwerdeführerin den Strafbefehl ebenfalls dem Bezirksgericht Zürich überwiesen habe, worauf der Fall Bezirksrichter Roger Harris zugewiesen worden sei. Am 19. September 2022 habe Roger Harris diese Beschuldigte freigesprochen. In der Folge sei in der Online-Zeitung D.________ ein Artikel der Gerichtsberichterstatterin E.________ erschienen, in dem diese das Geschehen an der Hauptverhandlung und die Ausführungen von Roger Harris an der mündlichen Urteilseröffnung wiedergegeben habe. Mit den vor grossem Publikum und in Anwesenheit von Pressevertretern abgegebenen Äusserungen habe der Verfahrensbeteiligte den Eindruck erweckt, auch bei zukünftigen Verfahren gleich zu urteilen, ohne den einzelnen Fall im Detail in sachlicher und rechtlicher Hinsicht unbefangen zu prüfen. Es sei nicht zu erwarten, dass Roger Harris unbefangen ein Urteil fällen werde. Offenbar habe er eine vorgefasste Meinung und werde an dieser festhalten, auch wenn sie der ober- und bundesgerichtlichen Rechtsprechung diametral entgegenstehe. Dies zeigten auch seine Ausführungen im Rahmen des vorliegenden Ausstandsverfahrens auf.  
 
2.3. Die Vorinstanz erwägt zusammengefasst, die Tonaufnahme der Hauptverhandlung vom 19. September 2022 brauche nicht beigezogen zu werden, da einzig auf nicht umstrittene Umstände respektive Aussagen von Roger Harris abgestellt werden könne, welche dieser im Rahmen seiner Stellungnahmen im Ausstandsverfahren bestätigt habe. Roger Harris mache geltend, dass die Berichterstattung in der Zeitschrift D.________ nicht neutral sei respektive das von ihm Gesagte verkürzt wiedergebe. Er stelle jedoch nicht in Abrede, dass er betont habe, wie wichtig es sei, für seine Ansichten einzutreten, und dass er den Kindern der freigesprochenen Beschuldigten respektive Klimademonstrantin mitgeteilt habe, dass sie stolz auf ihre Mutter sein könnten. Dies - so die Vorinstanz - erwecke den Anschein, es fehle Roger Harris an der gebotenen Distanz. Des Weiteren mache er zwar geltend, an mündlichen Urteilseröffnungen (in den Verfahren GB220026 und GG220099, in denen er eine Klimademonstrantin respektive einen Klimademonstranten im Zusammenhang mit der Teilnahme an einer Aktion von "C.________" vom 20. Juni 2020 auf der Quaibrücke in Zürich freigesprochen habe) mitgeteilt zu haben, jeden Fall neu zu beurteilen. Hierbei habe er jedoch lediglich explizit Bezug auf den Tatbeitrag, die betroffenen Rechtsgüter und die Dauer der Teilnahme an einer Demonstration genommen. In der Folge habe er festgehalten: "Es ist jedoch noch einmal festzuhalten, dass selbstredend jeder Fall vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR zu beurteilen sein wird. Wenn dies auch zukünftig zu Freisprüchen führen wird, liegt das nicht an irgendeiner Einstellung des Richters, sondern an dessen Anwendung der massgeblichen Rechtsprechung des EGMR." Diese im Rahmen einer parteiöffentlichen Stellungnahme abgegebene Äusserung erwecke - so die Vorinstanz weiter - gerade mit Blick auf seine Äusserungen gegenüber den Kindern einer Freigesprochenen, den Anschein, dass Roger Harris nicht bereit sei, im Gerichtsverfahren betreffend die Beschwerdeführerin die rechtlichen Argumente aller Parteien zu prüfen respektive seine Auffassung betreffend die Rechtsprechung des EGMR jeweils aufs Neue zu hinterfragen. Der Verfahrensausgang erscheine somit nicht als offen.  
 
2.4. Die Gutheissung des Ausstandsgesuchs durch die Vorinstanz hält der Überprüfung durch das Bundesgericht jedenfalls im Ergebnis stand:  
Bei der im fraglichen D.________-Artikel thematisierten Gerichtsverhandlung vom 19. September 2022, welche in einen Freispruch gemündet hat, wurde die Teilnahme an einer Aktion von "C.________" vom 5. Oktober 2021 an der Uraniastrasse in Zürich beurteilt (Verfahren GB220088). Der Beschwerdeführerin wird die Teilnahme an einer Aktion derselben Organisation am 4. Oktober 2021 am selben Ort vorgeworfen (Verfahren GB220012). Vizepräsident Roger Harris hat im vorinstanzlichen Verfahren eingeräumt, im Rahmen der Urteilseröffnung im Verfahren GB220088 den Kindern der freigesprochenen Klimademonstrantin mitgeteilt zu haben, dass sie stolz auf ihre Mutter sein könnten. Dazu, dass er - an die damalige Beschuldigte gerichtet - gesagt habe "Lassen Sie sich nicht einschüchtern. Machen Sie weiter so", führte er aus, diese Passagen gäben das von ihm Gesagte "ziemlich verkürzt wieder". Er habe die Beschuldigte selbstverständlich nicht aufgefordert, künftig an irgendwelchen Kundgebungen teilzunehmen. Er habe Ausführungen dazu gemacht, dass es wichtig sei, für seine Ansichten einzustehen, solange dies gewaltfrei und im Rahmen des Erlaubten geschehe, und dass die meisten Menschen viel zu wenig Interesse zeigten an Politik und den Themen unserer Zeit, "sondern ihre Zeit lieber sinnlos hinter Bildschirmen vertun". 
Mit den dahingehenden Ausführungen hat sich Roger Harris aber vor Publikum mit der Freigesprochenen im Verfahren GB220088 gleichsam solidarisiert und dadurch - ob bewusst oder unbewusst - Erwartungen geweckt, die seine freie Meinungsbildung in einem ähnlich gelagerten zukünftigen Fall beeinträchtigen können. Die Äusserungen genügen, um unter den hier gegebenen besonderen Umständen den Anschein zu erwecken, Roger Harris sei nicht (mehr) in der Lage, das Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin, in welchem anhand eines praktisch wortgleichen Strafbefehls ein bis auf Ort, Datum und Uhrzeit beinahe identischer Tatvorwurf zu beurteilen sein wird, als Einzelrichter offen und nicht vorbestimmt anzugehen. Dass der erwähnte Freispruch, wie Roger Harris in seiner Stellungnahme ausführte, einzig deshalb erfolgt sei, "weil der Sachverhalt aufgrund der vorgelegten, äusserst rudimentären Beweismittel gar nicht erstellt werden konnte", verstärkt diesen Anschein eher, als dass es ihn entkräftet. 
Wenn die Vorinstanz bei dieser Sachlage Einzelrichter Roger Harris im Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin in den Ausstand versetzt, verletzt sie weder Bundes- noch Konventionsrecht. Soweit die Beschwerdeführerin in ihrer Beschwerdeschrift auf den in der Online-Zeitung D.________ erschienenen Artikel über die angeblichen Aussagen von Roger Harris Bezug nimmt, braucht darauf nicht näher eingegangen zu werden. 
 
3.  
Die Beschwerde ist abzuweisen. Die Gerichtskosten sind der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, Roger Harris und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 22. März 2024 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Der Gerichtsschreiber: Stadler