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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_247/2023  
 
 
Urteil vom 8. September 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterin Viscione, Bundesrichter Métral, 
Gerichtsschreiber Wüest. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung 
(Massnahme beruflicher Art; Prozessvoraussetzung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen 
vom 11. April 2023 (IV 2022/181). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1993 geborene A.________ meldete sich im Februar 2018 erstmals zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung (IV) an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen holte ein rheumatologisches Gutachten der Dr. med. B.________, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und Rheumatologie, ein (Expertise vom 29. April 2019). Gestützt darauf verneinte sie mit Mitteilung vom 21. Mai 2019 einen Anspruch der Versicherten auf berufliche Massnahmen. Mit unangefochten gebliebener Verfügung vom 14. April 2020 lehnte sie zudem - nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren - das Rentenbegehren ab.  
 
A.b. Am 9. Juni 2022 stellte A.________ ein neues Gesuch um Leistungen der IV. Mit Schreiben vom 15. Juni 2022 teilte ihr die IV-Stelle mit, mit der Neuanmeldung müsse glaubhaft gemacht werden, dass sich die medizinischen, beruflichen oder wirtschaftlichen Verhältnisse in einer für den Anspruch erheblichen Weise geändert hätten. Sie forderte die Versicherte daher auf, entsprechende Unterlagen vorzulegen, andernfalls werde auf die Neuanmeldung nicht eingetreten. A.________ reagierte weder auf diese Aufforderung noch auf den Vorbescheid vom 8. August 2022, mit dem die Ablehnung des Leistungsbegehrens angekündigt wurde. Mit Verfügung vom 3. Oktober 2022 entschied die IV-Stelle im Sinne des Vorbescheids.  
 
B.  
A.________ erhob gegen die Verfügung vom 3. Oktober 2022 Beschwerde und beantragte sinngemäss, es seien ihr berufliche Eingliederungsmassnahmen zu gewähren. Mit einzelrichterlich ergangenem Entscheid vom 11. April 2023 hiess das Versicherungsgericht St. Gallen die Beschwerde insofern teilweise gut, als es die Verfügung der IV-Stelle vom 3. Oktober 2022 mit Bezug auf den Nichteintretensentscheid betreffend berufliche Eingliederungsmassnahmen aufhob und die Sache zur materiellen Prüfung des Gesuchs an die IV-Stelle zurückwies. 
 
C.  
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und ihre Verfügung vom 3. Oktober 2022 zu bestätigen. 
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen beantragt sinngemäss die Abweisung der Beschwerde. A.________ reichte verschiedene Unterlagen ein, ohne einen Antrag zu stellen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob ein Rechtsmittel zulässig ist (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 145 V 380 E. 1 Ingress mit Hinweis). 
 
1.1. Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich um einen Rückweisungsentscheid. Die IV-Stelle wird darin angewiesen, auf die Neuanmeldung der Beschwerdegegnerin einzutreten und deren Begehren um berufliche Massnahmen materiell zu prüfen.  
 
1.2. Gemäss Rechtsprechung besteht in Fällen wie dem Vorliegenden kein nicht wiedergutzumachender Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG (SVR 2009 IV Nr. 14 S. 35, 9C_898/2007 E. 2.1; Urteile 8C_661/2022 vom 26. Juni 2023 E. 3.5; 9C_9/2022 vom 8. März 2022 E. 3.2.1; 9C_287/2020 vom 22. September 2020 E. 1.2.1; 8C_91/2019 vom 16. April 2019 E. 2.3). Denn die beschwerdeführende IV-Stelle wird lediglich angewiesen, auf die Neuanmeldung einzutreten und das Leistungsbegehren materiell zu behandeln. Verbindliche Anordnungen für die Durchführung dieser materiellrechtlichen Behandlung sind jedoch mit der Rückweisung nicht verknüpft (vgl. BGE 140 V 282). Der Rückweisungsentscheid führt damit bloss zu einer Verlängerung und Verteuerung des Verfahrens, was indes das Kriterium des nicht wiedergutzumachenden Nachteils praxisgemäss nicht erfüllt (BGE 140 V 282 E. 4.2 in fine mit Hinweisen). Ebenso wenig ist damit das Merkmal des bedeutenden Verfahrensaufwands gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG gegeben (Urteil 9C_287/2020 vom 22. September 2020 E. 1.2.1 mit Hinweisen).  
 
1.3. Im zur Publikation vorgesehenen Urteil 8C_661/2022 vom 26. Juni 2023 wich das Bundesgericht vom Prinzip der Nichtanhandnahme direkter Beschwerden gegen ungerechtfertigte Rückweisungsentscheide ab, da die Vorinstanz entgegen der langjährigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung in mehreren Fällen entschieden hatte, auf Neuanmeldungen betreffend berufliche Massnahmen Art. 87 Abs. 3 IVV nicht anzuwenden. Eine strikte Einzelfallbehandlung der Eintretensvoraussetzungen hätte es verunmöglicht, die Fehlpraxis der Vorinstanz zu korrigieren, weshalb das Bundesgericht auf die Beschwerde der IV-Stelle eintrat (vgl. E. 3.6.4 und E. 3.4 des zitierten Urteils). Aus den gleichen Gründen ist auch hier auf die Beschwerde der IV-Stelle einzutreten, ist doch die Ausgangslage identisch mit derjenigen im zitierten Urteil.  
 
2.  
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die IV-Stelle verpflichtete, auf das Gesuch der Beschwerdegegnerin um berufliche Massnahmen einzutreten.  
 
2.2. Der Nichteintretensentscheid der IV-Stelle in Bezug auf das Rentenbegehren blieb unangefochten, weshalb die Vorinstanz darauf nicht weiter einging. Auf Weiterungen kann auch hier verzichtet werden.  
 
2.3. Am 1. Januar 2022 traten im Zuge der Weiterentwicklung der IV die revidierten Bestimmungen des IVG sowie des ATSG in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535), dies mitsamt entsprechendem Verordnungsrecht. Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging nach dem 1. Januar 2022.  
Da die massgebenden Bestimmungen betreffend Voraussetzung des Glaubhaftmachens einer Änderung des Gesundheitszustands (Art. 87 Abs. 2 f. IVV [SR 831.201]) unverändert geblieben sind, stellen sich diesbezüglich keine intertemporalrechtlichen Fragen. 
 
3.  
 
3.1. Im bereits zitierten, zur Publikation vorgesehenen Urteil 8C_661/2022 vom 26. Juni 2023 gelangte das Bundesgericht zum Schluss, es bestünden keine triftigen Gründe für eine Abkehr von der langjährigen und konstanten Rechtsprechung, wonach auch bei einer Neuanmeldung für Eingliederungsmassnahmen eine anspruchserhebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse glaubhaft zu machen ist. Das gilt auch im hier zu beurteilenden Fall. Indem die Vorinstanz entschieden hat, auf eine Neuanmeldung für Eingliederungsmassnahmen nach vorgängiger rechtskräftiger Abweisung des Leistungsgesuchs sei voraussetzungslos einzutreten, hat sie Bundesrecht verletzt. Es kann auf die Erwägungen im Urteil 8C_661/2022 vom 26. Juni 2023 verwiesen werden.  
 
3.2. Auf eine Rückweisung der Sache zur Prüfung der Frage einer glaubhaft gemachten wesentlichen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse kann vorliegend - anders als im Urteil 8C_661/2022 vom 26. Juni 2023 - verzichtet werden. Denn die Beschwerdegegnerin hat weder im Anschluss an das Schreiben der IV-Stelle vom 15. Juni 2022 (vgl. Sachverhalt A.b) noch im Vorbescheidverfahren Unterlagen eingereicht, welche eine solche Veränderung hätten glaubhaft machen können. Da für die beschwerdeweise Überprüfung einer Nichteintretensverfügung der Sachverhalt massgebend ist, wie er sich der Verwaltung im Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung darstellte, kann der im kantonalen Beschwerdeverfahren eingereichte Bericht des Allgemeinmediziners Dipl. med. C.________ vom 28. Oktober 2022 für die Beurteilung der anspruchserheblichen Veränderung nicht berücksichtigt werden, wie auch die Vorinstanz zutreffend erkannt hat (BGE 130 V 64 E. 5.2.5; Urteil 8C_481/2020 vom 15. Dezember 2020 E. 4.1.3). Dasselbe gilt für die Stellungnahme desselben Arztes vom 30. Mai 2023 und den Bericht des Dr. med. D.________ vom 7. Juni 2023. Die beiden Beweismittel sind vorliegend auch deshalb nicht zu beachten, weil sie nach dem angefochtenen Entscheid entstanden sind (sog. echte Noven; vgl. Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 143 V 19 E. 1.2 mit Hinweisen).  
 
3.3. Nach dem Gesagten ist die IV-Stelle zu Recht nicht auf die Neuanmeldung der Beschwerdegegnerin betreffend Eingliederungsmassnahmen eingetreten. Ihre Beschwerde ist begründet.  
 
4.  
Auf die Erhebung von Gerichtskosten zu Lasten der unterliegenden Beschwerdegegnerin wird umständehalber verzichtet (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG). Der obsiegenden Beschwerdeführerin steht kein Anspruch auf Parteientschädigung zu (Art. 68 Abs. 3 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 11. April 2023 wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 3. Oktober 2022 bestätigt. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 8. September 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Wüest