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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_394/2011 
 
Urteil vom 1. September 2011 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident, 
Bundesrichter Aemisegger, Merkli, 
Gerichtsschreiber Bopp. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Kanton Zürich, Beschwerdeführer, vertreten durch die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, Postfach, 8090 Zürich, 
 
gegen 
 
Kanton Thurgau, Beschwerdegegner, vertreten durch die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Zürcherstrasse 323, 8510 Frauenfeld. 
 
Gegenstand 
Gerichtsstandskonflikt, 
 
Beschwerde gegen den Beschluss vom 15. Juli 2011 
des Bundesstrafgerichts, I. Beschwerdekammer. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Im Kanton Zürich wurde am 25. Mai 2009 eine Untersuchung gegen A.________ eröffnet, nachdem ein bereits rechtskräftig verurteilter Drogenkurier im Verlaufe einer am 22. Mai 2009 durchgeführten polizeilichen Befragung die Beschuldigte als seine Auftraggeberin und auch als vorgesehene Abnehmerin des von ihm transportierten Kokains bezeichnet hatte. 
 
Die Beschuldigte A.________ konnte gemäss Angaben von Seite des Kantons Zürich bereits zuvor im Rahmen einer Telefonkontrolle als Kokainlieferantin ermittelt werden, indem anlässlich einer am 12. Mai 2009 in Arbon/TG erfolgten Drogenübergabe der Verkauf von insgesamt ca. 300 kg Kokain nachgewiesen werden konnte. Die Kantonspolizei Thurgau verfasste aber offenbar erst am 25. August 2009 eine "Belastungsanzeige" zuhanden der Kantonspolizei und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Am 14. August 2010 eröffnete das Bezirksamt Frauenfeld gegen die Beschuldigte offenbar eine Strafuntersuchung wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz, nachdem durch Ermittlungen bekannt geworden war, dass Frau A.________ einem weiteren Abnehmer Kokain hätte liefern sollen. 
 
Mit Schreiben vom 14. Oktober 2010 gelangte der Kanton Zürich mittels Gerichtsstandsanfrage an den Kanton Thurgau, wobei dieser mit Schreiben vom 21. Oktober 2010 seine Zuständigkeit ablehnte. Am 2. Dezember 2010 gelangte der Kanton Zürich abermals an den Kanton Thurgau, welcher am 1. März 2011 wiederum seine Unzuständigkeit erklärte und die Übernahme des Strafverfahrens gegen die Beschuldigte A.________ ablehnte. Am 7. März 2011 gelangte der Kanton Thurgau schliesslich an die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich mit der Einladung zu einem Meinungsaustausch. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich lehnte am 16. Mai 2011 seine Zuständigkeit ab und beantragte bei der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau die Verfahrensübernahme. Am 27. Mai 2011 lehnte die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau die Zuständigkeit im Verfahren A.________ ab. 
 
Am 22. Juni 2011 gelangte die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich an die I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts mit dem Gesuch, die Strafbehörden des Kantons Thurgau seien für berechtigt und verpflichtet zu erklären, die der beschuldigten Person zur Last gelegten Straftaten zu verfolgen und zu beurteilen. Mit Beschluss vom 15. Juli 2011 ist die I. Beschwerdekammer auf das Gesuch nicht eingetreten. Sie hat im Wesentlichen erwogen, dass die am 1. Januar 2011 in Kraft getretene eidgenössische StPO den Kantonen zwar keine genau bestimmte Frist gebe, innerhalb welcher sie nach einem gescheiterten Meinungsaustausch die I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts anzurufen hätten. In Art. 40 Abs. 2 StPO würden sie jedoch verpflichtet, dies "unverzüglich" (bzw. "sans retard" bzw. "senza indugio") zu tun. Laut der zur Publikation vorgesehenen Rechtsprechung der I. Beschwerdekammer (TPF BG.2011.7 vom 17. Juni 2011, E. 2.2, angekündigt bereits mit Entscheid vom 1. Juni 2011, BG.2011.5, und wiederholt bestätigt) werde im Normalfall auf die 10-tägige Frist gemäss Art. 396 Abs. 1 StPO verwiesen. Ein Abweichen von dieser Frist sei nur unter besonderen, von den Gesuchstellern zu spezifizierenden Umständen möglich. Im vorliegenden Fall sei der Meinungsaustausch zwischen den betroffenen Kantonen am 27. Mai 2011 abgeschlossen worden. Das Gesuch an die I. Beschwerdekammer sei erst beinahe vier Wochen nach Abschluss des Meinungsaustauschs eingereicht worden und daher verspätet erfolgt. Gründe für ein nur ausnahmsweise mögliches Abweichen von der 10-tägigen Frist würden keine vorgebracht. Demgemäss könne auf das Gesuch nicht eingetreten werden. 
 
Dieser Beschluss ist mit der Rechtsmittelbelehrung versehen, dass gegen ihn kein ordentliches Rechtsmittel gegeben ist. 
 
2. 
Mit Eingabe vom 28. Juli 2011 gelangt die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich mit Beschwerde in Strafsachen bzw. aufsichtsrechtlicher Beschwerde ans Bundesgericht mit dem Antrag, der Beschluss vom 15. Juli 2011 sei aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten; evtl. sei sie abzuweisen. Die I. Beschwerdekammer verweist auf den angefochtenen Beschluss und im Übrigen darauf, dass gegen einen solchen Beschluss weder die Beschwerde in Strafsachen noch eine aufsichtsrechtliche Beschwerde zulässig sei. 
Mit Beschluss vom 2. August 2011 ist die I. Beschwerdekammer auf ein vom Kanton Zürich in der genannten Angelegenheit gestelltes Wiedererwägungsgesuch nicht eingetreten. Der Vollständigkeit halber hat sie ausgeführt, dass es sich bei der Bestimmung der massgeblichen Frist zur Einreichung eines Gesuchs seit Beendigung eines Meinungsaustauschs zwischen den Kantonen und allenfalls dem Bund gemäss Art. 40 Abs. 2 StPO nicht um eine Praxisänderung der I. Beschwerdekammer, sondern um die Auslegung einer neuen gesetzlichen Regelung handle, welche seit dem 1. Januar 2011 ihre Gültigkeit habe und - anders als die bisherige BStP, die keine Frist vorgesehen habe - dazu verpflichte, dass die betroffene Behörde bei einem Gerichtsstandskonflikt unverzüglich an das Bundesstrafgericht gelange. Die Auslegung von unverzüglich im Sinne von Art. 40 Abs. 2 StPO sei bereits mit Entscheid vom 1. Juni 2011 angekündigt worden (BG.2011.5). Gemäss der Rechtsprechung des Bundesstrafgerichts sei ein Abweichen von dieser 10-tägigen Frist unter besonderen, vom Gesuchsteller zu spezifizierenden Umständen möglich (BG.2011.14). Entgegen der vom Gesuchsteller in casu bekundeten Auffassung sei der angefochtene Beschluss der I. Beschwerdekammer somit weder willkürlich noch verletze er sonst wie Bundesrecht. 
 
3. 
Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit einer bei ihm eingereichten Beschwerde von Amtes wegen und mit freier Kognition (s. BGE 136 II 497 E. 3 S. 499 mit Hinweisen). 
 
3.1 Gegen Entscheide der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts ist die Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht unzulässig, soweit es sich nicht um Entscheide über Zwangsmassnahmen handelt (Art. 79 BGG). Diese Regelung ist im Rahmen der Einführung der neuen StPO unverändert geblieben. 
 
Eine Gerichtsstandsregelung stellt keine Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 79 BGG dar. Gerichtsstandskonflikte müssen im Interesse der Verfahrensbeschleunigung innert nützlicher Frist beendet werden, weshalb der Bundesgesetzgeber dafür seit jeher eine einzige Bundesinstanz mit abschliessender Kompetenz festgelegt hat; früher war es die Anklagekammer des Bundesgerichts, seit 2007 ist es die I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts. So hat denn das Bundesgericht auch schon im Rahmen des nunmehr durch StPO und StBOG abgelösten Bundesstrafgerichtsgesetzes festgehalten, dass gemäss Art. 28 Abs. 1 lit. g dieses Gesetzes die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts allein zuständig ist, interkantonale Zuständigkeitskonflikte zu entscheiden (Urteil 1B_333/2008 vom 18. Februar 2009 E. 3.2). Die genannte Regelung ist nunmehr durch Art. 40 Abs. 2 StPO und Art. 37 Abs. 1 StBOG abgelöst worden, ohne dass dabei der Rechtsmittelweg erweitert worden wäre. 
Auf die vorliegende Beschwerde ist daher schon aus diesem Grund nicht einzutreten, da insoweit von Gesetzes wegen kein Rechtsmittel ans Bundesgericht offen steht. 
 
3.2 Der Beschwerdeführer hält dafür, die vorliegende Angelegenheit sei analog zu einem Entscheid (des Bundesgerichts) betreffend Zwangsmassnahmen zu betrachten und der Oberstaatsanwaltschaft eine Rechtsmittelmöglichkeit (an das Bundesgericht) einzuräumen (Beschwerde S. 2 Ziff. 1 lit. a in fine). Damit beruft er sich der Sache nach auf BGE 137 IV 22. Dieses eine Haftüberprüfung betreffende Urteil lässt sich indes nicht mit dem vorliegenden Fall vergleichen, in dem eben keine Zwangsmassnahme in Frage steht. Der Beschwerdeführer vermag somit nichts zu seinen Gunsten daraus abzuleiten. 
 
3.3 Soweit die vorliegende Eingabe (auch) als Aufsichtsbeschwerde gemäss Art. 34 Abs. 1 StBOG bezeichnet worden ist, wird sie zur weiteren Behandlung der Verwaltungskommission zuhanden des Bundesgerichts überwiesen. 
 
4. 
Bei den gegebenen Verhältnissen sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 BGG). 
 
Demnach wird erkannt: 
 
1. 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2. 
Soweit als Aufsichtsbeschwerde eingereicht, wird die Eingabe vom 27. Juli 2011 der Verwaltungskommission des Bundesgerichts zur weiteren Behandlung überwiesen. 
 
3. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bundesstrafgericht, I. Beschwerdekammer, sowie der Verwaltungskommission des Bundesgerichts schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 1. September 2011 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Fonjallaz 
 
Der Gerichtsschreiber: Bopp