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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.115/2006 /ggs 
 
Urteil vom 2. Mai 2006 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio, 
Gerichtsschreiber Thönen. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Advokat Peter Jossen-Zinsstag, 
 
gegen 
 
Y.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat Dr. Willy Borter, 
Bezirksgericht Leuk und Westlich-Raron, Rathaus, 3953 Leuk Stadt, 
Kantonsgericht Wallis, Strafgerichtshof I, Justizgebäude, 1950 Sitten 2. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren, 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid 
des Kantonsgerichts Wallis, Strafgerichtshof I, 
vom 23. Januar 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Das Bezirksgericht Leuk verurteilte X.________ (geb. 1965) am 15. Dezember 2005 zu einer Geldstrafe von Fr. 500.--, da sie sich der Beschimpfung gegenüber Y.________ schuldig gemacht habe. 
 
Am 19. Januar 2006 reichte ihr Rechtsanwalt beim genannten Gericht folgendes Schreiben ein: 
"Betrifft S1 05 4 Y.________/X.________ 
Im Namen und Auftrag meiner Mandantin reiche ich hiermit Berufung gegen das Urteil vom 15.12., zugegangen am 20.12.2005, ein. 
Gleichzeitig beantrage ich die erneute Einvernahme von X.________ durch das urteilende Gericht." 
B. 
Mit Schreiben vom 20. Januar 2006 überwies das Bezirksgericht die Akten dem Kantonsgericht Wallis. Dieses trat mit Entscheid vom 23. Januar 2006 auf die Berufung nicht ein und auferlegte die Verfahrenskosten von Fr. 250.-- dem Rechtsanwalt von X.________. 
C. 
X.________ führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den angefochtenen Entscheid des Kantonsgerichts aufzuheben. Der Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts hat der Beschwerde mit Verfügung vom 7. April 2006 aufschiebende Wirkung zuerkannt. 
D. 
In der Vernehmlassung beantragt Y.________ (im Folgenden: Beschwerdegegner) die Abweisung der Beschwerde. Das Kantonsgericht erachtet die Beschwerde als offensichtlich unbegründet, ohne einen förmlichen Antrag zu stellen; das Bezirksgericht hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Beim angefochtenen Urteil handelt es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Entscheid. Die Beschwerdeführerin ist in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen (Art. 88 OG) und macht die Verletzung verfassungsmässiger Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist. 
2. 
Die Beschwerdeführerin bringt vor, der angefochtene Entscheid sei überspitzt formalistisch, verletze das Willkürverbot und den Grundsatz von Treu und Glauben. 
2.1 Gemäss Art. 9 BV hat jede Person Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür und nach Treu und Glauben behandelt zu werden. Nach der Praxis des Bundesgerichts liegt Willkür in der Rechtsanwendung vor, wenn der angefochtene kantonale Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 131 I 467 E. 3.1). 
2.2 Das Verbot des überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV) wendet sich gegen prozessuale Formenstrenge, die als exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert (BGE 130 V 177 E. 5.4.1 mit Hinweisen). Aus dem Verbot des überspitzten Formalismus und dem Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV) folgt unter Umständen eine Mitteilungspflicht der Behörde bei Verfahrensmängeln, die leicht erkennbar sind und rechtzeitig berichtigt werden können (BGE 125 I 166 E. 3a). 
3. 
3.1 Die anwendbare kantonale Bestimmung (Art. 185 StPO/VS) lautet: 
Form und Inhalt der Berufungserklärung 
1. Die Berufungserklärung ist in drei datierten und unterzeichneten Exemplaren zu hinterlegen. 
2. Sie muss sich als Berufungserklärung bezeichnen, muss kurz begründet angeben, inwiefern der Entscheid angefochten wird, und muss die Berufungsanträge enthalten. 
3.2 Nach dem angefochtenen Entscheid genügt das Schreiben der Beschwerdeführerin vom 19. Januar 2006 den Anforderungen an eine Berufungserklärung gemäss Art. 185 Ziff. 2 StPO/VS nicht: Das Schreiben enthalte weder Begründung noch Berufungsanträge und sei am letzten Tag der nicht erstreckbaren Berufungsfrist eingereicht worden, weshalb keine Verbesserungsfrist gewährt werde. Daher sei auf die Berufung nicht einzutreten. Dieser Entscheid stütze sich auf den Gesetzeswortlaut und die publizierte Gerichtspraxis (ZWR 2004 S. 321 f.). 
3.3 Diese Auffassung trifft zu. Nicht nur die Formerfordernisse für die Berufungserklärung, sondern auch ihr Zweck ergibt sich aus dem kantonalen Recht: Die Berufung hemmt die Vollstreckung des Urteils im Rahmen der gestellten Begehren; der Überprüfung durch das Kantonsgericht sind in der Regel einzig die durch die Berufungserklärung angefochtenen Punkte des Bezirksgerichtsentscheids unterstellt (Art. 189 StPO/VS). Mit den Angaben gemäss Art. 185 Ziff. 2 StPO/VS wird der Umfang der Berufung festgelegt; es besteht somit ein Interesse an einer klaren förmlichen Berufungserklärung. Ein Anwalt mit Geschäftsadresse im Kanton Wallis hat diese Vorschrift zu kennen und zu befolgen. 
 
Entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin vermag daher weder ihr Antrag vor Bezirksgericht noch ihr Begehren, sie sei vor Kantonsgericht erneut einzuvernehmen, die vom Gesetz geforderte kurze Begründung der Anfechtung und die Berufungsanträge zu ersetzen. 
3.4 Die Beschwerdeführerin macht geltend, das Bezirksgericht habe ihre Berufungserklärung als genügend erachtet, da es die Akten an das Kantonsgericht weitergeleitet habe. 
 
Wie das Kantonsgericht in der Vernehmlassung ausführt, ist die Berufung beim Bezirksgericht zu erklären. Über die Zulässigkeit der Berufung entscheide dagegen das Kantonsgericht als Berufungsinstanz (Art. 176 Ziff. 1 StPO/VS). Die Beschwerdeführerin könne aus der Weiterleitung der Berufung durch das Bezirksgericht nichts zu ihren Gunsten ableiten. 
 
Es ist nicht ersichtlich, dass diese Rechtsauffassung überspitzt formalistisch oder offensichtlich unhaltbar wäre. Das Vorbringen der Beschwerdeführerin ist unbegründet. 
3.5 Die Beschwerdeführerin macht geltend, der angefochtene Entscheid widerspreche dem Bundesgerichtsurteil 5P.20/2001 vom 2. April 2001. 
 
Sie verkennt jedoch die Unterschiede zwischen diesem Urteil und ihrer eigenen Sache: Das Bundesgericht erachtete dort das Nichteintreten auf ein falsches Rechtsmittel als überspitzt formalistisch, weil sich im Verlauf des Verfahrens das Zivilprozessrecht geändert hatte, womit statt der Berufung nur noch die Nichtigkeitsklage möglich war. Die Änderung des zulässigen Rechtsmittels war nicht leicht erkennbar und namentlich auch dem Kantonsgericht entgangen. 
 
Im vorliegenden Fall liegt weder eine Gesetzesänderung noch eine schwierige Rechtslage vor; das Gesetz umschreibt die Formvorschriften für die Berufungserklärung klar. Daher ist das Vorbringen unbegründet. 
3.6 Die Beschwerdeführerin bringt vor, das Kantonsgericht hätte ihr nach Treu und Glauben eine Nachfrist zur Verbesserung der Berufungserklärung gewähren müssen. 
 
Nach der Rechtsprechung kann sich aus dem Verbot des überspitzten Formalismus unter besonderen Umständen ein Anspruch auf eine Nachfrist ergeben (BGE 125 I 166 E. 3d). Bei mangelhaften Eingaben gilt dies namentlich dann, wenn auf der Eingabe die Unterschrift fehlt (BGE 120 V 413 E. 6a), nicht jedoch bei Fehlen von Begründung und Anträgen gemäss Art. 185 Ziff. 2 StPO/VS: Das Nichteintreten ohne Nachfristansetzung ist nicht verfassungswidrig, wenn die am vorletzten Tag der Berufungsfrist eingereichte Berufungserklärung weder Begründung (motivation) noch Berufungsanträge (conclusions) enthält (Urteil 1P.109/2004 vom 10. März 2004 E. 2). 
 
Im vorliegenden Fall reichte die Beschwerdeführerin ihr Schreiben am letzten Tag der Berufungsfrist ohne kurze Begründung und ohne Berufungsanträge ein. Aufgrund der Rechtsprechung sind diese Mängel anders als die fehlenden Unterschrift auf einer Eingabe zu behandeln. Demnach besteht kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf eine Nachfrist. 
3.7 Indem das Kantonsgericht nicht auf die Beschwerde eintrat, handelte es weder überspitzt formalistisch, noch willkürlich, noch verletzte es den Grundsatz von Treu und Glauben. 
4. 
Die Beschwerde ist abzuweisen. 
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG) und hat dem obsiegenden Beschwerdegegner eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt. 
3. 
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 600.-- zu entschädigen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bezirksgericht Leuk und Westlich-Raron und dem Kantonsgericht Wallis, Strafgerichtshof I, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 2. Mai 2006 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber: