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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.313/2004 /sza 
 
Urteil vom 2. November 2004 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, 
Bundesrichter Féraud, 
Gerichtsschreiber Störi. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Peter Niederberger, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Zug, 
Postfach 760, 6301 Zug, 
Strafgericht des Kantons Zug, Berufungskammer, Postfach 760, 6301 Zug. 
 
Gegenstand 
Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV sowie Art. 9 BV (Strafverfahren; SVG; Beweiswürdigung), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Strafgerichts des Kantons Zug, Berufungskammer, vom 30. März 2004. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ fuhr am 30. September 1997, um 16:35 Uhr, mit seinem Range Rover die Vorderbergstrasse in Walchwil hinunter. Etwas oberhalb der aus Fahrersicht von links in die Vorderbergstrasse einmündenden Zufahrtsstrasse standen der fünfjährige A.________ und seine 18-jährige Begleiterin B.________ nebeneinander am Strassenrand. X.________ näherte sich den beiden mit einer Geschwindigkeit von 30-40 km/h. A.________ rannte plötzlich quer über die Strasse und wurde dabei vom herannahenden Fahrzeug erfasst und getötet. 
 
Der Einzelrichter des Kantons Zug sprach X.________ am 30. Januar 2002 vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. 
 
Das Strafgericht des Kantons Zug wies die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen dieses Urteil am 5. Juli 2002 ab und bestätigte den erstinstanzlichen Freispruch. 
 
Der Kassationshof des Bundesgerichts hiess die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft am 26. Mai 2003 gut und wies die Sache zu neuer Beurteilung ans Strafgericht zurück. 
B. 
Das Strafgericht hiess hierauf die Berufung der Staatsanwaltschaft am 30. März 2004 im Hauptpunkt gut. Es verurteilte X.________ wegen fahrlässiger Tötung im Sinne von Art. 117 StGB zu einer Busse von 3'000 Franken. 
C. 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 26. Mai 2004 wegen Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" und willkürlicher Beweiswürdigung beantragt X.________, dieses Urteil des Strafgerichts aufzuheben. 
 
Die Staatsanwaltschaft beantragt in ihrer Vernehmlassung, die Beschwerde abzuweisen. X.________ hält in seiner Replik an der Beschwerde fest. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Beim angefochtenen Entscheid des Strafgerichts handelt es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist durch die strafrechtliche Verurteilung in seinen rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), weshalb er befugt ist, die Verletzung verfassungsmässiger Rechte zu rügen. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist. 
2. 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Willkürverbotes (Art. 9 BV) und des Grundsatzes "in dubio pro reo" in seiner Funktion als Beweiswürdigungsregel. 
2.1 Art. 9 BV gewährleistet den Anspruch darauf, von den staatlichen Organen ohne Willkür behandelt zu werden. Auf dem Gebiet der Beweiswürdigung steht den kantonalen Instanzen ein weiter Ermessensspielraum zu. Willkür in der Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen. Dabei genügt es nicht, wenn sich der angefochtene Entscheid lediglich in der Begründung als unhaltbar erweist; eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis verfassungswidrig ist (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41; 124 IV 86 E. 2a S. 88, je mit Hinweisen). 
2.2 Als Beweiswürdigungsregel besagt der aus der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK) abgeleitete Grundsatz "in dubio pro reo", dass sich der Strafrichter nicht von einem für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalt überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Die Maxime ist verletzt, wenn der Strafrichter an der Schuld des Angeklagten hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann. Es muss sich um erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln, d.h. um solche, die sich nach der objektiven Sachlage aufdrängen. Bei der Frage, ob angesichts des willkürfreien Beweisergebnisses erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel hätten bejaht werden müssen und sich der Sachrichter vom für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalt nicht hätte überzeugt erklären dürfen, greift das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung ein, da der Sachrichter diese in Anwendung des Unmittelbarkeitsprinzips zuverlässiger beantworten kann. 
3. 
3.1 Der Kassationshof des Bundesgerichts ist in seinem Urteil vom 26. Mai 2003 davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer seine Sorgfaltspflicht verletzte, indem er sich, als er auf die beiden Fussgänger am Strassenrand zufuhr, darauf beschränkte, sein Tempo zu mässigen und Bremsbereitschaft zu erstellen. "Er hätte nicht nur auf die Begleiterin achten dürfen, sondern sich auch auf das Kind konzentrieren müssen. Insbesondere hätte er nicht davon ausgehen dürfen, die Begleiterin halte es fest, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, ob dies tatsächlich der Fall sei. Ebenso wenig berücksichtigte er, dass das Kind nicht auf ihn achtete. Unter diesen Umständen hätte er nicht darauf vertrauen dürfen, dass sich das Kind, welches die Strasse erkennbar überqueren wollte, richtig verhalten werde. Er wäre deshalb verpflichtet gewesen, die zweideutige Situation wenigstens mit einem Warnsignal zu klären oder gar sein Tempo so weit zu mässigen, dass er vor den Fussgängern hätte anhalten können" (Urteil des Kassationshofs E. 3.3 S. 11). 
3.2 In Befolgung dieser (auch für das Bundesgericht im vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren) verbindlichen Erwägungen des Kassationshofs ging das Strafgericht im angefochtenen Entscheid davon aus, dass der Beschwerdeführer in vorsichtswidriger Weise an den beiden Fussgängern vorbeifuhr und "mit diesem Verhalten bzw. der daraus resultierenden Kollision" den Tod von A.________ verursachte (E. 2 S. 3). Es prüfte in der Folge, ob er die Gefährdung des Knaben hätte voraussehen bzw. erkennen können und müssen, und bejahte dies. Zwar treffe die Begleiterin ein mögliches Drittverschulden am Unfall; dass sie das Kind nicht festgehalten habe, sei jedoch nicht derart ungewöhnlich, dass der Beschwerdeführer damit überhaupt nicht habe rechnen müssen. Aus Art. 26 Abs. 2 SVG ergebe sich, dass die Sicherheit des begleiteten Kindes von den beteiligten Erwachsenen gemeinsam gewährleistet werden müsse: vom Automobilisten, der die Gefahr schaffe, und von der Begleitperson, die das Kind beaufsichtige. Daraus folge, dass keiner der beteiligten Erwachsenen darauf vertrauen dürfe, der andere werde die Gefährdung des Kindes ausschliessen, wenn er sich darüber keine Gewissheit verschaffen könne. 
3.3 Der Beschwerdeführer wandte zwar ein, der Knabe sei auf Kommando seiner Begleiterin losgerannt. Ein solches Verhalten des Kindermädchens liege ausserhalb jeder Vernunft und sei derart ungewöhnlich, dass er damit nach menschlichem Ermessen nicht habe rechnen müssen, weshalb es als schweres Drittverschulden die wahrscheinlichste und unmittelbarste Ursache des tödlichen Unfalles sei. Der adäquate Kausalzusammenhang zwischen seinem sorgfaltswidrigen Verhalten und dem Unfall sei daher unterbrochen. 
 
Diesen Einwand verwarf das Strafgericht im angefochtenen Entscheid. Es erwog, diese Darstellung des Beschwerdeführers, wonach der Knabe auf Grund der Aufforderung des Kindermädchens in die Strasse hinaus und in den PW gerannt sei, finde in den Akten keine Stütze. Nach ihren (im angefochtenen Urteil umfassend zitierten) Aussagen habe B.________ dem Kind zu verstehen gegeben, dass sie jetzt die Strasse überqueren würden, worauf sie beide gemeinsam losgelaufen seien. A.________ habe dann den Plastiksack in ihrer Hand losgelassen und sei losgerannt, wobei sie nicht wisse, warum er dies getan habe. Auf Grund dieser Darstellung müsse davon ausgegangen werden, dass der Knabe nicht auf Aufforderung des Kindermädchens, sondern aus spontaner, unberechenbarer Reaktion losgerannt sei. Selbst wenn das Kindermädchen die Gefahrensituation möglicherweise falsch eingeschätzt habe, sei ihr Verhalten nicht derart ungewöhnlich gewesen, dass der Beschwerdeführer als Lenker damit nicht habe rechnen müssen. Überraschendes und unberechenbares Verhalten von Kindern stelle das gesetzgeberische Motiv für die in Art. 26 Abs. 2 SVG statuierte besondere Vorsichtspflicht ihnen gegenüber dar. Die Sorgfaltspflichtverletzung des Beschwerdeführers sei daher die adäquate Ursache des Todes von A.________, weshalb er wegen fahrlässiger Tötung im Sinne von Art. 117 StGB schuldig zu sprechen sei. 
4. 
4.1 Der Beschwerdeführer rügt, das Strafgericht habe seinen Einwand, das Kindermädchen habe A.________ das Kommando zum Losrennen erteilt und diesen damit quasi in den Tod geschickt, in willkürlicher Würdigung der Beweise verworfen, indem es dabei einzig auf die Aussagen des Kindermädchens abgestellt und seine eigene, kohärente Darstellung des Ablaufs ausser Betracht gelassen habe. Er habe bereits am 15. Oktober 1997 gegenüber der Polizei unmissverständlich ausgesagt, dass lediglich das Kind die Fahrbahn betreten habe; es sei ansatzlos losgerannt, schräg Richtung Einfahrt Haltlirain. Er sei von Beginn an gerannt, ohne zuvor Gehschritte gemacht zu haben. Die junge Frau sei stets stehen geblieben. 
4.2 Es bestehen keine Anhaltspunkte - auch der Beschwerdeführer liefert keine - dafür, dass das Kindermädchen A.________ dazu aufforderte, allein über die Strasse zu rennen. Vielmehr konnte das Strafgericht gestützt auf dessen in diesem Punkt gleichbleibenden Aussagen willkürfrei davon ausgehen, dass es sich entschloss, die Strasse gemeinsam mit dem Kind zu überqueren und dieses entsprechend dazu aufforderte. Ob der Knabe diese Aufforderung missverstand und losrannte, bevor das Kindermädchen auch nur einen Schritt in die Fahrbahn hineinmachte, wie der Beschwerdeführer behauptet, oder ob er dies erst nach einigen (wenigen) gemeinsamen Schritten tat, ist offensichtlich unerheblich. In jedem Fall hat sich der Knabe in einer typisch kindlichen, unberechenbaren Reaktion selbständig gemacht und ist vor das Auto des Beschwerdeführers gerannt. Nach der verbindlichen Rechtsauffassung des Kassationshofs hat der Beschwerdeführer genau dafür einzustehen, dass er, ohne dies gesehen zu haben, darauf vertraute, der Knabe werde von seiner erwachsenen Begleiterin festgehalten und dementsprechend auf die beiden zufuhr, ohne Signal zu geben oder seine Geschwindigkeit so weit zu senken, dass er eine Kollision mit dem Knaben sicher hätte verhindern können. Der Einwand des Beschwerdeführers, es sei nicht erstellt, dass das Kindermädchen überhaupt mit dem Überqueren der Fahrbahn begonnen habe, ist daher nicht geeignet, den Schuldspruch in Frage zu stellen, und damit unerheblich. Das Strafgericht hat ihn zudem willkürfrei entkräftet, indem es den Beschwerdeführer auf seiner Aussage behaftete, er habe kurz vor dem Erreichen der beiden Fussgänger seine Aufmerksamkeit vom Kindermädchen weg auf die Fahrbahn gerichtet, sodass es nicht ausgeschlossen ist, dass dieses vom Beschwerdeführer unbemerkt mit dem Überqueren der Fahrbahn begonnen hat. Die Rüge ist unbegründet, das Strafgericht hat weder die Beweise willkürlich gewürdigt noch die Unschuldsvermutung verletzt. 
5. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 156 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Strafgericht des Kantons Zug, Berufungskammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 2. November 2004 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: