Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9C_553/2022
Urteil vom 3. Januar 2024
III. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Stadelmann, Beusch,
Gerichtsschreiber Nabold.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 2. November 2022 (VSBES.2021.163).
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 16. Juni 2006 sprach die IV-Stelle Solothurn der 1970 geborenen A.________ ab 1. April 2005 eine halbe Rente der Invalidenversicherung zu. Diese Rente wurde in der Folge mit Verfügung vom 29. November 2007 mit Wirkung ab dem 1. Oktober 2006 auf eine ganze Rente erhöht.
In einem weiteren Revisionsverfahren holte die IV-Stelle beim Ärztlichen Begutachtungsinstitut (ABI), Basel, eine polydisziplinäre Expertise ein (Gutachten vom 26. Mai 2011 mit ergänzenden Stellungnahmen vom 9. Januar 2012 und vom 7. April 2014). Gestützt auf dieses Gutachten hob die IV-Stelle die Rente mit Verfügung vom 18. Juni 2012 per Ende Juli 2012 auf. Das von der Versicherten beschwerdeweise angerufene Versicherungsgericht des Kantons Solothurn holte bei Dr. med. B.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, das psychiatrische Gerichtsgutachten vom 19. März 2014 ein. Daraufhin hiess es die Beschwerde mit Urteil vom 12. August 2014 gut und sprach der Beschwerdeführerin weiterhin eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu.
In einem erneuten Revisionsverfahren holte die IV-Stelle bei der extimed AG, Zug, eine polydisziplinäre Expertise ein (Gutachten vom 26. September 2020). Gestützt auf dieses hob die IV-Stelle die laufende ganze Rente der Versicherten mit Verfügung vom 7. September 2021 auf Ende des der Zustellung der Verfügung folgenden Monats auf.
B.
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Urteil vom 2. November 2022 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, ihr sei unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsurteils auch über den 31. Oktober 2021 hinaus eine ganze Rente der Invalidenversicherung zuzusprechen, eventuell sei die Sache zu ergänzenden Sachverhaltsabklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. In ihrem Schreiben vom 9. Oktober 2023 hält A.________ an ihren Anträgen fest.
Erwägungen:
1.
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG ).
1.2. Ein Mangel in der Sachverhaltsfeststellung gemäss Art. 105 Abs. 2 BGG liegt nicht bereits dann vor, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre. Eine Beweiswürdigung erweist sich erst dann als willkürlich, wenn das Gericht Sinn und Tragweite eines Beweismittels offensichtlich verkannt hat, wenn es ohne sachlichen Grund ein wichtiges und entscheidwesentliches Beweismittel unberücksichtigt gelassen hat oder wenn es auf der Grundlage der festgestellten Tatsachen unhaltbare Schlussfolgerungen gezogen hat (BGE 144 II 281 E. 3.6.2).
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, als es die rentenaufhebende Verfügung der IV-Stelle bestätigte.
3.
3.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19.6.2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die hier angefochtene Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.
3.2. Der Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung setzt unter anderem voraus, dass die versicherte Person invalid oder von Invalidität unmittelbar bedroht ist. Invalidität ist gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSG die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit.
3.3. Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich, so wird in Anwendung von Art. 17 Abs. 1 ATSG die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben. Eine Rentenherabsetzung oder Aufhebung im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG setzt eine anspruchserhebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse voraus, welche entweder in einer objektiven Verbesserung des Gesundheitszustandes mit entsprechend gesteigerter Arbeitsfähigkeit oder in geänderten erwerblichen Auswirkungen einer im Wesentlichen gleich gebliebenen Gesundheitsbeeinträchtigung liegen kann. Demgegenüber stellt eine bloss abweichende Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhaltes keine revisionsrechtlich relevante Änderung dar (BGE 147 V 161 E. 4.2 mit Hinweisen).
3.4. Nach der Rechtsprechung kann ein früher nicht gezeigtes Verhalten unter Umständen eine im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG relevante Tatsachenänderung darstellen, wenn es sich auf den Invaliditätsgrad und damit auf den Umfang des Rentenanspruchs auswirken kann. Dies trifft etwa zu bei Versicherten mit einem Beschwerdebild, auf das die Rechtsprechung gemäss BGE 141 V 281 anwendbar ist, wenn ein Ausschlussgrund vorliegt, d.h. die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen Konstellation beruht, die eindeutig über die blosse (unbewusste) Tendenz zur Schmerzausweitung und -verdeutlichung hinausgeht (Urteil 8C_553/2021 vom 13. April 2023 E. 4.2.3 mit zahlreichen weiteren Hinweisen).
3.4.1. Kognitionsrechtlich gilt Folgendes: Ob eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist, betrifft eine Tatfrage und kann damit vom Bundesgericht nur auf offensichtliche Unrichtigkeit und auf Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG überprüft werden (vgl. erwähntes Urteil 8C_553/2021 vom 13. April 2023 E. 4.2.5). Frei überprüfbare Rechtsfrage ist demgegenüber, ob mit der Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ein Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG vorliegt (vgl. Urteil 9C_42/2019 vom 16. August 2019 E. 5.1. und 5.2). Ebenfalls auf den Sachverhalt und damit auf eine Tatfrage bezieht sich die Feststellung, dass bei einer versicherten Person von Aggravation oder aggravatorischem Verhalten auszugehen ist. Hingegen gilt als Rechtsfrage und damit als grundsätzlich frei überprüfbar, ob die betreffenden ärztlichen Feststellungen im Einzelfall auf einen Ausschlussgrund folgern lassen (Urteile 8C_95/2019 vom 3. Juni 2019 E. 6.2; 9C_501/2018 vom 12. März 2019 E. 5.1 mit Hinweis).
4.
4.1. Das kantonale Gericht bejahte einen Revisionsgrund, da gestützt auf das Gutachten der estimed AG vom 26. September 2020 von einer bewusstseinsnahen Aggravation der Versicherten auszugehen sei. Vor dieser Begutachtung bestanden gemäss den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz keine Hinweise auf ein solches Verhalten. Durch die im Rahmen der estimed-Begutachtung neu gezeigten Aggravation habe ein Verhalten vorgelegen, dass sie im Zeitpunkt der letzten massgeblichen psychiatrischen Begutachtung durch Dr. med. B.________ noch nicht gezeigt habe. Dieser Experte habe zwar ein auffälliges Verhalten sowie mangelnde Kooperation der Versicherten beschrieben, jedoch ohne eine Aggravation festzustellen.
Wie die Beschwerdeführerin zutreffend geltend macht, beruht die vorinstanzliche Feststellung, es hätten vor der Begutachtung durch die Experten der estimed AG im Jahre 2020 keine Hinweise auf aggravatorisches Verhalten der Versicherten vorgelegen, auf einer offensichtlich unvollständigen Würdigung der medizinischen Akten. Vor der letzten gerichtlichen Bestätigung des Rentenanspruchs beschrieben sowohl der Gerichtsgutachter Dr. med. B.________ als auch der psychiatrische Experte des ABI ein deutlich histrionisches Verhalten. Während Dr. med. B.________ dieses als Teil der psychiatrischen Erkrankung interpretiere, sprachen die Experten des ABI in ihrer Stellungnahme vom 7. April 2014 davon, dass die Versicherte massiv aggraviere. Daraus erschliesst sich, dass die Frage der Aggravation bereits bei der letzten Rentenbestätigung Gegenstand einer kontroversen Diskussion unter den beteiligten psychiatrischen Experten war. Damit kann nicht willkürfrei gesagt werden, das von den Experten der estimed AG wiederum als aggravatorisch interpretierte Verhalten der Versicherten sei neu gewesen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Schluss des Experten der estimed AG auf eine Aggravation um eine vom Gerichtsgutachter abweichende (aber die Experten des ABI bestätigende) Würdigung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Verhaltens bzw. Sachverhaltes handelt.
4.2. Eine andere erhebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ist vorliegend nicht ersichtlich, womit kein Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG besteht. Die Möglichkeit, die Rentenaufhebung mittels einer substituierten Begründung aufgrund einer Wiedererwägung im Sinne von Art. 53 Abs. 2 ATSG zu schützen (BGE 125 V 368 E. 2; vgl. auch Urteil 9C_73/2023 vom 21. November 2023 E. 3.1 mit weiteren Hinweisen), besteht vorliegend bereits aus dem Grund nicht, weil die letzte Bestätigung der Rente Gegenstand einer materiellen richterlichen Beurteilung war (vgl. BGE 138 V 147 E. 2.1; Urteil 8C_736/2019 vom 21. Januar 2020 E. 5.2). Fehlt es demgemäss an einem Rückkommenstitel, so hat die Versicherte weiterhin Anspruch auf die Rente in bisheriger Höhe. Entsprechend ist die Beschwerde gutzuheissen und das kantonale Gerichtsurteil sowie die rentenaufhebende Verfügung der IV-Stelle sind ersatzlos aufzuheben.
5.
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Diese hat der Beschwerdeführerin überdies eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG). Die Sache ist zudem zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn zurückzuweisen (Art. 68 Abs. 5 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 2. November 2022 und die Verfügung der IV-Stelle Solothurn vom 7. September 2021 werden aufgehoben. Die Beschwerdeführerin hat auch über den 31. Oktober 2021 hinaus Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 3. Januar 2024
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Der Gerichtsschreiber: Nabold