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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
8C_453/2019  
 
 
Urteil vom 3. Februar 2020  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Maillard, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Deutschland, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dominik W. Geisert, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA, Avenue Edmond-Vaucher 18, 1203 Genf, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Mai 2019 (C-6598/2016). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Mit Verfügung vom 28. September 2016 lehnte die IV-Stelle für Versicherte im Ausland (IVSTA) ein Rentengesuch des 1962 geborenen A.________ bei einem Invaliditätsgrad von 17 % ab. Dabei nahm die IV-Stelle insbesondere Bezug auf die Rechtsprechung, wonach (primäre) Suchterkrankungen und damit auch Alkoholerkrankungen keine invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschäden darstellen können und ihre funktionellen Auswirkungen deshalb keiner näheren Abklärung bedürfen. 
 
B.   
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit Entscheid vom 20. Mai 2019 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde beantragt A.________ sinngemäss, ihm sei unter Aufhebung des vorinstanzlichen Gerichtsentscheides eine Rente der Invalidenversicherung zuzusprechen, eventuell sei die Sache zu weiteren Abklärungen zurückzuweisen. Gleichzeitig stellt A.________ ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. 
Während die IVSTA auf Abweisung der Beschwerde schliesst, beantragt das Bundesverwaltungsgericht, die Beschwerde sei unter Rückweisung der Sache an die IVSTA zur weiteren Abklärung der Suchtproblematik gutzuheissen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
In seiner Stellungnahme vom 24. Januar 2020 hält A.________ an seinen Anträgen fest. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
 
1.1. Die Voraussetzungen der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sind grundsätzlich gegeben (Art. 82 lit. a, Art. 83 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. a, Art. 89 Abs. 1, Art. 90 und Art. 100 Abs. 1 BGG).  
 
1.2. Das Bundesgericht prüft das Bundesrecht von Amtes wegen (Art. 106 Abs. 1 BGG; BGE 143 V 19 E. 2.3 S. 23 f.) und mit uneingeschränkter (voller) Kognition (Art. 95 lit. a BGG; BGE 141 V 234 E. 2 S. 236). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).  
 
1.3. Das Bundesgericht ist an den Sachverhalt gebunden, wie die Vorinstanz ihn festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser erweise sich in einem entscheidwesentlichen Punkt als offensichtlich falsch oder unvollständig ermittelt. Zur Sachverhaltsfeststellung gehört auch die auf Indizien gestützte Beweiswürdigung (Urteil 8C_440/2019 vom 8. November 2019 E. 1.3). Inwiefern die vorinstanzliche Beweiswürdigung bzw. die Sachverhaltsfeststellung offensichtlich unhaltbar ist, muss in der Beschwerdeschrift klar und detailliert aufgezeigt werden (BGE 144 V 50 E. 4.2 mit Hinweisen; 134 II 244 E. 2.2 S. 246; 130 I 258 E. 1.3 S. 262); es gilt diesbezüglich eine qualifizierte Begründungspflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 133 II 249 E. 1.4.3 S. 254 f.). Namentlich genügt es nicht, lediglich einzelne Indizien anzuführen, die anders als im angefochtenen Entscheid hätten gewichtet werden können, und dem Bundesgericht in appellatorischer Kritik diesbezüglich ohne Verfassungsbezug bloss die eigene Auffassung zu unterbreiten (vgl. BGE 116 Ia 85 E. 2b S. 88).  
 
2.   
 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, als sie in Bestätigung einer Verfügung der Beschwerdegegnerin einen Rentenanspruch des Versicherten verneinte.  
 
2.2. Der Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung setzt unter anderem voraus, dass die versicherte Person invalid oder von Invalidität unmittelbar bedroht ist. Invalidität ist gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSG die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit.  
 
3.   
 
3.1. Das Bundesverwaltungsgericht verneinte einen Rentenanspruch des Versicherten. Dabei hat es - entsprechend der bisherigen Rechtsprechung - unter anderem erwogen, dass Suchtkrankheiten grundsätzlich keine Invalidität verursachen können, es sei denn, die Sucht habe ihrerseits eine Krankheit oder einen Unfall bewirkt, in deren Folge ein körperlicher oder geistiger Gesundheitsschaden eingetreten sei oder aber wenn sie selber Folge eines körperlichen oder geistigen Gesundheitsschadens mit Krankheitswert sei. Keiner der beiden Ausnahmetatbestände liege in Bezug auf den Versicherten vor, so dass auf weitere Abklärungen zum Alkoholmissbrauch verzichtet werden könne.  
 
3.2. Mit dem nach dem angefochtenen Entscheid ergangenen BGE 145 V 215 hat das Bundesgericht vor dem Hintergrund der Rechtsprechung zur Ausdehnung des strukturierten Beweisverfahrens gemäss BGE 141 V 281 auf sämtliche psychischen Störungen (BGE 143 V 409 und 418) und nach vertiefter Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Medizin die bisherige Rechtsprechung, wonach primäre Abhängigkeitssyndrome bzw. Substanzkonsumstörungen zum vornherein keine invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschäden darstellen können und ihre funktionellen Auswirkungen deshalb keiner näheren Abklärung bedürfen, fallen gelassen (E. 5.3.3). Es hat entschieden, dass fortan - gleich wie bei allen anderen psychischen Erkrankungen - nach dem strukturierten Beweisverfahren zu ermitteln sei, ob und gegebenenfalls inwieweit sich ein fachärztlich diagnostiziertes Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person auswirke. Dabei kann und muss im Rahmen des strukturierten Beweisverfahrens insbesondere dem Schweregrad der Abhängigkeit im konkreten Einzelfall Rechnung getragen werden (E. 6.3). Diesem komme nicht zuletzt deshalb Bedeutung zu, weil bei Abhängigkeitserkrankungen - wie auch bei anderen psychischen Störungen - oft eine Gemengelage aus krankheitswertiger Störung sowie psychosozialen und soziokulturellen Faktoren vorliege. Letztere seien auch bei Abhängigkeitserkrankungen auszuklammern, wenn sie direkt negative funktionelle Folgen zeitigen würden. Weiter wird im Urteil festgehalten, dass auch bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms die Schadenminderungspflicht (Art. 7 IVG) zur Anwendung komme, so dass von der versicherten Person etwa die aktive Teilnahme an zumutbaren medizinischen Behandlungen verlangt werden könne (Art. 7 Abs. 2 lit. d IVG). Komme sie den ihr auferlegten Schadenminderungspflichten nicht nach, sondern erhalte sie willentlich den krankhaften Zustand aufrecht, sei nach Art. 7b Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 21 Abs. 4 ATSG eine Verweigerung oder Kürzung der Leistungen möglich (E. 5.3.1).  
 
3.3. Diese neue Rechtsprechung ist auf alle im Zeitpunkt der Praxisänderung noch nicht erledigten Fälle anzuwenden (vgl. Urteil 8C_245/2019 vom 16. September 2019 E. 5 mit weiterem Hinweis) und somit auch im vorliegenden Fall massgebend. Entgegen den Vorbringen der Beschwerdegegnerin erscheint es nur schon aus Rechtsschutzgründen (Verlust des Instanzenzuges) nicht opportun, wenn das Bundesgericht den diesbezüglichen Sachverhalt als erste Instanz feststellt. Entsprechend ist die Beschwerde gutzuheissen und die Sache ist unter Aufhebung der Verfügung und des vorinstanzlichen Entscheides an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen, damit diese - gegebenenfalls nach weiteren medizinischen Abklärungen - den Leistungsanspruch des Versicherten unter Berücksichtigung der geänderten Rechtsprechung neu prüfe.  
 
4.   
Die Rückweisung der Sache zu erneuter Abklärung gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten sowie der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinn von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 141 V 281 E. 11.1 S. 312). Mithin hat die unterliegende IV-Stelle die Gerichtskosten zu tragen und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung auszurichten. Sein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung ist daher gegenstandslos. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Mai 2019 und die Verfügung der IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA vom 28. September 2016 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle für Versicherte im Ausland IVSTA zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1000.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung III, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 3. Februar 2020 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Maillard 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold