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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.213/2004 /sta 
 
Urteil vom 3. Juni 2004 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Féraud, Gerichtsschreiber Störi. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ruedi Lang, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn, Bielstrasse 9, 4502 Solothurn, 
Obergericht des Kantons Solothurn, Strafkammer, Amthaus 1, Postfach 157, 4502 Solothurn. 
 
Gegenstand 
Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. c EMRK (Strafverfahren), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Solothurn, Strafkammer, vom 24. März 2004. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Mit Urteil vom 8./9. April 2003 verurteilte das Amtsgericht Olten-Gösgen X.________ wegen mehrfacher unrechtmässiger Aneignung, mehrfacher Urkundenfälschung und mehrfacher Unterdrückung von Urkunden zu zwei Jahren Gefängnis. 
 
X.________, der an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung unentschuldigt nicht erschienen war, appellierte gegen seine Verurteilung ans Obergericht des Kantons Solothurn. Mit Beschluss vom 24. März 2004 schrieb dessen Strafkammer die Appellation X.________s als verwirkt von der Geschäftskontrolle ab. Zur Begründung führte sie an, X.________ sei, obwohl gehörig und unter Hinweis auf die Folgen unentschuldigten Ausbleibens zur obergerichtlichen Hauptverhandlung vorgeladen, unentschuldigt nicht erschienen, weshalb seine Appellation nach § 178 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Solothurn vom 13. März 1997 (StPO) verwirkt sei. 
B. 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 6. April 2004 wegen Verletzung von Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. c EMRK beantragt X.________, diesen Beschluss aufzuheben und das von ihm begehrte Appellationsverfahren durchzuführen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Angefochten ist der Entscheid der Strafkammer, mit welchem sie die Appellation des Beschwerdeführers in Anwendung von § 178 Abs. 1 StPO als verwirkt abschrieb, da dieser zur Hauptverhandlung nicht erschien. Es fragt sich, ob dieser Entscheid kantonal letztinstanzlich ist, da der Beschwerdeführer die Möglichkeit gehabt hätte, innert 10 Tagen ein Gesuch um Aufhebung der Säumnisfolgen zu stellen (§ 178 Abs. 3 i.V.m. § 27 StPO). Allerdings wird in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Entscheides auf diese Möglichkeit nicht aufmerksam gemacht, und es erscheint auch nicht klar, ob ein derartiges Gesuch überhaupt geeignet gewesen wäre, die behaupteten rechtlichen Nachteile zu beseitigen. Die Frage der Letztinstanzlichkeit kann hier allerdings offen bleiben. Der zur obergerichtlichen Hauptverhandlung erschienene Verteidiger des Beschwerdeführers setzte der Strafkammer auseinander, dass sein Mandant in Kenntnis der Vorladung und der angedrohten Säumnisfolgen wegen der drohenden Verhaftung nicht erschienen sei und dass er es für verfassungswidrig halte, die Appellation unter diesen Umständen als verwirkt abzuschreiben. Die Strafkammer setzt sich im angefochtenen Entscheid mit dieser Argumentation auseinander und verwirft sie; sie hat sich damit festgelegt. Die Einreichung eines Gesuchs um Aufhebung der Säumnisfolgen wäre unter diesen Umständen einer leeren Formalität gleichgekommen, weshalb es sich rechtfertigt, auf die Beschwerde unter dem Gesichtspunkt der Letztinstanzlichkeit von Art. 86 Abs. 1 OG einzutreten. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 127 I 38 E. 3c; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c), einzutreten ist. 
2. 
2.1 Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass nach § 178 Abs. 1 StPO eine Appellation als verwirkt abzuschreiben ist, wenn der Appellant unentschuldigt nicht zur Appellationsverhandlung erscheint. Er macht indessen unter Verweis auf die Erwägungen von BGE 127 I 215 geltend, dies verletze seine verfassungsrechtlich garantierten Verteidigungsrechte sowie das Recht, sein Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen (Art. 32 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 1 und 3 lit. c EMRK). Nach diesem Urteil sei die Versagung von Verteidigungsrechten eine unverhältnismässige Säumnisfolge. Er habe nicht frei über die Teilnahme an den beiden Hauptverhandlungen entscheiden können, da er beim Erscheinen mit einer Verhaftung hätte rechnen müssen. Es sei unter diesen Umständen verfassungswidrig gewesen, seine Appellation wegen seines Nichterscheinens zur Appellationsverhandlung als verwirkt abzuschreiben. 
2.2 Die Teilnahme des Angeklagten an der gerichtlichen Hauptverhandlung ermöglicht einerseits diesem, seine Verteidigungsrechte wahrzunehmen. Anderseits erleichtert sie dem Gericht, die Beschuldigungen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. Sie ist daher nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sowohl aus der Sicht des Gerichts als auch derjenigen des Angeklagten von entscheidender Bedeutung für ein faires Verfahren. Die Durchführung einer Hauptverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten ist indessen verfassungs- und konventionsrechtlich dann zulässig, wenn dieser das Abwesenheitsurteil später gerichtlich überprüfen lassen kann. Allerdings gewähren Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 2 BV dem in Abwesenheit Verurteilten kein bedingungsloses Recht auf eine Neubeurteilung. Dieses kann von der Einhaltung von Formvorschriften und Fristen abhängig gemacht und abgelehnt werden, wenn sich der Verurteilte geweigert hatte, an der Verhandlung teilzunehmen oder aus Gründen, die er zu vertreten hat, nicht daran teilnehmen konnte (Zusammenfassung der Rechtsprechung von Bundesgericht und EGMR in BGE 127 I 213 E. 3a). Eine drohende Verhaftung ist, wie in diesem Entscheid, auf den sich der Beschwerdeführer beruft, deutlich gemacht wird, kein Grund, der ein Nichterscheinen vor Gericht zu entschuldigen vermöchte. Das öffentliche Interesse an der Durchführung des Strafverfahrens wiegt schwerer als das Interesse des Angeklagten, einer allfälligen Verhaftung zu entgehen (a.a.O. E. 4). 
 
Vorliegend beschwert sich der Beschwerdeführer allerdings gar nicht darüber, dass er keine Möglichkeit gehabt habe, vom Amtsgericht Olten-Gösgen eine Neubeurteilung seiner in Abwesenheit erfolgten Verurteilung zu verlangen. Es braucht daher nicht geprüft zu werden, ob das kantonale Recht eine solche Wiederaufnahme zugelassen hätte. Er hat vielmehr das erstinstanzliche Urteil direkt bei der Strafkammer angefochten, welche die Berufung als verwirkt abschrieb, weil er zur Appellationsverhandlung unentschuldigt nicht erschienen sei. 
2.3 Der Beschwerdeführer macht zu Recht nicht geltend, dass es grundsätzlich verfassungs- bzw. konventionswidrig sei, das Eintreten auf eine Appellation nebst der Einhaltung bestimmter Formvorschriften auch vom Erscheinen des erstinstanzlich Verurteilten zur Appellationsverhandlung abhängig zu machen. Da die Strafkammer auf Berufung hin die Strafsache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht neu zu beurteilen (§ 173 Abs. 2 StPO) und damit prinzipiell die gleiche Aufgabe hat wie die erste Instanz, überwiegt das öffentliche Interesse an einer Teilnahme des erstinstanzlich Verurteilten an der Berufungsverhandlung dessen Interesse, einer allfälligen Verhaftung zu entgehen; es kann auf die Ausführungen in E. 2.2 verwiesen werden. 
 
Aus dem Umstand, dass er bereits zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung unentschuldigt nicht erschien, kann der Beschwerdeführer nichts zu seinen Gunsten ableiten. Anders als im in BGE 127 I 213 zu beurteilenden Fall nahm sein Verteidiger an der erstinstanzlichen Verhandlung teil und nahm seine Verteidigungsrechte wahr; im Unterschied zu jenem Fall beruht seine Verurteilung somit auf einem Verfahren, in dem seine Verteidigungsrechte in vollem Umfang gewährleistet waren. Dass er sein Recht auf persönliche Teilnahme nicht wahrnahm, war sein freier Entscheid, dessen Konsequenzen er androhungsgemäss zu tragen hat; daraus kann er jedenfalls keinen verfassungs- und konventionsrechtlichen Anspruch darauf ableiten, dass die Strafkammer über die Berufung unter Verletzung des geltenden Prozessrechts in seiner Abwesenheit hätte verhandeln oder damit bis zu seiner Ergreifung zuwarten müssen. Der Vorwurf, die Strafkammer habe seinen in Art. 32 Abs. 3 BV verankerten Anspruch auf Überprüfung seiner Verurteilung durch ein höheres Gericht verletzt, ist offensichtlich unbegründet. 
 
Dazu kommt, dass nach § 142 StPO der Präsident der Strafkammer einem in Abwesenheit Verurteilten für eine bestimmte Zeit und unter bestimmten Bedingungen freies Geleite zusichern kann. Der Beschwerdeführer macht nicht geltend, je um freies Geleite für die Teilnahme an der Berufungsverhandlung nachgesucht zu haben. Ein solches Gesuch wäre nicht von vornherein aussichtslos gewesen, erscheint es doch keineswegs ausgeschlossen, dass es der Strafkammerpräsident im Wissen darum, dass es für einen Verurteilten äusserst schwierig ist, sich dem Strafvollzug auf Dauer zu entziehen, bewilligt hätte. Man könnte sich unter diesen Umständen sogar fragen, ob die (nach dem eben Dargelegten unbegründete) Rüge des Beschwerdeführers, die Strafkammer habe Art. 32 Abs. 3 BV verletzt, nicht bereits am auch für ihn als Verfahrenspartei geltenden Gebot von Treu und Glauben scheitern müsste. 
3. 
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 156 OG). Er hat zwar ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches jedoch abzuweisen ist, da die Beschwerde aussichtslos war (Art. 152 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht 
im Verfahren nach Art. 36a OG
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen. 
3. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt. 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Solothurn, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 3. Juni 2004 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: