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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
6B_640/2020  
 
 
Urteil vom 4. März 2021  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichter Muschietti, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiber Weber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Fabian Zuberbühler, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
1. Departement Volkswirtschaft und Inneres, 
Amt für Justizvollzug, Bahnhofplatz 3c, 5001 Aarau, 
2. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,  
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Entlassung aus dem Freiheitsentzug, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 1. Kammer, vom 16. April 2020 
(WBE.2020.76/sr/jb). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Das Bezirksgericht Brugg verurteilte A.________ am 18. Februar 1997 wegen mehrfachen Mordes, versuchten Mordes, mehrfachen qualifizierten Raubs, versuchter Erpressung, bandenmässigen Diebstahls und mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe. Zudem ordnete es eine vollzugsbegleitende Psychotherapie an. 
Das Obergericht des Kantons Aargau bestätigte dieses Urteil am 12. November 1998 im Wesentlichen. 
 
B.   
Seit dem 28. Juli 1994 (vorzeitiger Strafantritt) verbüsst A.________ seine lebenslängliche Freiheitsstrafe. Aktuell befindet er sich in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Die Mindestdauer für eine bedingte Entlassung wurde am 8. Februar 2009 erreicht. 
Am 25. Februar 2020 ersuchte A.________ beim Verwaltungsgericht des Kantons Aargau um unverzügliche Entlassung aus dem Freiheitsentzug. Das Verwaltungsgericht trat mit Urteil vom 16. April 2020 auf das Gesuch nicht ein. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben, sein Entlassungsgesuch sei gutzuheissen und er sei unverzüglich aus dem Freiheitsentzug zu entlassen. Eventualiter sei das Urteil aufzuheben und an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen, verbunden mit der Anweisung, auf sein Entlassungsgesuch sei einzutreten und darüber materiell zu entscheiden. A.________ ersucht um unentgeltliche Rechtspflege. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz sei zu Unrecht nicht auf sein Entlassungsgesuch eingetreten. Sie habe Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 190 BV und seine Ansprüche auf rechtliches Gehör sowie ein faires Verfahren verletzt. Der ordentliche Verfahrensweg für eine bedingte Entlassung durch die verwaltungsinternen Instanzen sei nicht mit der in Art. 5 Abs. 4 EMRK vorgesehenen kurzen Frist vereinbar. Das Amt für Justizvollzug als zuständige Behörde sei nicht gewillt, ihn in Freiheit zu entlassen.  
 
1.2. Die Vorinstanz erachtet sich als funktionell unzuständig und trat deshalb auf das Gesuch des Beschwerdeführers um unverzügliche Entlassung aus dem Freiheitsentzug nicht ein. Sie erwägt, selbst wenn der Beschwerdeführer gestützt auf Art. 5 Abs. 4 EMRK derzeit einen Anspruch auf eine sofortige gerichtliche Haftprüfung hätte, müsste er trotzdem den verwaltungsinternen Instanzenzug über das Amt für Justizvollzug einhalten. Er könne sich mit seinem Haftentlassungsgesuch nicht direkt an das Verwaltungsgericht wenden. Zwar sei ihm einzuräumen, dass eine kurzfristige gerichtliche Beurteilung der Rechtmässigkeit unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR wohl nur in den seltensten Fällen gewährleistet werden könne. Dieses Problem sei jedoch vom Gesetzgeber zu lösen. Der EGMR habe entschieden, es obliege den Verfahrensstaaten, ihre Verfahren auf eine Art und Weise zu organisieren, dass die erforderlichen Verfahrensschritte innerhalb minimaler Frist durchgeführt werden könnten. Dabei handle es sich ganz klar um einen Auftrag an den Gesetzgeber. Hingegen sei es nicht am Verwaltungsgericht, unter Missachtung der innerstaatlichen Verfahrensvorschriften erstinstanzlich über Haftentlassungsgesuche von Gefangenen zu urteilen. Art. 5 Abs. 4 EMRK begründe keine gerichtliche Zuständigkeit (vgl. angefochtenes Urteil, E. I. 4.2 S. 9 f.).  
 
1.3.  
 
1.3.1. Gemäss Art. 86 Abs. 1 StGB ist der Gefangene nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe bedingt zu entlassen, wenn es das Verhalten im Strafvollzug rechtfertigt und nicht anzunehmen ist, er werde weitere Verbrechen oder Vergehen begehen. Die zuständige Behörde prüft von Amtes wegen, ob der Gefangene bedingt entlassen werden kann. Sie holt einen Bericht der Anstaltsleitung ein. Der Gefangene ist anzuhören (Art. 86 Abs. 2 StGB). Wird die bedingte Entlassung verweigert, so hat die zuständige Behörde mindestens einmal jährlich neu zu prüfen, ob sie gewährt werden kann (Art. 86 Abs. 2 StGB). Bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe ist die bedingte Entlassung nach Absatz 1 frühestens nach 15 Jahren möglich (Art. 86 Abs. 5 StGB).  
 
1.3.2.  
 
1.3.2.1. Nach Art. 5 Abs. 4 EMRK hat jede Person, die festgenommen oder der die Freiheit entzogen ist, das Recht zu beantragen, dass ein Gericht innerhalb kurzer Frist über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs entscheidet und ihre Entlassung anordnet, wenn der Freiheitsentzug nicht rechtmässig ist.  
 
1.3.2.2. Laut Art. 190 BV sind Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.  
 
1.3.3. Im Kanton Aargau regelt der Regierungsrat den Straf- und Massnahmenvollzug, der den Kantonen obliegt, durch Verordnung (vgl. § 46 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zur Schweizerischen Strafprozessordnung des Kantons Aargau vom 16. März 2010 [EG StPO/AG; SAR 251.200]). Für den Straf- und Massnahmenvollzug inklusive Entscheide über Entlassungen bezeichnet er grundsätzlich das Departement Volkswirtschaft und Inneres als zuständige Behörde (vgl. § 4 der Strafvollzugsverordnung des Kantons Aargau vom 9. Juli 2003 [SMV/AG; SAR 253.111]). Dessen Entscheide betreffend die Entlassung aus dem Straf- und Massnahmenvollzug unterliegen der Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau (§ 55a Abs. 2 EG StPO/AG und § 102 Abs. 3 SMV/AG).  
 
1.4. Die Rüge des Beschwerdeführers, der die gesetzliche Zuständigkeitsordnung bewusst nicht einhält, geht fehl. Zwar führt das gesetzlich vorgesehene vorgeschaltete verwaltungsinterne Verfahren zu einer gewissen Verzögerung der richterlichen Kontrolle der Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs. Dies ist indessen nicht von vornherein und zwingend mit Art. 5 Abs. 4 EMRK unvereinbar. Ungeachtet der Fragen, ob bereits das Obergericht des Kantons Aargau mit seinem Entscheid vom 12. November 1998 über die Rechtmässigkeit der Freiheitsstrafe des Beschwerdeführers im Sinne der genannten Bestimmung befunden hatte und ob dieser mit der jährlichen Überprüfung der bedingten Entlassung hinreichend nachgekommen wird, ist vielmehr entscheidwesentlich, dass die kantonalen Behörden ihren Entscheid innert nützlicher Frist unter Beachtung des Beschleunigungsgebots fällen. Dies lässt sich vorliegend aufgrund der Weigerung des Beschwerdeführers, den gesetzlich vorgesehen Instanzenzug zu durchlaufen, nicht überprüfen. Eine Änderung der geltenden Zuständigkeiten unter Einschluss des Rechtsmittelwegs würde dem kantonalen Gesetzgeber obliegen. Es ist nicht Sache der kantonalen Behörden und Gerichtsinstanzen oder des Bundesgerichts, entgegen geltender gesetzlicher Regelung Zuständigkeiten oder Rechtsmittelwege zu schaffen (vgl. Urteile 6B_1166/2020 vom 5. November 2020 E. 3.4; 6B_509/2015 vom 10. Juni 2015 E. 2.4).  
Aus dem angefochtenen Entscheid ergibt sich sodann nicht, dass der Beschwerdeführer seine weiteren Einwände schon im vorinstanzlichen Verfahren erhob (vgl. angefochtenes Urteil, E. I. 2. S. 5 f.). Es ist nicht Sache des Bundesgerichts, in den Verfahrensakten nach Belegstellen für unsubstanziierte Vorbringen zu forschen. Entsprechend kann auf die weiteren vor Bundesgericht vorgetragenen Einwände mangels Ausschöpfung des kantonalen Instanzenzugs nicht eingetreten werden (vgl. Art. 80 Abs. 1 BGG). Ohnehin ist nicht ersichtlich, inwiefern Art. 190 BV den rechtsanwendenden Behörden erlauben würde, die gesetzliche Zuständigkeitsordnung zu umgehen, zumal wie dargelegt nicht von vornherein klar ist, dass deren Einhaltung zu einer Verletzung der in Art. 5 Abs. 4 EMRK vorgesehenen kurzen Frist führt. Die vom Beschwerdeführer gleicherweise erst vor Bundesgericht beanstandeten angeblichen Verletzungen seiner Ansprüche auf rechtliches Gehör sowie auf ein faires Verfahren gehen im Übrigen nicht über die gerügte Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK hinaus. Sie resultierten ebenfalls aus seiner Weigerung, den gesetzlich vorgesehenen Instanzenzug zu durchlaufen resp. aus der Einreichung seines Entlassungsgesuchs direkt bei der Vorinstanz und wären deshalb ebenso wenig stichhaltig. 
 
2.   
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Die Gerichtskosten sind ausgangsgemäss dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist in Anwendung von Art. 64 BGG wegen Aussichtslosigkeit abzuweisen. Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers ist mit reduzierten Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 4. März 2021 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Weber