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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_5/2023  
 
 
Urteil vom 4. August 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterin Viscione, Bundesrichter Métral, 
Gerichtsschreiber Grünenfelder. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Lorenz Ineichen, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 21. Oktober 2022 (IV.2021.00762). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1972 geborene A.________ meldete sich Ende Juli 2019 wegen einer schizoaffektiven Störung bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich führte medizinische und erwerbliche Abklärungen durch. Am 26. Juni 2020 auferlegte sie A.________ einen Suchtmittelentzug unter psychotherapeutischer und -pharmakologischer Begleitung. Die in Aussicht gestellte Überprüfung dieser Massnahme durch eine Haaranalyse ergab rund ein halbes Jahr später einen starken bis sehr starken Konsum von Methamphetaminen und Amphetaminen. Die Verwaltung veranlasste daraufhin bei Dr. med. B.________ ein psychiatrisches Gutachten vom 26. Mai 2021. Mit Verfügung vom 15. November 2021 verneinte sie einen Leistungsanspruch. 
 
B.  
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich holte bei Dr. med. B.________ eine ergänzende Stellungnahme vom 22. September 2022 ein. Nachdem es A.________ davon Kenntnis gegeben hatte, wies es dessen Beschwerde mit Urteil vom 21. Oktober 2022 ab. 
 
C.  
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Urteils sei ihm ab dem 1. November 2020 eine ganze Invalidenrente auszurichten. Eventualiter sei die Sache zwecks ergänzender Sachverhaltsabklärung und anschliessender Neuverfügung an die IV-Stelle zurückzuweisen. Sodann ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). 
Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Rentenverfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) sowie des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar (BGE 148 V 174 E. 4.1). 
 
3.  
Das im bundesgerichtlichen Verfahren erstmals eingereichte ärztliche Zeugnis der Klinik C.________ vom 4. Januar 2023 datiert nach dem angefochtenen Urteil und stellt damit ein echtes Novum dar, welches gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG unbeachtlich bleibt (BGE 143 V 19 E. 1.2 mit Hinweisen). 
 
4.  
 
4.1. In materieller Hinsicht ist streitig und zu prüfen, ob die vorinstanzliche Verneinung einer psychiatrisch bedingten Einschränkung der Arbeitsfähigkeit im Sinne des Bundesrechts stand hält.  
 
4.2. Die für die Beurteilung der Streitsache massgeblichen rechtlichen Grundlagen sind im angefochtenen Urteil zutreffend dargelegt. Dies betrifft namentlich die Bestimmungen und die Rechtsprechung über die Invalidität, vor allem bei psychischen Gesundheitsschäden (Art. 6 ff. ATSG, Art. 4 Abs. 1 IVG; BGE 145 V 361 und 215; 143 V 409 und 418; 141 V 281), zum Rentenanspruch (Art. 28 IVG) sowie hinsichtlich der Beweiskraft und Beweiswürdigung medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 143 V 124 E. 2.2.2; 137 V 210 E. 1.3.4; 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a und b). Darauf wird verwiesen.  
 
4.3. Die gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit beziehen sich auf Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2). Ebenso betrifft die konkrete Beweiswürdigung Tatfragen. Um frei überprüfbare Rechtsfragen geht es hingegen, soweit die unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen, die Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 und 61 lit. c ATSG) und die Anforderungen an den Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten beanstandet werden (statt vieler: Urteil 8C_153/2021 vom 10. August 2021 E. 1.3 mit Hinweisen).  
 
5.  
Die Vorinstanz hat der psychiatrischen Expertise des Dr. med. B.________ vom 26. Mai 2021 Beweiswert zuerkannt, wonach dem Beschwerdeführer bis auf die stationären Behandlungen keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit attestiert werden könne. Sie hat die gutachterliche Einschätzung im Wesentlichen insoweit übernommen, als keine Hinweise auf prämorbide psychische Störungen mit Krankheitswert bestünden. Die Symptome müssten vielmehr im Lichte der mittels Haaranalyse bestätigten Amphetaminabhängigkeit ausschliesslich als amphetamininduzierte, wiederkehrende Psychosen interpretiert werden. Der Beschwerdefüher verfüge aber - so Dr. med. B.________ weiter - über genügend intellektuelle und persönliche Ressourcen, um sich mit seiner Amphetaminabhängigkeit funktionell auseinanderzusetzen, was zur Verbesserung seiner Lebensqualität und letztlich zur Erhaltung einer vollen Arbeitsfähigkeit führen sollte. Daher hat das kantonale Gericht in antizipierter Beweiswürdigung auf ergänzende Abklärungen verzichtet (vgl. BGE 144 V 361 E. 6.5; 136 I 229 E. 5.3) und die Verfügung vom 15. November 2021 bestätigt. 
 
6.  
 
6.1. Wie der Beschwerdeführer zu Recht einwendet, sind die im kantonalen Verfahren verurkundeten Berichte der Klinik C.________ vom 1. März und 29. Juni 2022 sowie des Spitals D.________ vom 22. März 2022 zu berücksichtigen, da sie Rückschlüsse auf die im Zeitpunkt des Verfügungserlasses (15. November 2021) gegebene Situation erlauben (vgl. statt vieler: Urteil 8C_414/2019 vom 25. September 2019 E. 2.2.2 mit Hinweis auf BGE 121 V 362 E. 1b in fine). So gingen insbesondere die behandelnden Fachärzte der Klinik C.________ davon aus, beim Beschwerdeführer sei es zu einer psychotischen Exazerbation (bei) "vorbekannter paranoider Schizophrenie, DD schizoaffektiver Störung" gekommen.  
 
6.2. Abgesehen davon stellten nahezu sämtliche behandelnde Fachärzte bereits vor dem Abschluss des Verwaltungsverfahrens - und der Begutachtung vom 26. Mai 2021 - entsprechende Diagnosen im Rahmen eines schizoaffektiven Störungsbildes (vgl. Berichte der Klinik E.________ vom 8. März 2018, der Klinik F.________ vom 12. März 2018, des Sanatoriums G.________ vom 19. Juli 2019 sowie der behandelnden Psychiater Dres. med. H.________ vom 7. November 2019 und I.________ vom 24. August 2020). Zwar stand der Beschwerdeführer im Zeitpunkt dieser Berichterstattungen mehrheitlich unter dem Einfluss verschiedener Suchtmittel, was nicht zuletzt die Haaranalyse vom 2. November 2020 hinsichtlich Amphetamine und Methamphetamine bestätigte. Indessen trat die bereits vordiagnostizierte schizoaffektive Störung trotz Abstinenz und psychopharmakologischer Behandlung gemäss den eingangs (E. 6.1 hievor) erwähnten Unterlagen nicht nur erneut auf, sondern verstärkte sich zusehends. Der Beschwerdedeführer befand sich denn auch vom 24. Januar bis Mitte Juni 2022 bis auf knapp drei Wochen praktisch durchgehend in stationärer psychiatrischer Behandlung. Laut Einschätzung der Klinik C.________ sei "bei langjährigen frustranen Versuchen, eine medikamentöse Remission zu erreichen", eine therapieresistente paranoide Schizophrenie festgestellt (respektive bestätigt) worden. Eine nennenswerte Amphetaminkonzentration oder ein anderweitiger Substanzmissbrauch war zu diesem Zeitpunkt im Labor nicht nachweisbar (vgl. Austrittsbericht vom 29. Juni 2022). Vor diesem Hintergrund erscheint die zentrale Begründung des Dr. med. B.________, die festgestellten psychotischen Symptome würden sich beim Beschwerdeführer unter antipsychotischer Behandlung und gesicherter Amphetaminabstinenz jeweils rasch ("bis 1 Woche") zurückbilden, offenkundig überholt. Zu erinnern ist ausserdem daran, dass die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, Bezirk U.________, den Beschwerdeführer am 14. Juli 2022 unter Vertretungsbeistandschaft (Art. 394 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 395 Abs. 1 ZGB) stellte.  
 
6.3. Daher ist der Schluss auf eine fehlende invalidisierende Gesundheitsschädigung, wie ihn die Vorinstanz gezogen hat, aus rechtlicher Sicht nicht haltbar. Vielmehr liegen konkrete Indizien vor, welche gegen die Zuverlässigkeit des psychiatrischen Gutachtens vom 26. Mai 2021 sprechen (vgl. BGE 135 V 465 E. 4.4; Urteil 9C_18/2019 vom 14. Juni 2019 E. 2.2 mit Hinweisen). Die gegenteilige Schlussfolgerung des kantonalen Gerichts erweist sich somit als rechtsfehlerhaft.  
 
7.  
Zusammenfassend beruht das angefochtene Urteil auf einem in medizinischer Hinsicht offensichtlich unrichtig, da unvollständig festgestellten Sachverhalt, was eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1 und 61 lit. c ATSG) darstellt. Die Beschwerdegegnerin hatte bereits ein (monodisziplinäres) psychiatrisches Gutachten veranlasst. Folglich ist es entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers durchaus angezeigt, die Sache zur Einholung ergänzender medizinischer Auskünfte an die Vorinstanz zurückzuweisen (vgl. dazu: BGE 139 V 349 E. 5.3 mit Hinweis auf BGE 137 V 210). Diese hat - nachdem die gutachterliche Stellungnahme vom 22. September 2022 einzig die Berichtigung eines Schreibfehlers betraf - dem psychiatrischen Experten Dr. med. B.________ die im Verwaltungsverfahren eingegangenen psychiatrischen Berichte der Klinik C.________ und des Spitals D.________ zur ergänzenden (inhaltlichen) Stellungnahme vorzulegen; allenfalls ist ein psychiatrisches Gerichtsgutachten in Auftrag zu geben. Auf die weiteren Vorbringen in der Beschwerde braucht bei diesem Ergebnis nicht weiter eingegangen zu werden. 
 
8.  
Die Rückweisung der Sache zur weiteren Abklärung und Neuentscheidung gilt als Obsiegen, unabhängig davon, ob sie beantragt und ob das entsprechende Begehren im Haupt- oder im Eventualantrag gestellt wird (BGE 141 V 281 E. 11.1). Die Gerichtskosten sind deshalb der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ausserdem hat sie dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das letztinstanzliche Verfahren ist bei diesem Prozessausgang gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 21. Oktober 2022 aufgehoben. Die Sache wird an das kantonale Gericht zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 4. August 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünenfelder