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[AZA 0] 
1P.312/2000/boh 
 
I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG 
********************************** 
 
4. September 2000 
 
Es wirken mit: Bundesrichter Aemisegger, Präsident der 
I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter Nay, Bundesrichter 
Féraud und Gerichtsschreiber Störi. 
 
--------- 
 
In Sachen 
S.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Hugo Camenzind, Untertor 11, Winterthur, 
 
gegen 
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, Kassationsgericht des Kantons Zürich, 
 
betreffend 
Art. 9 BV (Strafverfahren), hat sich ergeben: 
 
A.- Am 19. Januar 1998 klagte die Bezirksanwaltschaft Meilen S.________ (u.a.) wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz an. Sie warf ihm Folgendes vor: 
 
"Am Morgen des 20. Mai 1997 nahm der Angeklagte seinen 
Bekannten M.________ in seinem PW XX XXXXX von 
Basel nach Zürich mit, wohin er seine Schwester zu 
einem Kassenkurs im Dennergebäude bringen sollte. 
Dies tat er im Wissen darum, dass M.________ mit 
Drogen handelt und am selben Morgen bei einem 
P.________ in Basel gewesen war, der ihm ebenfalls 
als Drogenhändler bekannt war. 
 
Auf dem dortigen Parkplatz (nachdem seine Schwester 
gegangen war) holte M.________ im Fahrzeuginneren 
eine erhebliche Menge Heroin und Streckmittel hervor, 
wobei der Angeklagte zumindest annahm, dass 
M.________ diese Betäubungsmittel zuvor bei 
P.________ bezogen hatte. Der Angeklagte half 
M.________ dabei, das Heroin zu strecken, indem er 
ihm einen grösseren Plasticksack aufhielt. Es handelte 
sich dabei um 243, 9 Gramm Gemisch, netto ca. 
73 Gramm reines Heroin-Hydrochlorid, also um eine 
Menge, von der auch Laien wissen müssen, dass sie 
die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen 
kann. 
 
Im Wissen um diesen Sachverhalt wollte er daraufhin 
M.________ auf dessen Verlangen und gegen eine Entschädigung 
in seinem Wagen nach Rapperswil führen, 
wo, wie er wusste, ein Abnehmer/Händler auf die 
Drogen wartete.. " 
 
Das Bezirksgericht Meilen verurteilte S.________ am 3. Juni 1998 (u.a.) wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz im Sinne von Art. 19 Ziff. 1 Abs. 2, 3, und 5 BetmG i.V.m. Art. 19 Ziff. 2 lit. a BetmG zu 2 1/2 Jahren Gefängnis und 8 Jahren Landesverweisung. Das Gericht hielt folgenden Sachverhalt für erstellt (Ziff. 6 S. 8): 
 
 
"Am 20. Mai 1997 hat der Angeklagte auf dem Parkplatz 
vor dem Dennergebäude in Zürich M.________ 
geholfen, den Inhalt von zwei Säckchen in ein 
drittes umzuleeren. Es war ihm bewusst, dass es 
sich dabei um eine Menge von insgesamt 250 g Heroingemisch 
handelte, und es war ihm klar, dass 
diese Menge eine grössere Anzahl einzelner Portionen 
ergab. Anschliessend fuhr er M.________ auf 
dessen Verlangen gegen das Angebot einer Belohnung 
nach Rapperswil, wurde aber unterwegs von der Kantonspolizei 
Zürich gestoppt.. " 
 
Mit Urteil vom 1. März 1999 bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich auf Berufung von S.________ hin dessen Verurteilung wegen der Betäubungsmitteldelikte, reduzierte indessen die Strafe wegen eines Freispruches in einem hier nicht interessierenden Punkt auf 2 Jahre Gefängnis und schob den Vollzug der Landesverweisung auf. 
 
Das Obergericht ging davon aus, dass sowohl S.________ als auch M.________ "schon bei ihrer Abreise in Basel vom im Auto zu transportierenden Heroin gewusst haben und dieses in Rapperswil absetzen wollten. Zumindest kann ihnen ein Wissen im Sinne des Eventualvorsatzes ("mit der Möglichkeit rechnen") unterstellt werden" (S. 10). 
 
B.-Das Kassationsgericht des Kantons Zürich wies die Nichtigkeitsbeschwerde S.________s gegen den Entscheid des Obergerichts ab, soweit es darauf eintrat. 
 
C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9 BV beantragt S.________, diesen Beschluss des Kassationsgerichtes aufzuheben. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung. Er macht im Wesentlichen geltend, dass er das "Heroin weder erworben noch auf andere Weise beschafft und insbesondere von dessen Existenz bei der Abfahrt in Basel nichts gewusst" habe, bis er in Zürich von M.________ aufgefordert worden sei, ihm beim Umfüllen bzw. Mischen von Streckmittel und Heroin durch Aufhalten eines Sackes zu helfen. Etwas anderes werde ihm in der Anklageschrift nicht vorgeworfen, weshalb er von Anfang an geltend gemacht habe, sein Tatbeitrag sei als Gehilfenschaft zu qualifizieren (angefochtenes Urteil Ziff. 3 S. 4 f.). 
 
Die Staatsanwaltschaft, das Obergericht und das Kassationsgericht verzichten auf Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- a) Beim angefochtenen Urteil des Kassationsgerichtes handelt es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist durch die strafrechtliche Verurteilung in seinen rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), und er macht die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten geltend. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt, sodass auf die Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c; 121 I 334 E. 1c), einzutreten ist. 
 
b) Nicht eingetreten werden kann auf die Rüge, das Obergericht habe auf Erörterungen darüber verzichtet, welche der in Art. 19 Ziff. 1 Abs. 3 und 5 BetmG aufgezählten Tatbestandsvarianten die einzelnen der ihm vorgeworfenen deliktischen Handlungen erfüllten, weshalb es die Begründungspflicht verletzt habe. Die Rüge betrifft, worauf der Beschwerdeführer schon durch den Nichteintretensentscheid des Kassationsgerichts aufmerksam gemacht wurde, die rechtliche Subsumtion und damit eine Frage der Anwendung des materiellen Bundesrechts, dessen Verletzung mit Nichtigkeitsbeschwerde beim Kassationshof zu rügen ist (Art. 269 Abs. 1 BstP) und damit in einer staatsrechtlichen Beschwerde nicht vorgebracht werden kann (Art. 84 Abs. 2 OG). 
 
2.- a) Der Anklagegrundsatz verteilt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Aufgaben zwischen den Untersuchungs- bzw. Anklagebehörden einerseits und den Gerichten andererseits. Er bestimmt den Gegenstand des Gerichtsverfahrens. 
Die Anklage hat die dem Angeklagten zur Last gelegten Delikte in ihrem Sachverhalt so präzise zu umschreiben, dass die Vorwürfe genügend konkretisiert sind. Das Anklageprinzip bezweckt zugleich den Schutz der Verteidigungsrechte des Angeschuldigten und dient dem Anspruch auf rechtliches Gehör (BGE 120 IV 348 E. 2b mit Hinweisen). Nach Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK hat der Angeschuldigte Anspruch darauf, in möglichst kurzer Frist über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden. Diese Angaben schliessen es allerdings nicht aus, dass eine spätere Verurteilung wegen eines gleichartigen oder geringfügigeren Delikts erfolgt. Das Gericht ist an den in der Anklage wiedergegebenen Sachverhalt gebunden, nicht aber an dessen rechtliche Würdigung durch die Anklagebehörde (BGE 126 I 19 E. 2a mit Hinweisen). 
 
b) In der Anklageschrift wird dem Beschwerdeführer nicht ausdrücklich vorgeworfen, schon zu Beginn der Fahrt, als er M.________ zusteigen liess, gewusst zu haben, dass die Fahrt nach Zürich bzw. Rapperswil dem Transport bzw. der Streckung und der Verteilung von Heroin dienen sollte. Die Anklage führt dazu lediglich aus, der Beschwerdeführer habe gewusst, dass M.________ mit Drogen handle und dass er am gleichen Morgen einen Drogenhändler besucht hatte. 
 
Nach der vom Kassationsgericht im angefochtenen Entscheid geschützten Auffassung des Obergerichts ergibt sich indessen aus den beiden Feststellungen - der Beschwerdeführer habe gewusst, dass M.________ mit Drogen handle und vor der Fahrt einen Drogenhändler besucht habe -, dass der Beschwerdeführer bereits ab Basel zumindest mit der Möglichkeit rechnete, an einem Herointransport mitzuwirken. Diese Auffassung ist vertretbar. Diese Feststellungen in einer Anklageschrift konnten und mussten dahin verstanden werden, dass dem Angeklagten ein entsprechendes strafbares Verhalten vorgeworfen werde. Dass sich der Verteidiger, wie das Kassationsgericht anführt, vor Obergericht mit dieser Thematik befasste, zeigt auch, dass ihm dies nicht verborgen blieb. 
Das Kassationsgericht hat daher das Anklageprinzip nicht verletzt, indem es das obergerichtliche Vorgehen schützte. 
Die Rüge ist unbegründet. 
 
c) Der Beschwerdeführer rügt in einer den gesetzlichen Anforderungen allerdings nur knapp genügenden Weise, das Obergericht habe das Anklageprinzip in einer bedeutend weiter gehenden Weise verletzt: Es habe erwogen, sowohl der Beschwerdeführer als auch M.________ hätten schon bei der Abfahrt in Basel gewusst, dass sie Drogen transportieren würden und diese in Rapperswil absetzen wollten. Daraus habe es gefolgert, dass es keine Rolle spiele, welcher der beiden die Drogen besorgt und wer auf wessen Weisung gehandelt habe. Damit habe es den Beschwerdeführer mit dem Beschuldigten M.________ hinsichtlich Tatbeitrag auf die gleiche Stufe gesetzt. Die Anklageschrift gehe dagegen klarerweise von einer gegenteiligen Rollenverteilung aus, das Obergericht habe daher eine unzulässige Ausweitung des Tatvorwurfs vorgenommen. 
 
Diese Rüge hat der Beschwerdeführer indessen sinngemäss schon dem Kassationsgericht unterbreitet, welches darauf wegen unzureichender Begründung nicht eingetreten ist (angefochtener Entscheid E. 2b zweiter Absatz S. 6). Der Beschwerdeführer rügt das nicht als willkürlich. In Bezug auf diese Rüge ist damit der Instanzenzug materiell nicht ausgeschöpft (Art. 86 Abs. 1 OG; Marc Forster, in: Geiser/ Münch (Hrsg.), Prozessieren vor Bundesgericht, 2. Aufl. , Basel 1998, Rz. 2.14; Karl Spühler, Die Praxis der staatsrechtlichen Beschwerde, Bern 1994, Rz. 108 f., je mit Hinweisen), weshalb darauf nicht eingetreten werden kann. 
 
3.- Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat grundsätzlich der Beschwerdeführer die Kosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). Er hat jedoch ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da seine Mittellosigkeit dargetan ist und die Beschwerde nicht aussichtslos war (Art. 152 Abs. 1 und 2 OG). Dementsprechend sind keine Kosten zu erheben, und Rechtsanwalt Hugo Camenzind ist als unentgeltlicher Verteidiger einzusetzen und aus der Gerichtskasse angemessen zu entschädigen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen: 
 
a) Es werden keine Kosten erhoben. 
b) Rechtsanwalt Hugo Camenzind, Winterthur, wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter eingesetzt und aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt. 
 
3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft, dem Obergericht, I. Strafkammer, und dem Kassationsgericht des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt. 
 
______________ 
Lausanne, 4. September 2000 
 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS 
Der Präsident: 
 
Der Gerichtsschreiber: