Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
1C_411/2022, 1C_413/2022
Urteil vom 5. Juli 2024
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Kneubühler, Präsident,
Bundesrichter Haag, Merz,
Gerichtsschreiberin Dambeck.
Verfahrensbeteiligte
Swisscom (Schweiz) AG,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Rita Kalisch,
gegen
Politische Gemeinde Romanshorn,
Bahnhofstrasse 19, Postfach 36, 8590 Romanshorn,
Amt für Umwelt des Kantons Thurgau, Verwaltungsgebäude Promenade, Postfach, 8510 Frauenfeld,
Departement für Bau und Umwelt des Kantons Thurgau,
Generalsekretariat, Verwaltungsgebäude, Promenade, Postfach, 8510 Frauenfeld.
Gegenstand
Baubewilligung Mobilfunkanlage auf der Liegenschaft Nr. 2495; Nebenbestimmung,
Beschwerden gegen die Entscheide des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 4. Mai 2022 (VG.2021.115/E; VG.2021.116/E).
Sachverhalt:
A.
Die Swisscom (Schweiz) AG reichte am 27. Mai 2019 ein Baugesuch bei der Politischen Gemeinde Romanshorn ein für die Erstellung einer Mobilfunkanlage und den Ersatz eines Beleuchtungskandelabers auf der Liegenschaft Nr. 2495, Grundbuch Romanshorn.
Mit Entscheiden vom 28. Mai 2021 wies das Departement für Bau und Umwelt des Kantons Thurgau die dagegen erhobenen Einsprachen ab und erteilte die Baubewilligung für den Neubau der Mobilfunkanlage sowie den Ersatz der Beleuchtungsanlage. Als Nebenbestimmung ordnete es unter anderem an:
"Die Anpassung der vorliegend bewilligten Mobilfunkanlage an den Nachtrag des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) zur Vollzugsempfehlung zur NISV für Mobilfunk- und WLL-Basisstationen vom 23. Februar 2021 setzt eine ordentliche Baubewilligung voraus."
Die Swisscom (Schweiz) AG erhob dagegen Beschwerden an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau. Sie beantragte, die Nebenbestimmung, wonach die Anpassung der bewilligten Mobilfunkanlage an den Nachtrag eine ordentliche Baubewilligung voraussetze, sei zu streichen. Das Verwaltungsgericht wies die Beschwerden mit Entscheiden vom 4. Mai 2022 ab.
B.
Gegen diese Entscheide gelangt die Swisscom (Schweiz) AG mit Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 11. Juli 2022 an das Bundesgericht und beantragt die Aufhebung der verwaltungsgerichtlichen Entscheide; die Nebenbestimmungen der Entscheide des Departements für Bau und Umwelt, wonach die Anpassung der bewilligten Mobilfunkanlage an den Nachtrag eine ordentliche Baubewilligung voraussetze, sei aufzuheben.
Die Politische Gemeinde Romanshorn und das kantonale Amt für Umwelt verzichten auf eine Vernehmlassung. Die Vorinstanz beantragt die Abweisung der Beschwerden. Die Beschwerdeführerin reicht am 7. Dezember 2022 eine Stellungnahme und ein Informationsschreiben des Amts für Umwelt ein. Mit letzterem seien die Gemeinden darüber informiert worden, dass die Inbetriebnahme des Korrekturfaktors lediglich durch ein Meldeverfahren an das Amt für Umwelt zu erfolgen habe und keines erneuten Baubewilligungsverfahrens bedürfe. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) lässt sich mit Eingaben vom 25. Januar 2023 vernehmen. Die Beschwerdeführerin äussert sich dazu mit Eingaben vom 20. März 2023 und hält an ihren Beschwerdeanträgen fest. Weitere Stellungnahmen gingen nicht ein.
Erwägungen:
1.
Die Verfahren 1C_411/2022 und 1C_413/2022 haben eine gleichlautende Nebenbestimmung in den Baubewilligungen für eine Mobilfunkanlage auf der Liegenschaft Nr. 2495, Grundbuch Romanshorn, zum Gegenstand. Inhaltlich werden die gleichen Rechtsfragen aufgeworfen. Die beiden Verfahren sind daher zu vereinigen und die Sache ist in einem einzigen Urteil zu behandeln (vgl. Art. 71 BGG i.V.m. Art. 24 BZP [SR 273]).
2.
Angefochten sind zwei kantonal letztinstanzliche Endentscheide im Bereich des Bau- und Umweltschutzrechts. Dagegen steht grundsätzlich die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht offen (Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 sowie Art. 90 BGG ); ein Ausnahmegrund im Sinne von Art. 83 ff. BGG liegt nicht vor. Die Beschwerdeführerin ist in den vorinstanzlichen Verfahren unterlegen und als Baugesuchstellerin sowie Adressatin der angefochtenen Entscheide gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG zur Beschwerde legitimiert. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerden einzutreten.
3.
3.1. Die Vorinstanz hielt zusammenfassend fest, durch den Betrieb der adaptiven Antennen nach der Anpassung an den Nachtrag des BAFU vom 23. Februar 2021 zur Vollzugsempfehlung zur Verordnung über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV) für Mobilfunk- und WLL-Basisstationen des Bundesamts für Umwelt, Wald und Landschaft, 2002 (nachfolgend: Vollzugsempfehlung Adaptive Antennen) könne die Überschreitung des Anlagegrenzwerts an einem Ort mit empfindlicher Nutzung (OMEN) jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Die Einhaltung der Grenzwerte gemäss NISV entspreche jedoch einem wichtigen öffentlichen Interesse. Das kantonale Recht dürfe solche Anpassungen grundsätzlich der Baubewilligungspflicht unterstellen. Daher bestehe ein Interesse daran, klarzustellen, dass die Anpassung der Mobilfunkantenne an die Vollzugsempfehlung Adaptive Antennen eine ordentliche Baubewilligung voraussetze. Die als Auflage formulierte Feststellung des Departements, wonach die Anpassung der bewilligten Mobilfunkanlage an die Vollzugsempfehlung Adaptive Antennen eine ordentliche Baubewilligung voraussetze, sei daher zulässig.
3.2. Die Beschwerdeführerin bringt vor, das Standortdatenblatt betreffend die Antennen der bewilligten Mobilfunkanlage sei vor dem Erscheinen der Vollzugsempfehlung Adaptive Antennen erstellt worden. Der Korrekturfaktor und die damit verbundenen Anforderungen bildeten daher nicht Gegenstand der erteilten Baubewilligung. Gleichwohl habe das Departement die Baubewilligung mit der Nebenbestimmung gemäss Dispositiv-Ziffer 3.2.1 versehen. Diese habe bereits der Übergangsregelung gemäss Vollzugsempfehlung Adaptive Antennen widersprochen, verletze aber auch die in der Folge erlassenen, gleichlautenden Übergangsbestimmungen gemäss Ziff. 62 Abs. 5
bis Anhang 1 und Ziff. 63 Abs. 4 Anhang 1 der Verordnung vom 23. Dezember 1999 über den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (NISV; SR 814.710). Zur Begründung ihrer Vorbringen zitiert die Beschwerdeführerin aus einem Entscheid des Baurekursgerichts des Kantons Zürich und führt aus, die Anwendung neuen materiellen Rechts könne insbesondere aus Gründen der öffentlichen Ordnung bzw. der Rechtssicherheit angezeigt sein. Neues Verfahrensrecht sei demgegenüber in aller Regel sofort anzuwenden. Als letzteres sei Ziff. 62 Abs. 5
bis Anhang 1 NISV einzustufen. Aus Art. 22 Abs. 1 RPG (SR 700) lasse sich einzig unter dem Titel des Immissionsschutzes keine Baubewilligungspflicht ableiten. Die genannten Bestimmungen in der NISV würden damit übergangen, was keinen Rechtsschutz verdiene und der derogatorischen Kraft des Bundesrechts widerspreche.
3.3. In der Vollzugsempfehlung Adaptive Antennen ist folgende Übergangsregelung vorgesehen (S. 6) :
"Bereits vor Inkrafttreten dieses Nachtrags zur Vollzugshilfe sind adaptive Antennen mittels "worst case"-Betrachtung bewilligt worden. Die Anpassung des Betriebs dieser Antennen an den Nachtrag gilt nicht als Änderung im Sinne von Anhang 1 Ziffer 62 Absatz 5 NISV, wenn die bewilligte Sendeleistung ERP unter Berücksichtigung des Korrekturfaktors nicht ändert. Gemäss Artikel 11 Absatz 2 Buchstabe b NISV ist im Standortdatenblatt der massgebende Betriebszustand nach Anhang 1 zu dokumentieren. Mit der Anwendung des Nachtrags wird der massgebende Betriebszustand mit zwei Parametern ergänzt [...]. Es ist der Behörde daher ein aktualisiertes Standortdatenblatt nachzureichen."
Die in der Folge erlassene Ziff. 62 Abs. 5
bis Anhang 1 NISV lautet:
"Die Anwendung eines Korrekturfaktors nach Ziffer 63 Absatz 2 bei bestehenden adaptiven Sendeantennen gilt nicht als Änderung einer Anlage."
In Ziff. 63 Abs. 4 Anhang 1 NISV wurde zudem Folgendes geregelt:
"Wird bei bestehenden adaptiven Sendeantennen ein Korrekturfaktor K AA angewendet, so reicht der Inhaber der Anlage der zuständigen Behörde ein aktualisiertes Standortdatenblatt ein."
3.4. Das Bundesgericht hat sich im zur amtlichen Publikation vorgesehenen Urteil 1C_506/2023 vom 23. April 2024 mit der Baubewilligungspflicht bei der Anwendung eines Korrekturfaktors bei Mobilfunkanlagen mit adaptiven Antennen, die nach dem "worst case-Szenario" beurteilt wurden, auseinandergesetzt. Es erwog, die Anwendung eines Korrekturfaktors führe zu Leistungsspitzen, die deutlich über der bisherigen maximalen Sendeleistung liegen könnten. Die bewilligte Sendeleistung müsse nur noch gemittelt über 6 Minuten eingehalten werden. Die für einen OMEN berechnete elektrische Feldstärke könne dadurch kurzfristig um maximal den Faktor 3 übertroffen werden. Diese faktische Änderung des Betriebs begründe regelmässig ein Interesse der Anwohnerschaft und der Öffentlichkeit an einer vorgängigen Kontrolle, ob die Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt seien. Die Anwendung eines Korrekturfaktors bedeute mindestens eine Abschwächung der bisher geltenden, vorsorglichen Emissionsbegrenzung ("worst case-Szenario") im Sinne von Art. 11 Abs. 2 USG, was die zuständigen Behörden und Gerichte überprüfen können müssten (zit. Urteil E. 4.2). Den betroffenen Personen sei zudem das rechtliche Gehör und der Rechtsschutz in zumutbarer Weise zu gewährleisten (zit. Urteil E. 4.3). Das Bundesgericht kam daher zum Schluss, die Anwendung eines Korrekturfaktors auf bisher nach dem "worst case-Szenario" beurteilte Mobilfunkanlagen mit adaptiven Antennen setze eine Baubewilligung voraus. Dem stehe Ziff. 62 Abs. 5
bis Anhang 1 NISV nicht entgegen. Diese Bestimmung enthalte keine Aussage zur Baubewilligungspflicht. Aus dem Umstand, dass die Anwendung eines Korrekturfaktors bei bestehenden adaptiven Sendeantennen nicht als Änderung einer Anlage im Sinne der NISV gelte, könne nicht geschlossen werden, dass eine Baubewilligung in keinem Fall erforderlich sei (zit. Urteil E. 4.4).
Der gegenteiligen Auffassung der Beschwerdeführerin kann demnach nicht gefolgt werden. Weshalb die angeordnete Nebenbestimmung aus anderen Gründen nicht zulässig sein soll, zeigt sie nicht auf. Aus ihren Vorbringen zum "intertemporalen Recht" kann sie nichts zu ihren Gunsten ableiten. Die Entscheide der Vorinstanz halten somit vor Bundesrecht stand.
4.
Nach diesen Erwägungen sind die Beschwerden abzuweisen.
Bei diesem Ausgang der Verfahren sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Es sind keine Parteientschädigungen zuzusprechen ( Art. 68 Abs. 1 und 3 BGG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verfahren 1C_411/2022 und 1C_413/2022 werden vereinigt.
2.
Die Beschwerden werden abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von insgesamt Fr. 3'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Politischen Gemeinde Romanshorn, dem Amt für Umwelt des Kantons Thurgau, dem Departement für Bau und Umwelt des Kantons Thurgau, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Umwelt schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 5. Juli 2024
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Kneubühler
Die Gerichtsschreiberin: Dambeck