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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
6B_1026/2021  
 
 
Urteil vom 5. Oktober 2022  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin, 
Bundesrichterin Koch, 
Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiber Briw. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Obergericht des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, Hochschulstrasse 17, 3012 Bern. 
 
Gegenstand 
Kostenerlassgesuch, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 16. August 2021 (BK 21 372 MOR). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ ersuchte die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Bern in einem Gesuch vom 1. August 2021 um Erlass der ihm mit Beschluss des Obergerichts vom 1. Juni 2021 (BK 21 220) auferlegten Verfahrenskosten von Fr. 800.--. Er begründete, die unmittelbare Konsequenz seiner Strafanzeige sei die Streichung/Reduktion der Ergänzungsleistungen (EL) gewesen. Seit dem 1. Februar 2021 bezögen er und seine Frau Sozialhilfegelder. Sie hätten "Null Mittel", um die Rechnung zu bezahlen. 
Die Beschwerdekammer teilte ihm mit Schreiben vom 6. August 2021 mit, zufolge des damals im Verfahren BK 21 220 unterlassenen Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege komme ein Erlassgesuch nur in Frage, wenn er darlegen könne, dass er erst nach dem Beschluss des Obergerichts in finanzielle Schwierigkeiten geraten bzw. mittellos geworden sei. 
A.________ reichte fristgerecht am 10. August 2021 Unterlagen ein und erklärte, gemäss Art. 119 ZPO könne ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege vor oder nach Eintritt der "Rechtshängigkeit" gestellt werden. Das habe er als "jederzeit" verstanden. Nach Abzug der Miete und der Krankenkassenbeiträge lebten er und seine Frau von Fr. 1'500.-- monatlich. Vermögen sei keines vorhanden. 
 
B.  
Die Beschwerdekammer stellte mit Verfügung vom 16. August 2021 in analoger Anwendung von Art. 395 lit. b StPO die Zuständigkeit ihrer Verfahrensleitung fest, wies das Kostenerlassgesuch ab und erhob keine Kosten. 
 
C.  
A.________ erhebt Beschwerde beim Bundesgericht und beantragt, das Kostenerlassgesuch gutzuheissen, von Kosten abzusehen und ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Massgebend für die Beschwerde in Strafsachen ist die zugrunde liegende Rechtsmaterie (NIKLAUS OBERRHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, Rz. 2189). Die Beschwerde ist zulässig.  
 
1.2. In der Begründung ist in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt (Art. 42 Abs. 2 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht [BGG; SR 173.110]). Die Begründung muss sich mit dem angefochtenen Entscheid auseinandersetzen (BGE 140 III 115 E. 2).  
 
1.3. Aufgrund einer bei Laienbeschwerden üblichen wohlwollenden Betrachtungsweise (Urteil 6B_1066/2019 vom 4. Dezember 2019 E. 2.2; vgl. aber auch Urteil 6B_1417/2020 vom 25. März 2021 E. 4) ist auf die Beschwerde einzutreten. Soweit indes eine Rechtsverletzung nicht geradezu offensichtlich erscheint, ist das Bundesgericht nicht gehalten, wie ein erstinstanzliches Gericht, alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 143 V 19 E. 2.3; 142 I 135 E. 1.5; z.B. Urteil 5A_614/2021 vom 1. Juni 2022 E. 3.1.3, 3.3.1). Es darf auch von Laien erwartet werden, auf die vorinstanzliche Begründung konkret einzugehen (Urteil 6B_728/2021 vom 6. Oktober 2021 E. 1.3). Eine allenfalls nicht geglückte oder rechtsirrtümliche Ausdrucksweise schadet nicht (Urteil 6B_881/2021 vom 27. Juni 2022 E. 1.2).  
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer bringt sinngemäss vor, seine finanzielle Lage als Sozialhilfeempfänger sei der Vorinstanz bekannt gewesen. Er habe sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege aus Unwissenheit zu spät gestellt (oben Sachverhalt A). Dies dürfe der Prüfung eines Härtefalls, der einen Kostenerlass erlaube, nicht entgegenstehen.  
 
2.2. Die Vorinstanz erwägt, die Möglichkeit eines Kostenerlassgesuchs sei subsidiär zum Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und dürfe dessen Voraussetzungen nicht unterlaufen. Sie lehnt das Gesuch ab, weil der Beschwerdeführer vor der Fällung des Beschlusses kein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt habe und nicht darlege, dass er erst nach diesem Beschluss in finanzielle Schwierigkeiten geraten, d.h. mittellos geworden sei. Ein Kostenerlass falle auch deshalb ausser Betracht, weil ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wegen Aussichtslosigkeit hätte abgelehnt werden müssen. Ein Kostenerlass diene selbst bei dauerhafter Mittellosigkeit bzw. bei entsprechendem Nachweis nicht dazu, aussichtslose Prozesse zu finanzieren.  
 
2.3.  
 
2.3.1. Gemäss Art. 425 StPO ("Stundung und Erlass") können Forderungen aus Verfahrenskosten von der Strafbehörde gestundet oder unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der kostenpflichtigen Person herabgesetzt oder erlassen werden.  
 
2.3.2. Nach Art. 10 Abs. 1 lit. a und b des Dekrets betreffend die Verfahrenskosten und die Verwaltungsgebühren der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft (Verfahrenskostendekret, VKD/BE, BSG 161.12) können die auferlegten Verfahrenskosten ganz oder teilweise erlassen oder gestundet werden, sofern (lit. a) die Bezahlung für die Pflichtigen eine unzumutbare Härte darstellt oder (lit. b) die Uneinbringlichkeit feststeht oder anzunehmen ist.  
 
2.3.3. Die Strafprozessordnung belässt den Strafbehörden mit der "Kann-Vorschrift" ein weites Ermessen, in welches das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung eingreift. Es gibt keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Erlass der Gerichtskosten; selbst im Fall eines dauerhaft mittellosen Betroffenen verbleibt es im Ermessen der zuständigen Behörde, ob sie einem Gesuch um Erlass von Gerichtskosten ganz oder teilweise Folge gibt. Weil das Gesetz die mögliche Privilegierung im Sinne von Art. 425 StPO ausdrücklich vorsieht, ist die Bestimmung aber in einer Weise auszulegen und anzuwenden, dass sie nicht toter Buchstabe bleibt. Die konkrete Ausgestaltung der Voraussetzungen von Stundung oder Erlass überlässt das Bundesrecht weitgehend der kantonalen Ausführungsgesetzgebung. Diese Rechtslage hat zur Folge, dass das Bundesgericht - angesichts des weiten Ermessens bei der Anwendung von Art. 425 StPO - eine Stundung oder den Erlass von Verfahrenskosten durchwegs unter Willkürgesichtspunkten prüft, und zwar nicht nur hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen sondern auch der massgebenden Kriterien in den kantonalrechtlichen Ausführungsgesetzgebungen (Urteile 6B_500/2016 vom 9. Dezember 2016 E. 3; 6B_789/2021 vom 6. Juli 2022 E. 4.3, 4.5; 6B_1232/2021 vom 27. Januar 2022 E. 3.4; je mit Hinweisen).  
 
2.3.4. Stundung und Erlass setzen begrifflich voraus, dass zunächst eine Kostenauflage erfolgte. In der Praxis wird durchaus bereits im Urteil auf die wirtschaftliche Lage Rücksicht genommen oder der Kostenentscheid auf den Zeitpunkt des Kostenbezugs im Sinne von Art. 442 StPO verschoben (SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, Rz. 1781). Diese Praxis findet ihre Berechtigung, wenn die Auferlegung oder der Betrag der aufzuerlegenden Kosten als unbillig erscheint oder das Fortkommen bzw. die Resozialisierung gefährdet (YVONA GRIESSER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung StPO, 3. Aufl. 2020, N. 1a und 2 zu Art. 425 StPO).  
 
2.4. Die Vorinstanz geht in ihrer Argumentation primär davon aus, dass sie die finanzielle Situation des Beschwerdeführers zufolge Subsidiarität des Kostenerlasses gegenüber der unentgeltlichen Rechtspflege nicht eingehend prüfen müsse, weil der Beschwerdeführer nicht hinreichend belegt habe, dass sich seine Verhältnisse erst nach dem Entscheid im Verfahren BK 21 220 vom 1. Juni 2021 verschlechtert hätten. Immerhin stellt sie fest, dass der Beschwerdeführer seit Februar 2021 zufolge Kürzung der Ergänzungsleistungen sozialhilfebedürftig ist. Insoweit geht die Vorinstanz von einer schlechten finanziellen Situation aus. Ergänzend dazu weist sie das Gesuch um Kostenerlass aber auch ab, weil damit - wie auch mit der unentgeltlichen Rechtspflege - keine aussichtslosen Prozesse durch den Staat finanziert werden sollen, selbst wenn die dauerhafte Mittellosigkeit ausgewiesen ist. Insoweit prüft sie die Rechtslage auch unter der letzteren Hypothese, wonach der Beschwerdeführer die von ihm behauptete schlechte finanzielle Lage von Anfang an belegt hätte und geht von der Aussichtslosigkeit der Beschwerde im damaligen Hauptverfahrens BK 21 220 zufolge offensichtlicher Unbegründetheit aus. Der Beschwerdeführer bringt nichts gegen letztere Argumentation der Vorinstanz vor und geht mit keinem Wort darauf ein. Damit genügt er seiner Begründungspflicht nach Art. 42 Abs. 2 BGG selbst bei wohlwollender Betrachtung nicht und diese Argumentationslinie der Vorinstanz hat vor Bundesgericht Bestand. Es kann daher offenbleiben, ob ein fehlendes Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Hauptverfahren ein anschliessendes Kostenerlassgesuch grundsätzlich ausschliesst.  
 
3.  
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist abzuweisen, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos erschien (Art. 64 Abs. 1 BGG; 142 III 138 E. 5.1; 129 I 129 E. 2.3.1). Der finanziellen Situation des Beschwerdeführers ist bei der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 und Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Obergericht des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 5. Oktober 2022 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari 
 
Der Gerichtsschreiber: Briw