Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
6B_1040/2021
Urteil vom 5. Oktober 2022
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin,
Bundesrichter Muschietti,
Bundesrichterin van de Graaf,
Gerichtsschreiberin Dormann.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Ronny Scruzzi,
Beschwerdeführer,
gegen
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz; Strafzumessung; Beweiswürdigung,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 1. Strafkammer, vom 19. März 2021 (SK 20 195).
Sachverhalt:
A.
Mit Urteil vom 19. März 2021 stellte das Obergericht des Kantons Bern fest, dass das Urteil des Regionalgerichts Berner Jura-Seeland (Kollegialgericht) vom 22. November 2019 in folgenden Punkten in Rechtskraft erwachsen ist (Dispositiv-Ziff. I des angefochtenen Urteils) :
(A.) Freispruch des A.________ von der Anschuldigung der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, angeblich gemeinsam mit B.________ und mengenmässig qualifiziert begangen durch Erwerb bzw. Entgegennahme von insgesamt 1'500 Gramm Heroingemisch von C.________ im Zeitraum von November 2013 bis Mitte Januar 2014 in Nidau und Biel;
(B.) Schuldspruch des A.________ bezüglich (1.) der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, mehrfach begangen durch (1.1.) Veräussern von 10 Gramm Kokaingemisch an D.________ am 20. Juni 2013; (1.2.) Verschaffen von mindestens 2 Gramm Kokaingemisch an E.________, wovon 1 bis 2 Gramm Kokaingemisch im April 2014 und von 1 bis 2 Gramm Kokaingemisch im Juli 2014 am Flughafen Basel und in Bellach SO; (1.3.) Verschaffen von ca. 1 Gramm Kokaingemisch an F.________ im Juni 2014 in Wettingen/AG, evtl. Unterentfelden/AG; (2.) der Widerhandlung gegen das Waffengesetz, mehrfach begangen durch (2.1.) Einfuhr und Besitz einer Imitationswaffe PHYTON 357 mit integriertem Feuerzeug, inkl. 6 Plastikpatronen, ohne Berechtigung, ab einem unbekannten Zeitpunkt bis zum 20. November 2014; (2.2.) Erwerb und Besitz eines Schlagstockes mit integrierter Taschenlampe, ohne Berechtigung, ab einem unbekannten Zeitraum bis zum 20. November 2014;
(C) Einziehung resp. Rückgabe von Gegenständen und Bargeld.
Weiter (Dispositiv-Ziff. II des angefochtenen Urteils) sprach es A.________ schuldig der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, mehrfach und mengenmässig qualifiziert begangen (1.) gemeinsam mit B.________ durch Verschaffen von 1'500 Gramm Heroingemisch (Reinheitsgrad: 30 % Heroin-Hydrochlorid, ausmachend 450 Gramm reines Heroin) an C.________ und G.________ am 9. November 2013 in Biel; (2.) durch Besitz und Beförderung von mindestens 50 Gramm Kokaingemisch (Reinheitsgrad: 43 % Kokain-Base, ausmachend 21.5 Gramm reines Kokain) im April 2014.
Dementsprechend verurteilte das Obergericht des Kantons Bern A.________ wie folgt (Dispositiv-Ziff. III des angefochtenen Urteils) : (1.) Zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten. Davon sind 6 Monate zu vollziehen. Für eine Teilstrafe von 24 Monaten wird der Vollzug aufgeschoben und die Probezeit auf 2 Jahre festgesetzt. Die Untersuchungshaft von 118 Tagen (vom 20. November 2014 bis 17. März 2015) wird im Umfang von 118 Tagen auf die zu vollziehende Teilstrafe angerechnet. (2.) Zu einer Geldstrafe von 75 Tagessätzen zu Fr. 60.-, ausmachend total Fr. 4'500.-. Der Vollzug der Geldstrafe wird aufgeschoben und die Probezeit auf 2 Jahre festgesetzt. (3.) Zur Bezahlung der (auf die Schuldsprüche entfallenden) erstinstanzlichen Verfahrenskosten von Fr. 25'742.- (2/3 von insgesamt Fr. 38'613.-; ohne Kosten der amtlichen Verteidigung). (4.) Zur Bezahlung der oberinstanzlichen Verfahrenskosten, bestimmt auf Fr. 4'500.- (ohne Kosten der amtlichen Verteidigung).
B.
A.________ lässt mit Beschwerde in Strafsachen beantragen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 19. März 2021 sei hinsichtlich der Dispositiv-Ziffern II.2 und III.1.-4. aufzuheben; er sei vom Vorhalt des Besitzes und der Beförderung von mindestens 50 Gramm Kokaingemisch (Reinheitsgrad: 43 % Kokain-Base, ausmachend 21.5 Gramm reines Kokain), angeblich begangen im April 2014, freizusprechen; die Strafsache sei zur Neubeurteilung der Strafzumessung und der Kostenverlegung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner lässt er um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen.
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer bestreitet die Verwertbarkeit der Aussagen, die F.________ anlässlich der delegierten Einvernahmen durch die Kantonspolizei Bern am 27. Januar 2015 und am 8. Mai 2015 machte. Bei der ersten Einvernahme sei ihm kein Teilnahmerecht gewährt worden, weshalb das entsprechende Protokoll aus den Akten hätte entfernt werden müssen. Das sei jedoch nicht passiert; vielmehr sei das Protokoll für die Vorbereitung und Durchführung der zweiten Einvernahme verwendet worden. Bei dieser seien F.________ ihre früheren Aussagen vorgehalten worden, um gezielt darauf hinzuwirken, dass sie genau die Aussagen wiederhole, die die Polizei aus den Akten kannte und hören wollte. Die Aussagen anlässlich der Einvernahme vom 8. Mai 2015 hätten nur erlangt werden können, weil ein unverwertbarer Beweis unzulässigerweise doch verwertet worden sei. Die Vorinstanz habe Art. 141 Abs. 4 und Art. 147 Abs. 4 StPO verletzt, indem sie die Aussagen der F.________ als verwertbar betrachtet habe. Ohne diese Aussagen müsse er mangels Beweisen oder tragfähiger Indizien vom Vorwurf gemäss Dispositiv-Ziffer II.2 des angefochtenen Entscheids freigesprochen werden, was entsprechende Folgen für Strafzumessung und -vollzug nach sich ziehe.
2.
Die Vorinstanz hält die Aussagen, die F.________ als Auskunftsperson anlässlich der (delegierten) Einvernahme vom 8. Mai 2015 machte, für verwertbar. Sie führt dazu aus, anlässlich der ersten Einvernahme vom 27. Januar 2015 sei das Teilnahmerecht des Beschwerdeführers verletzt worden, was zu einem Beweisverwertungsverbot nach Art. 147 Abs. 4 StPO führe. Am 8. Mai 2015 sei dann eine parteiöffentliche Einvernahme in Gegenwart der Verteidigung des Beschwerdeführers erfolgt. Dabei sei F.________ zwar anfänglich gefragt worden, ob sie ihre Aussagen vom 27. Januar 2015 bestätigen könne, was sie bejaht habe. In der Folge habe ihr die Polizei aber nicht die protokollierten Erstaussagen wörtlich vorgehalten, sondern lediglich, dass sie mitgeteilt habe, dass ihr der Beschwerdeführer Kokain (Steine) angeboten habe. Anschliessend habe die Polizei die offene Frage "Können Sie uns erzählen, wie es zu diesen Angeboten gekommen ist?" gestellt. F.________ habe darauf in freier Erzählung über gut zehn Zeilen geantwortet. Dann habe die Polizei folgende Frage gestellt: "Weiter gaben Sie bekannt, dass Sie [beim Beschwerdeführer] Kokain (Steine) gesehen haben. Erzählen Sie uns nochmals, was Sie bei ihm gesehen haben?" Dazu habe sich F.________ wiederum in eigenen Worten über knapp vier Zeilen geäussert. Damit sei hier eine andere Situation gegeben als jene, die BGE 143 IV 457 zugrunde lag. Die Einvernahme vom 8. Mai 2015 habe sich nicht auf das wortwörtliche Vorhalten der protokollierten Erstaussagen vom 27. Januar 2015 beschränkt.
3.
3.1. Die Parteien haben das Recht, bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen (Grundsatz der Parteiöffentlichkeit, Art. 147 Abs. 1 StPO). Dieses spezifische Teilnahme- und Mitwirkungsrecht fliesst aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 107 Abs. 1 lit. b StPO). Es kann nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen (Art. 108, Art. 146 Abs. 4 und Art. 149 Abs. 2 lit. b StPO ; siehe auch Art. 101 Abs. 1 StPO) eingeschränkt werden. Beweise, die in Verletzung von Art. 147 Abs. 1 StPO erhoben worden sind, dürfen gemäss Art. 147 Abs. 4 StPO nicht zulasten der Partei verwertet werden, die nicht anwesend war (BGE 143 IV 397 E. 3.3.1; 139 IV 25 E. 4.2; Urteile 6B_741/2021 vom 2. August 2022 E. 2.3; 6B_415/2021 vom 11. Oktober 2021 E. 2.3.1).
Die Staatsanwaltschaft eröffnet gemäss Art. 309 Abs. 1 StPO eine Untersuchung unter den in lit. a-c genannten Voraussetzungen. Ab der Eröffnung der Untersuchung darf die Polizei (grundsätzlich) keine selbstständigen Ermittlungen mehr vornehmen. Die Staatsanwaltschaft kann die Polizei aber auch nach Eröffnung der Untersuchung mit ergänzenden Ermittlungen beauftragen (Art. 312 Abs. 1 StPO). Bei delegierten Einvernahmen, welche die Polizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft durchführt, haben die Verfahrensbeteiligten die Verfahrensrechte, die ihnen bei Einvernahmen durch die Staatsanwaltschaft zukommen (Art. 312 Abs. 2 StPO; BGE 143 IV 397 E. 3.3.2; 139 IV 25 E. 5.4.3; Urteile 6B_1320/2020 vom 12. Januar 2022 E. 4.2.1, nicht publ. in: BGE 148 IV 22; 6B_741/2021 vom 2. August 2022 E. 2.3; 6B_415/2021 vom 11. Oktober 2021 E. 2.3.3 -2.3.4).
3.2. Die Durchführung einer Einvernahme ohne Teilnahme des Beschuldigten steht einer Wiederholung der Beweiserhebung im Grundsatz zwar nicht entgegen (vgl. Art. 147 Abs. 3 StPO). Wird aber die Einvernahme wiederholt resp. zu einem späteren Zeitpunkt eine Konfrontationseinvernahme durchgeführt, darf die Strafbehörde nicht auf die Ergebnisse der vorausgegangenen Einvernahmen zurückgreifen, soweit diese einem Beweisverwertungsverbot unterliegen. Aufzeichnungen über unverwertbare Beweise sind nach Art. 141 Abs. 5 StPO vielmehr aus den Strafakten zu entfernen, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens unter separatem Verschluss zu halten und danach zu vernichten (BGE 143 IV 457 E. 1.6.2 f.; Urteile 6B_14/2021 vom 28. Juli 2021 E. 1.3.3; 6B_1080/2020 vom 10. Juni 2021 E. 5.5). Die in einer ersten Einvernahme in Verletzung von Art. 147 Abs. 1 StPO gemachten Aussagen nach Art. 147 Abs. 4 StPO bleiben unverwertbar, wenn sich die befragte Person im Rahmen einer späteren Konfrontation gar nicht mehr bzw. nicht frei und unbeeinflusst zur Sache äussert (Urteil 6B_1003/2020 vom 21. April 2021 E. 2.2).
Beschränkt sich die Wiederholung der Einvernahme im Wesentlichen auf eine formale Bestätigung der früheren Aussagen, wird es dem Beschuldigten verunmöglicht, seine Verteidigungsrechte wirksam wahrzunehmen. Werden Aussagen, welche die Befragten in Einvernahmen ohne Teilnahme des Beschwerdeführers machten, in späteren Konfrontationseinvernahmen den Befragten wörtlich vorgehalten, so werden diese Aussagen im Sinne von Art. 147 Abs. 4 StPO unzulässigerweise verwertet (BGE 143 IV 457 E. 1.6.1; Urteile 6B_415/2021 vom 11. Oktober 2021 E. 2.3.5; 6B_14/2021 vom 28. Juli 2021 E. 1.3.4; 6B_1003/2020 vom 21. April 2021 E. 2.2; 6B_1385/2019 vom 27. Februar 2020 E. 1.1).
4.
4.1. Die vorinstanzlichen Feststellungen betreffend die Umstände und den Ablauf der Einvernahme vom 8. Mai 2015 werden nicht in Abrede gestellt. Sie sind auch nicht offensichtlich unrichtig, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich bleiben ( Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG ; BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 88 E. 1.3.1).
4.2. Soweit der Beschwerdeführer rügt, vor den offenen Fragen habe die Polizei der Befragten "das zentrale Stichwort « (Kokain) Stein» wörtlich vorgehalten", ergibt sich nichts zu seinen Gunsten. Dass in der Wiederholung der Einvernahme am 8. Mai 2015 u.a. nach Kokain (Stein) gefragt wurde, war nicht den Erstaussagen vom 27. Januar 2015 geschuldet, sondern den Ergebnissen der Innenraumüberwachung des Fahrzeugs Audi A6 xxx (vgl. die Ausführungen auf S. 39 des angefochtenen Urteils), deren Verwertbarkeit ausser Frage steht. Damit bleibt ohne Belang, dass die Polizei (laut Behauptung des Beschwerdeführers) anlässlich der Einvernahme vom 8. Mai 2015 über ein Protokoll der ersten Einvernahme verfügte und eine Kopie davon der Verteidigung des Beschwerdeführers aushändigte. Zwar wurde F.________ am 8. Mai 2015 auf ihre früheren Aussagen hingewiesen. Indessen steht fest, dass dabei kein wörtlicher Vorhalt erfolgte und dass die Befragte die offenen Fragen in freier Erzählung resp. in eigenen Worten beantwortete. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers besteht damit ein erheblicher Unterschied zu einem weitgehend wortwörtlichen Vorhalt früherer Aussagen und deren bloss formalen Bestätigung (so beispielsweise der Sachverhalt in BGE 143 IV 457 E. 1.6.5). Angesichts der konkreten Umstände erfolgten die Äusserungen zur Sache frei und unbeeinflusst im Sinne der in vorangehender E. 3.2 wiedergegebenen Rechtsprechung (vgl. Urteile 6B_741/2021 vom 2. August 2022 E. 2.4; 6B_415/2021 vom 11. Oktober 2021 E. 2.4; 6B_1003/2020 vom 21. April 2021 E. 2.3).
4.3. Nach dem Gesagten verletzt die Vorinstanz kein Recht (insbesondere weder Art. 141 Abs. 4 noch Art. 147 Abs. 4 StPO), indem sie die Aussagen der F.________ vom 8. Mai 2015 als verwertbar betrachtet. Damit erübrigen sich Ausführungen zum hier interessierenden Schuldspruch und zur Strafzumessung, zumal die entsprechenden Anträge einzig mit dem beantragten Freispruch begründet werden (vgl. Beschwerdeschrift, S. 9 ff.). Die Beschwerde ist unbegründet.
5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung ist infolge Aussichtslosigkeit der Beschwerde abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Den finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers ist mit einer reduzierten Gerichtsgebühr bei der Kostenfestsetzung Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG; Urteil 6B_342/2021 vom 27. Januar 2022 E. 2).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 5. Oktober 2022
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari
Die Gerichtsschreiberin: Dormann