Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess {T 7}
I 141/06
Urteil vom 5. Dezember 2006
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard; Gerichtsschreiberin Hofer
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
H.________, 1955, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Marco Unternährer, Sempacherstrasse 6 (Schillerhof), 6003 Luzern,
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
(Entscheid vom 17. Januar 2006)
Sachverhalt:
A.
Der 1955 geborene H.________ meldete sich am 22. April 2003 unter Hinweis auf einen schweren Beinbruch nach einem Arbeitsunfall im November 1999 und ein mittelschweres Hirntrauma nach einem am 28. September 2002 erlittenen Verkehrsunfall bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Bern klärte die beruflichen und medizinischen Verhältnisse ab. Am 5. Juli 2004 teilte sie dem Versicherten mit, zur Prüfung der Anspruchsberechtigung sei ein spezialärztliches Gutachten erforderlich, mit welchem die Medizinische Abklärungsstation (Medas) im Spital X.________ beauftragt werden solle. Mit Schreiben vom 28. Oktober 2004 ersuchte H.________ die IV-Stelle um Zustellung des den Gutachtern zu unterbreitenden Fragenkatalogs und um Mitteilung, welche Ärzte der Medas welche medizinischen Fachgebiete begutachten würden. Daraufhin teilte ihm die IV-Stelle mit Schreiben vom 10. November 2004 mit, die an die Medas gerichteten Fragen beschränkten sich auf die Abklärung des medizinischen Sachverhalts. Allfällige Zusatzfragen seien der IV-Stelle zu unterbreiten, welche darüber entscheide, ob sie der begutachtenden Stelle vorzulegen seien. Im Übrigen würden der versicherten Person bei der Begutachtung durch eine Medas oder eine vergleichbare Institution keine Mitwirkungsrechte zukommen. In der Folge erteilte die IV-Stelle der Medas am 3. November 2004 den Auftrag für eine interdisziplinäre Abklärung. Am 25. November 2004 ersuchte H.________ die IV-Stelle erneut um Bekanntgabe der Namen der am Gutachten beteiligten Ärzte sowie um Zustellung des Fragenkatalogs. Mit Schreiben vom 21. März 2005 unterbreitete er der IV-Stelle zudem Zusatzfragen. Diese stellte ihm am 20. April 2005 einen standardisierten Fragenkatalog zu. Ein erneutes Ersuchen des Versicherten um Mitteilung der Namen der begutachtenden Ärzte beantwortete die IV-Stelle am 22. September 2005 in ablehnendem Sinne.
B.
Beschwerdeweise liess H.________ am 7. November 2005 beantragen, es sei festzustellen, dass sich die IV-Stelle rechtsverweigernd verhalten habe. Diese sei gerichtlich anzuweisen, ihm mitzuteilen, welche spezialärztlichen Sparten durch welche Gutachter der Medas festgelegt worden seien. Zudem rügte er eine Verfahrensverzögerung. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hiess die Beschwerde gut, soweit sie die Frage der Rechtsverweigerung betraf und wies die IV-Stelle an, dem Versicherten innert 10 Tagen seit Rechtskraft des Entscheids die Namen sowie die Fachgebiete der in Frage kommenden Experten bekannt zu geben. Soweit die Rechtsverzögerung betreffend wies es die Beschwerde ab (Entscheid vom 17. Januar 2006).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.
H.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Die IV-Stelle beantragt deren Gutheissung. Zudem reichte sie mit ihren Akten das am 21. März 2006 erstellte Gutachten der Medas ein.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Nach Art. 49 Abs. 1 ATSG hat der Versicherungsträger über Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die erheblich sind oder mit denen die betroffene Person nicht einverstanden ist, schriftlich Verfügungen zu erlassen. Laut Art. 51 Abs. 1 ATSG können Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die nicht unter Art. 49 Abs. 1 ATSG fallen, in einem formlosen Verfahren behandelt werden. Gemäss Abs. 2 derselben Bestimmung kann die betroffene Person den Erlass einer Verfügung verlangen. Gegen Verfügungen kann innerhalb von 30 Tagen bei der verfügenden Stelle Einsprache erhoben werden; davon ausgenommen sind prozess- und verfahrensleitende Verfügungen (Art. 52 Abs. 1 ATSG). Gegen Einspracheentscheide oder Verfügungen, gegen welche eine Einsprache ausgeschlossen ist, kann Beschwerde erhoben werden (Art. 56 Abs. 1 ATSG). Beschwerde kann auch erhoben werden, wenn der Versicherungsträger entgegen dem Begehren der betroffenen Person keine Verfügung oder keinen Einspacheentscheid erlässt (Art. 56 Abs. 2 ATSG).
1.2 Muss der Versicherungsträger zur Abklärung des Sachverhalts ein Gutachten einer oder eines unabhängigen Sachverständigen einholen, so gibt er der Partei deren oder dessen Namen bekannt. Diese kann den Gutachter aus triftigen Gründen ablehnen und kann Gegenvorschläge machen (Art. 44 ATSG).
1.3 In BGE 132 V 100 Erw. 5 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht erwogen, die Anordnung einer Begutachtung durch die IV-Stelle sei ein Realakt und daher nicht in Verfügungsform zu erlassen. Um einen solchen Realakt handelt es sich bei der Anordnung einer Begutachtung durch die Medas vom 5. Juli 2004. Des Weitern kam das Gericht im zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil R. vom 14. Juli 2006 (I 686/05; vgl. auch Plädoyer 2006 Nr. 5 S. 62 ff.) auf dem Wege der Auslegung von Art. 44 ATSG zum Schluss, es bestehe kein sachlicher Grund, die Anwendung dieser Bestimmung auf Gutachten zu beschränken, die von einer Einzelperson selbstständig und in eigenem Namen erstellt werden. Vielmehr müsse sie auch im Zusammenhang mit Gutachterstellen zum Zuge kommen. Da die Versicherer bei der Anordnung eines Gutachtens oft nicht wüssten, welche Ärztinnen und Ärzte einer Gutachterstelle zum Team gehörten, das die Begutachtung durchführen werde, könnten sie zu diesem Zeitpunkt allenfalls eine ganze Liste von Namen mit potentiellen Gutachtern auflegen, was indessen wenig Sinn mache. Mit Blick auf die von der Verwaltung angeführten praktischen Vorbehalte hat das Gericht daher erwogen, Art. 44 ATSG regle den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Namen der sachverständigen Person nicht ausdrücklich. Vom Normzweck her sei jedoch von einer vorgängigen Mitteilung auszugehen. Denn nur so werde gewährleistet, dass die Mitwirkungsrechte ihre Funktion erfüllen würden. Die Bestimmung fordere indessen nicht, dass die Namensnennung gleichzeitig mit der Anordnung der IV-Stelle über die durchzuführende Begutachtung zu erfolgen habe. Ein Zusammenlegen der beiden Mitteilungen sei zwar zweckmässig und rationell, jedoch im Rahmen der Begutachtung durch eine Gutachterstelle aus sachlichen Gründen oftmals nicht praktikabel. Es müsse daher genügen, wenn die Namen der Gutachter der versicherten Person erst zu einem späteren Zeitpunkt eröffnet würden. In jedem Fall müsse dies aber frühzeitig genug erfolgen, damit sie in der Lage sei, noch vor der eigentlichen Begutachtung ihre Mitwirkungsrechte wahrzunehmen. Es rechtfertige sich daher, die jeweilige Gutachterstelle damit zu beauftragen. Sie sei am ehesten in der Lage, die Namen der mit der Abklärung befassten Gutachter zu kennen, und sie könne diese zusammen mit dem konkreten Aufgebot oder jedenfalls möglichst frühzeitig der versicherten Person bekannt geben. Diese werde ihre Einwände alsdann gegenüber der IV-Stelle geltend machen können, welche darüber noch vor der eigentlichen Begutachtung zu befinden haben werde.
2.
2.1 Wird ein Rechtsstreit gegenstandslos oder fällt er mangels rechtlichen Interesses dahin, so erklärt ihn das Eidgenössische Versicherungsgericht als erledigt (Art. 135 OG in Verbindung mit Art. 72 BZP und Art. 40 OG).
2.2 Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens bildete die Frage, ob die in Art. 44 ATSG statuierten Mitwirkungsrechte bei der Begutachtung durch eine Medas oder eine vergleichbare Institution anwendbar sind, was die Vorinstanz bejaht, das Beschwerde führende BSV jedoch verneint. Dabei stellt sich namentlich die Frage, ob der versicherten Person vor Durchführung des Gutachtens die Namen der beteiligten Ärztinnen und Ärzte und deren medizinische Fachrichtung bekannt zu geben sind. Nachdem das von der IV-Stelle am 3. November 2004 in Auftrag gegebene Medas-Gutachten am 21. März 2006, und somit nach Einreichung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 7. Februar 2006 ergangen ist und dem Versicherten die Namen der mit dem Gutachten befassten Ärzte ohnehin bekannt sind, ist der Tatbestand von Art. 72 BZP erfüllt.
2.3 Daran vermag der Umstand nichts zu ändern, dass es sich vorliegend um eine Behördenbeschwerde handelt (Art. 103 lit. b OG). Auch bei der Behördenbeschwerde bedarf es grundsätzlich eines aktuellen Interesses an der Erledigung des Rechtsstreits, der Gegenstand der Beschwerde bildet. Das Gericht hat nicht Rechtsfragen ohne Bezug zu einem konkreten Streitfall zu beantworten (BGE 129 II 3 Erw. 1.1.1 mit Hinweisen; Urteil X. vom 26. August 1996, 2A.367/1992; in BGE 129 V 450 nicht publizierte Erwägung 1.1 [vgl. aber SVR 2004 BVG Nr. 1 S. 1 Erw. 1.1, Urteil S. vom 5. September 2003, B 105/01]).
2.4 Es besteht kein Anlass, auf das Erfordernis des aktuellen Interesses ausnahmsweise zu verzichten (SVR 2004 BVG Nr. 1 S. 1 Erw. 1.2, 1998 UV Nr. 11 S. 32 Erw. 5b/bb), erscheint doch eine rechtzeitige gerichtliche Überprüfung der streitigen Auslegung von Art. 44 ATSG durchaus möglich. Im Übrigen hat das Eidgenössische Versicherungsgericht - wie bereits erwähnt (vgl. Erw. 1.3) - im Urteil R. vom 14. Juli 2006 (I 686/05) die umstrittene Frage beantwortet.
2.5 Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist somit als gegenstandslos geworden abzuschreiben, was dazu führt, dass der vorinstanzliche Entscheid nicht in materielle Rechtskraft erwächst (Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., 1983, S. 326).
3.
Wird ein Rechtsstreit gegenstandslos oder fällt er mangels rechtlichen Interesses dahin, entscheidet das Eidgenössische Versicherungsgericht mit summarischer Begründung über die Prozesskosten aufgrund der Sachlage vor Eintritt des Erledigungsgrundes (Art. 135 OG in Verbindung mit Art. 40 OG und Art. 72 BZP). Bei der Beurteilung der Kosten- und Entschädigungsfolgen ist somit in erster Linie auf den mutmasslichen Ausgang des Prozesses abzustellen. Mit Blick auf die bereits erwähnte Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (Urteil R. vom 14. Juli 2006, I 686/05) fällt die Entscheidung zum Nachteil des Beschwerdeführers aus. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des BSV wäre erfolglos geblieben, wenn die Streitsache nicht gegenstandslos geworden wäre. Der Beschwerdeführer ist daher zu verpflichten, dem Beschwerdegegner für das letztinstanzliche Verfahren eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 159 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 135 OG). Gerichtskosten werden keine erhoben (Art. 134 OG in der bis Ende Juni 2006 gültig gewesenen Fassung).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird als gegenstandslos vom Geschäftsverzeichnis abgeschrieben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und der IV-Stelle Bern zugestellt.
Luzern, 5. Dezember 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: