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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_85/2023  
 
 
Urteil vom 6. März 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kneubühler, Präsident, 
Bundesrichter Müller, Kölz, 
Gerichtsschreiberin Kern. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Advokat Christian Kummerer, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach 1348, 4001 Basel. 
 
Gegenstand 
Haftentlassung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, vom 12. Januar 2023 (HB.2022.68). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt führt eine Strafuntersuchung gegen A.________ wegen Verdachts auf gewerbsmässigen Betrug, mehrfache Urkundenfälschung, mehrfache Täuschung der Behörden sowie gewerbsmässige Geldwäscherei. Er wurde am 29. März 2022 festgenommen und mit Verfügung vom 3. Juni 2022 in den vorzeitigen Strafvollzug versetzt. 
Mit Gesuch vom 21. November 2022 beantragte A.________ seine sofortige Haftentlassung. Das Zwangsmassnahmengericht Basel-Stadt wies das Haftentlassungsgesuch mit Verfügung vom 6. Dezember 2022 ab und verfügte Untersuchungshaft bis zum 28. Februar 2023 unter Beibehaltung des Vollzugsorts. 
 
B.  
Die Präsidentin des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt wies die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde am 12. Januar 2023 ab, wobei sie weiterhin von Fluchtgefahr ausging. 
 
C.  
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 10. Februar 2022 beantragt A.________ vor Bundesgericht, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und ihn, "eventualiter unter Auferlegung von Ersatzmassnahmen, unverzüglich aus der Sicherheitshaft zu entlassen." 
Die Staatsanwaltschaft und die Vorinstanz haben auf Abweisung der Beschwerde geschlossen. Der Beschwerdeführer hat mit Eingabe vom 24. Februar 2023 repliziert. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid betreffend Haftentlassung. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht gemäss Art. 78 ff. BGG offen. Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und befindet sich, soweit ersichtlich, nach wie vor in Haft. Er hat folglich ein aktuelles, rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids und ist somit gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
 
2.  
Untersuchungs- oder Sicherheitshaft sind gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist (sog. allgemeiner Haftgrund) und zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Fluchtgefahr; lit. a), Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (Kollusions- oder Verdunkelungsgefahr; lit. b), oder durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Wiederholungsgefahr; lit. c). Nach Art. 221 Abs. 2 StPO ist Haft auch zulässig, wenn ernsthaft zu befürchten ist, eine Person werde ihre Drohung, ein schweres Verbrechen auszuführen, wahrmachen (Ausführungsgefahr). Überdies muss die Haft verhältnismässig sein (vgl. Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 197 Abs. 1 lit. c und d sowie Art. 212 Abs. 2 lit. c StPO). Strafprozessuale Haft darf nur als "ultima ratio" angeordnet oder aufrechterhalten werden. Wo sie durch mildere Massnahmen ersetzt werden kann, muss von ihrer Anordnung oder Fortdauer abgesehen werden und an ihrer Stelle müssen Ersatzmassnahmen verfügt werden (Art. 212 Abs. 2 lit. c i.V.m. Art. 237 f. StPO; vgl. BGE 145 IV 503 E. 3.1; 142 IV 367 E. 2.1; 140 IV 74 E. 2.2). 
 
3.  
Die Vorinstanz erachtet den dringenden Tatverdacht als gegeben. Weiter bejaht sie im angefochtenen Entscheid Fluchtgefahr, wobei "wohl auch" von Kollusionsgefahr auszugehen sei und Wiederholungsgefahr im Rahmen künftiger Haftüberprüfungsverfahren "möglicherweise zu thematisieren" sei. Ausserdem stuft sie die Fortführung der Untersuchungshaft als verhältnismässig ein. 
Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts nicht, wendet sich aber gegen die Bejahung von besonderen Haftgründen und macht eventualiter die Unverhältnismässigkeit der Haft geltend. 
 
4.  
 
4.1. Nach der Vorinstanz geht vom Beschwerdeführer insbesondere Fluchtgefahr aus. Sie erwägt im angefochtenen Entscheid, ihm drohe eine mehrjährige Haftstrafe, wodurch ein erheblicher Fluchtanreiz bestehe. Da dem Beschwerdeführer das Ausmass der gegen ihn laufenden Ermittlungen erst seit seiner Festnahme bekannt sei, werde die Fluchtgefahr auch nicht dadurch relativiert, dass er vor seiner Verhaftung keine Anstalten zur Flucht getroffen habe. Weiter möge es wohl teilweise zutreffen, dass sich der familiäre und soziale Mittelpunkt des Beschwerdeführers in der Schweiz befinde. Angesichts seiner Verurteilung wegen mehrfacher Vernachlässigung von Unterhaltspflichten und des Kontaktabbruchs zu seinem ältesten Sohn erscheine jedoch fraglich, inwiefern familiäre Bindungen wirklich bestünden oder nach seiner Haftentlassung noch bestehen würden. Zudem verfüge der Beschwerdeführer seit 2014 über einen ausländischen Wohnsitz in Frankreich, wo er ebenfalls ein soziales Umfeld habe und sich im Falle einer Flucht zurechtfinden dürfte. Der Beschwerdeführer beherrsche nach eigenen Angaben mehrere Sprachen, darunter auch Französisch. Auch seine desolate finanzielle Situation schaffe einen Anreiz zur Flucht vor Gläubigern. Es sei nicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer nach seiner Haftentlassung tatsächlich bei einem Bekannten zur Untermiete wohnen und als kaufmännischer Angestellter arbeiten wolle. Bei den diesbezüglichen von ihm beigebrachten Verträgen handle es sich vermutlich um reine "Gefälligkeitsbestätigungen". Schliesslich spreche auch ein Schreiben des Beschwerdeführers, wonach er das Vertrauen in das Rechtssystem der Schweiz verloren habe, für Fluchtgefahr.  
 
4.2. Der Beschwerdeführer macht dagegen geltend, bei der Schwere der zu erwartenden Haftstrafe müsse berücksichtigt werden, dass er lediglich ein "Kleinkrimineller" sei, der insgesamt bereits über ein Jahr Haft erstanden habe. Der von der Staatsanwaltschaft geltend gemachte Deliktsbetrag von über 1.5 Millionen Franken in Sachen Kurzarbeitsentschädigung, fast 2 Millionen Franken in Sachen Covid-Krediten und mehreren Hunderttausend Franken für weitere Betrugshandlungen sei "aufgeblasen" und könne ihm in diesem Umfang nicht angelastet werden. Zudem habe er vor seiner Festnahme keine Vorbereitungen zur Flucht getroffen und den Vorladungen der Staatsanwaltschaft jederzeit Folge geleistet, obschon ihm bereits vor seiner Verhaftung bewusst gewesen sei, dass sich "Unheil zusammenbraute", habe er sich doch bereits im März 2017 sowie im Februar 2020 in Untersuchungshaft befunden. Weiter ändere der Kontaktabbruch zu seinem ältesten Sohn nichts daran, dass sich sein familiärer und sozialer Mittelpunkt in U.________ befinde, wo es eine Gemeinschaft von Personen mit kurdischen Wurzeln gebe, die sich in der Not gegenseitig unterstützen würden. Zudem wohne seine gesamte Verwandtschaft in der Nordwestschweiz. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz sei eine Rückkehr zu seinem ehemaligen Wohnsitz in Frankreich nicht möglich, da die fragliche Liegenschaft gepfändet worden und - nach einjährigem Leerstand - in unbewohnbarem Zustand sei. Sie befinde sich im Übrigen direkt an der Landesgrenze und die Wohngegend komme einem "Vorort von Basel" gleich. Die Vorinstanz habe auch seine Belege betreffend seine Wohn- und Arbeitssituation nach seiner Haftentlassung zu Unrecht in Zweifel gezogen. In der kurdischstämmigen Gemeinschaft sei es durchaus üblich, sich gegenseitig auszuhelfen und einem Freund etwa ein Zimmer zur Verfügung zu stellen. Schliesslich dürfe Fluchtgefahr auch nicht aus einem Schreiben abgeleitet werden, in welchem er lediglich sein Missfallen über den Verlauf der Strafuntersuchung geäussert habe.  
 
4.3. Die Annahme von Fluchtgefahr als besonderer Haftgrund setzt ernsthafte Anhaltspunkte dafür voraus, dass die beschuldigte Person sich dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion durch Flucht entziehen könnte (Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO). Fluchtgefahr darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Es braucht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die beschuldigte Person, wenn sie in Freiheit wäre, dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Im Vordergrund steht dabei eine mögliche Flucht ins Ausland, denkbar ist jedoch auch ein Untertauchen im Inland. Zu berücksichtigen sind insbesondere der Charakter der beschuldigten Person, ihre moralische Integrität, ihre finanziellen Mittel, ihre Verbindungen zur Schweiz, ihre Beziehungen zum Ausland und die Höhe der ihr drohenden Strafe. Die Schwere der drohenden Strafe darf als Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden, genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen (siehe BGE 145 IV 503 E. 2.2; BGE 143 IV 160 E. 4.3; je mit Hinweisen). Die Wahrscheinlichkeit einer Flucht nimmt in der Regel mit zunehmender Verfahrens- bzw. Haftdauer ab, da sich auch die Länge des allenfalls noch zu absolvierenden Strafvollzugs mit der bereits erstandenen prozessualen Haft, die auf die mutmassliche Freiheitsstrafe anzurechnen wäre (vgl. Art. 51 StGB), kontinuierlich verringert (BGE 143 IV 160 E. 4.3 mit Hinweis). Bei der Beurteilung der konkret drohenden (Rest-) Strafe ist im Haftprüfungsverfahren auch allfälligen bereits vorliegenden Gerichtsentscheiden über das Strafmass bzw. weiteren Sanktionen Rechnung zu tragen (BGE 145 IV 503 E. 2.2; 143 IV 160 E. 4.1).  
 
4.4. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz Fluchtgefahr bejahte. Angesichts seiner zahlreichen Vorstrafen sowie des hohen Gesamtdeliktsbetrages durfte sie von einer mehrjährigen Haftstrafe - und damit von einem erheblichen Fluchtanreiz - ausgehen. Dass die von der Staatsanwaltschaft errechneten Beträge überhöht seien, wird vom (zumindest teilweise) geständigen Beschwerdeführer nicht hinreichend substanziiert dargelegt (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG). Weiter durfte die Vorinstanz auch berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer seit 2014 in Frankreich wohnhaft war, was ebenfalls auf Fluchtgefahr ins Ausland schliessen lässt. Dies gilt selbst dann, wenn er, wie er behauptet, nicht mehr in seine eigene Liegenschaft zurückkehren könnte.  
Dagegen hätte sie, wie der Beschwerdeführer zu Recht geltend macht, keine Fluchtgefahr aus seiner Kritik am Schweizerischen Rechtssystem ableiten dürfen. Dem Beschwerdeführer steht es frei, sich zur Sache und zum Verfahren zu äussern (vgl. Art. 107 Abs. 1 lit. d StPO und Art. 29 Abs. 2 BV); zudem finden sich im fraglichen Schreiben keinerlei konkrete Hinweise darauf, dass er aufgrund seines Missfallens im Falle einer Haftentlassung die Schweiz zu verlassen gedenke. Dem Beschwerdeführer ist weiter auch zuzustimmen, dass er - trotz Kenntnis der gegen ihn laufenden Strafuntersuchung - bislang keine Fluchtneigung gezeigt hat und offenbar über ein soziales Netz in der Nordwestschweiz verfügt. Durch diese Umstände wird die Fluchtgefahr jedoch nicht entscheidend gesenkt, stünden einer Flucht doch weder enge familiäre Verbindungen noch nennenswerte berufliche Zukunftsperspektiven entgegen. 
 
4.5. Da somit von Fluchtgefahr auszugehen ist, erübrigt es sich, auf die anderen möglichen Haftgründe weiter einzugehen.  
 
5.  
 
5.1. Nach der Vorinstanz vermögen die vom Beschwerdeführer vorgeschlagenen Ersatzmassnahmen - selbst in Kombination - angesichts der offenen Grenzen im Dreiländereck eine Flucht nicht zu verhindern. Abgesehen davon käme eine Schriftensperre beim Beschwerdeführer nicht in Frage, da ihm mehrfache Urkundenfälschung vorgeworfen werde und er einschlägig vorbestraft sei. Es seien daher keine milderen Massnahmen anstelle der Haftanordnung ersichtlich.  
 
5.2. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes. Die Vorinstanz habe die Möglichkeit der Anordnung einer Schriftensperre verbunden mit einer elektronischen Fussfessel und regelmässigen Meldepflichten anstelle von Haft zu Unrecht ausgeschlossen. Es sei ohne Papiere selbst im grenznahen Ausland unmöglich, längerfristig unterzutauchen.  
 
5.3. Ersatzmassnahmen können geeignet sein, einer gewissen Fluchtneigung ausreichend Rechnung zu tragen. Zu denken ist etwa an eine Pass- und Schriftensperre, eine Meldepflicht oder einen elektronisch überwachten Hausarrest (vgl. Art. 237 Abs. 2 lit. b bis d und Abs. 3 StPO). Besteht dagegen eine ausgeprägte Fluchtgefahr, erweisen sich Ersatzmassnahmen regelmässig als nicht ausreichend (vgl. BGE 145 IV 503 E. 3.3; Urteil 1B_31/2023 vom 10. Februar 2023 E. 5.3 mit Hinweis).  
 
5.4. Die Rüge erweist sich als unbegründet. Vorliegend ist von ausgeprägter Fluchtgefahr auszugehen, weshalb keine Ersatzmassnahmen anstelle von Haft in Betracht fallen. Der Vorinstanz ist auch darin zuzustimmen, dass eine Schriftensperre angesichts der einschlägigen Vorstrafen des Beschwerdeführers nicht zielführend erscheint.  
 
6.  
Nach dem Ausgeführten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer grundsätzlich kostenpflichtig (vgl. Art. 66 Abs. 1 BGG). Er ersucht indes um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Dem Gesuch kann entsprochen werden, zumal der Beschwerdeführer im bundesgerichtlichen Verfahren glaubhaft dargelegt hat, dass die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt sind (vgl. Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen. 
 
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
2.2. Advokat Christian Kummerer wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.  
 
3.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Einzelgericht, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 6. März 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kneubühler 
 
Die Gerichtsschreiberin: Kern