Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9C_8/2022
Urteil vom 6. März 2023
III. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Beusch, Bundesrichterin Scherrer Reber,
Gerichtsschreiber Nabold.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Locher,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 18. November 2021 (5V 21 179).
Sachverhalt:
A.
Die 1993 geborene A.________ war zuletzt als Fachfrau Gesundheit bei der Spitex U.________ erwerbstätig gewesen, als sie sich im Herbst 2019 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug anmeldete. Die IV-Stelle Luzern gewährte ihr Beratung und Unterstützung beim Erhalt des Arbeitsplatzes, lehnte jedoch mit Verfügung vom 23. März 2021 einen Rentenanspruch ab.
B.
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 18. November 2021 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, die Sache sei unter Aufhebung des kantonalen Urteils zum Einholen eines polydisziplinären Gerichtsgutachtens an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
1.1. Die Beschwerdeschrift hat unter anderem ein Rechtsbegehren zu enthalten (Art. 42 Abs. 1 BGG). Da die Beschwerde an das Bundesgericht ein reformatorisches Rechtsmittel ist (Art. 107 Abs. 2 BGG), darf sich diese grundsätzlich nicht darauf beschränken, die Aufhebung bzw. Rückweisung des angefochtenen Urteils zu beantragen. Grundsätzlich ist ein materieller Antrag erforderlich, damit die Beschwerde zulässig ist, ausser wenn das Bundesgericht ohnehin nicht reformatorisch entscheiden könnte (BGE 137 II 313 E. 1.3; 136 V 131 E. 1.2; 134 III 379 E. 1.3; 133 III 489 E. 3.1: siehe allerdings auch BGE 133 II 409 E. 1.4.1).
Rechtsbegehren sind nach Treu und Glauben auszulegen, insbesondere im Lichte der dazu gegebenen Begründung (BGE 123 IV 125 E. 1; Urteil 9C_344/2020 vom 22. Februar 2021 E. 1.2). Es genügt, wenn der Beschwerde insgesamt entnommen werden kann, was die beschwerdeführende Person verlangt (SVR 2004 IV Nr. 25 S. 75, I 138/02 E. 3.2.1 mit Hinweisen).
1.2. Die Beschwerdeführerin stellt einen grundsätzlich unzulässigen rein kassatorischen Antrag. Aus dem Gesamtzusammenhang der Begründung ergibt sich jedoch, dass sie die Ausrichtung einer Rente der Invalidenversicherung verlangt, wozu sie ohne weiteres befugt ist. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass (Art. 82 lit. a, Art. 83 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2, Art. 89 Abs. 1, Art. 90 und Art. 100 Abs. 1 BGG ), weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist.
2.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG ).
Als Rechtsfrage gilt, ob die rechtserheblichen Tatsachen vollständig festgestellt und ob der Untersuchungsgrundsatz bzw. die Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG beachtet wurden. Gleiches gilt für die Frage, ob den medizinischen Gutachten und Arztberichten im Lichte der praxisgemässen Anforderungen Beweiswert zukommt (BGE 134 V 231 E. 5.1). Bei den aufgrund dieser Berichte getroffenen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit und bei der konkreten Beweiswürdigung geht es um Sachverhaltsfragen (nicht publ. E. 1 des Urteils BGE 142 V 342, veröffentlicht in SVR 2016 IV Nr. 41 S. 131).
3.
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, als es einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der Invalidenversicherung verneinte.
4.
4.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19.6.2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die hier angefochtene Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.
4.2. Der Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung setzt unter anderem voraus, dass die versicherte Person invalid oder von Invalidität unmittelbar bedroht ist. Invalidität ist gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSG die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit.
5.
5.1. Das kantonale Gericht hat gestützt auf den Bericht der RAD-Ärztin Dr. med. B.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 2. September 2020 festgestellt, dass die Beschwerdeführerin nicht krankheitsbedingt in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sei. Die Versicherte macht geltend, es könne bezüglich des psychischen Gesundheitszustandes nicht auf den Bericht der Dr. med. B.________ abgestellt werden, zudem sei nie rechtsgenüglich abgeklärt worden, ob ihre Leiden nicht körperlich erklärbar sei.
5.2. Gemäss den für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlichen kantonalen Sachverhaltsfeststellungen erlitt die Versicherte im Jahr 2017 einen Autounfall und im Sommer 2019 einen körperlichen Zusammenbruch. Im November 2019 meldete sie sich wegen Nacken-, Schulter- und Kopfschmerzen sowie Schwindel bei der Beschwerdegegnerin zum Leistungsbezug an. Während ihres Aufenthalts vom 12. Januar bis 22. Februar 2020 in der Klinik C.________ wurden vom Spital D.________ Röntgenbilder der Halswirbelsäule und ein MRI der Hals- und der Brustwirbelsäule erstellt. Aufgrund dieser Aufnahmen konnte ein bildgebend nachweisbares, unfallkausales Trauma der Halswirbelsäule als Ursache für die geklagten Beschwerden ausgeschlossen werden. Demgegenüber ist nicht ersichtlich, dass weitergehende Untersuchungen zu einer möglichen körperlichen Genese der Schmerzen durchgeführt worden wären. Damit trifft die Aussage der RAD-Psychiaterin Dr. med. B.________, ein organisches Korrelat, welches die Schmerzen beziehungsweise Schwindel erklären würde, sei in den bisherigen Abklärungen nicht festgestellt worden, zwar unbestrittenermassen zu, greift indessen zu kurz. Die Invalidenversicherung hat - im Unterschied zur Unfallversicherung - nicht nur für den unfallkausalen Gesundheitsschaden aufzukommen (vgl. auch Urteil 9C_361/2020 vom 26. Februar 2021 E. 4.3.2). Allein der Umstand, dass das Leiden der Versicherten nicht auf ein organisch hinreichend nachweisbares Unfalltrauma im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule zurückzuführen ist, genügt nicht für den Schluss, dieses sei nicht körperlich verursacht. Ohne eine entsprechende fachärztliche Einschätzung kann zum Ausschluss eines somatischen Leidens nicht einzig auf die Stellungnahme der RAD-Psychiaterin abgestellt werden. Dies gilt vorliegend umso mehr, als die Psychiaterin eine psychische Erkrankung verneinte und damit auch keine psychiatrische Erklärung für die Nacken-, Schulter- und Kopfschmerzen sowie für den Schwindel bietet.
5.3. In diesem Lichte wurde der Sachverhalt nicht rechtsgenüglich abgeklärt, was den Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG ) verletzt (vgl. Urteil 8C_384/2022 vom 9. November 2022 E 7.2). Das angefochtene Urteil und die strittige Verfügung der IV-Stelle erweisen sich somit als bundesrechtswidrig und sind aufzuheben. Es ist in erster Linie Aufgabe der IV-Stelle, von Amtes wegen die notwendigen Abklärungen vorzunehmen, um den rechtserheblichen Sachverhalt vollständig festzustellen (Art. 43 Abs. 1 ATSG). Demnach ist die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie im Verfahren nach Art. 44 ATSG ein polydisziplinäres Gutachten einhole und anschliessend über den Leistungsanspruch neu verfüge (vgl. auch BGE 132 V 368 E. 5; Urteil 8C_282/2022 vom 8. September 2022 E. 5.4 mit Hinweisen).
6.
D ie Rückweisung der Sache zu erneutem Entscheid gilt für die Frage der Auferlegung der Gerichtskosten sowie der Parteientschädigung als vollständiges Obsiegen im Sinne von Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG (BGE 141 V 281 E. 11.1). Mithin hat die unterliegende Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen (vgl. Art. 67 und 68 Abs. 5 BGG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 18. November 2021 und die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 23. März 2021 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle Luzern zurückgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Luzern zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 6. März 2023
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Der Gerichtsschreiber: Nabold