Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
1B_655/2021
Urteil vom 6. April 2022
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Jametti, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Müller, Bundesrichter Merz,
Gerichtsschreiberin Kern.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Fatih Aslantas,
gegen
Staatsanwaltschaft Frauenfeld,
Maurerstrasse 2, 8510 Frauenfeld.
Gegenstand
Strafverfahren; Entfernung von Beweismitteln
aus den Verfahrensakten,
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts
des Kantons Thurgau vom 5. Oktober 2021
(SW.2021.77).
Sachverhalt:
A.
Die Staatsanwaltschaft Frauenfeld führt eine Strafuntersuchung gegen A.________ wegen versuchter schwerer Körperverletzung. Ihr wird vorgeworfen, am 9. Mai 2019 ihrem damaligen Mitbewohner mit einem Küchenmesser ins Gesicht gestochen und diesem eine oberflächliche Schnittwunde zugefügt zu haben. Mit Eingabe vom 17. Juni 2021 beantragte A.________, diverse Beweismittel aus den Akten zu entfernen, separat unter Verschluss zu halten und nach Abschluss des Strafverfahrens zu vernichten. Sie begründete ihren Antrag damit, dass diese Beweise ohne das Beisein ihres notwendigen Verteidigers erhoben worden und deshalb unverwertbar seien. Mit Verfügung vom 23. Juni 2021 wies die Staatsanwaltschaft Frauenfeld diesen Antrag ab.
B.
A.________ erhob beim Obergericht des Kantons Thurgau Beschwerde gegen diese Verfügung, welche mit Entscheid vom 5. Oktober 2021 abgewiesen wurde (Dispositiv-Ziffer 1). Das Obergericht legte A.________ zudem eine Verfahrensgebühr von Fr. 1'500.-- auf (Dispositiv-Ziffer 2.a) und setzte Rechtsanwalt Fatih Aslantas als amtlichen Verteidiger für das Beschwerdeverfahren ein (Dispositiv-Ziffer 2.b).
C.
Am 6. Dezember 2021 erhob A.________ Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht gegen diesen Entscheid. Sie beantragt, die Dispositiv-Ziffern 1 und 2.a des angefochtenen Entscheids aufzuheben. Zudem seien die "Akten" Nr. A 4, 7, 8, P 15, 16, 21, 22, 28 bis 75, D 1 bis 13 sowie E 1 bis 18 aus den Verfahrensakten zu entfernen. Eventualiter sei der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Vorinstanz hat ausdrücklich auf Vernehmlassung verzichtet und die Abweisung der Beschwerde beantragt. Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau hat sich mit Eingabe vom 17. Dezember 2021 vernehmen lassen und ebenfalls auf Abweisung der Beschwerde geschlossen. Die Beschwerdeführerin hat nicht repliziert.
Erwägungen:
1.
Gegen den angefochtenen Entscheid steht gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG grundsätzlich die Beschwerde in Strafsachen offen.
Die Vorinstanz hat als letzte kantonale Instanz entschieden. Die Beschwerde ist somit nach Art. 80 BGG prinzipiell zulässig.
Die Beschwerdeführerin ist zudem als beschuldigte Person nach Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG grundsätzlich zur Beschwerde befugt.
2.
Der angefochtene Entscheid schliesst das Strafverfahren nicht ab; es handelt sich um einen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid, der weder die Zuständigkeit noch den Ausstand betrifft. Es geht somit um einen anderen Zwischenentscheid gemäss Art. 93 BGG. Zu prüfen ist, ob nach dieser Bestimmung Beschwerde gegen diesen Zwischenentscheid an das Bundesgericht erhoben werden kann.
2.1. Gemäss Art. 93 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde gegen selbstständig eröffnete Zwischenentscheide, die weder die Zuständigkeit noch den Ausstand betreffen, prinzipiell nur zulässig, wenn diese einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Die zweite Variante kommt vorliegend nicht in Betracht (vgl. BGE 144 IV 127 E. 1.3 mit Hinweis; 141 IV 289 E. 1.1).
In Strafsachen bezieht sich der nicht wieder gutzumachende Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Bst. a BGG auf einen Nachteil rechtlicher Natur. Ein lediglich tatsächlicher Nachteil, wie die Verlängerung oder Verteuerung des Verfahrens, genügt nicht (BGE 140 II 315 E. 1.3.1; Urteil 1B_527/2021 vom 16. Dezember 2021 E. 2.1; je mit Hinweisen). Ein rechtlicher Nachteil liegt vor, wenn er später nicht durch ein Endurteil oder einen anderen für den Beschwerdeführer günstigen Entscheid behoben werden kann (BGE 144 IV 90 E. 1.1.3; 143 IV 175 E. 2.3; 141 IV 284 E. 2.2; je mit Hinweisen).
Die beschwerdeführende Person muss, wenn das nicht offensichtlich ist, im Einzelnen darlegen, inwiefern ihr ein nicht wieder gutzumachender Nachteil rechtlicher Natur drohen soll. Andernfalls kann auf die Beschwerde mangels hinreichender Begründung ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ) nicht eingetreten werden (BGE 142 III 798 E. 2.2; 141 III 80 E. 1.2; je mit Hinweisen).
2.2. Die Beschwerdeführerin rügt zunächst eine Verletzung von Art. 130 lit. b, lit. c und Art. 131 StPO und macht geltend, die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung seien bereits bei Einleitung der Strafuntersuchung gegen sie erkennbar erfüllt gewesen; es habe aber trotzdem mehr als ein Jahr gedauert, bis ein amtlicher Verteidiger bestellt worden sei. Die Beweismittel Nr. A 4, 7, 8, P 15, 16, 21, 22, 28 bis 75, D 1 bis 13 sowie E 1 bis 18, welche vor der Einsetzung der amtlichen Verteidigung erhoben wurden, sind deshalb ihrer Auffassung nach nicht verwertbar. Zu den Eintretensvoraussetzungen macht die Beschwerdeführerin geltend, falls die "angegebenen Beweismittel und das darauf basierende Gutachten" in den Verfahrensakten verblieben, könnten diese von den erstinstanzlichen Strafrichtern zur Kenntnis genommen und gegen sie verwendet werden, weshalb ihr ein nicht wieder gutzumachender Nachteil drohe.
2.2.1. Nach der Rechtsprechung stellt der blosse Umstand, dass ein Beweismittel, dessen Gültigkeit bestritten ist, bei den Akten bleibt, noch keinen nicht wiedergutzumachenden Nachteil dar, da es möglich ist, diese Rüge bis zum endgültigen Abschluss des Verfahrens zu erneuern. Insbesondere kann die Frage der Rechtmässigkeit von Beweismitteln dem Sachgericht vorgelegt werden (Art. 339 Abs. 2 lit. d StPO), von dem erwartet werden kann, dass es in der Lage ist, zwischen rechtmässigen und unrechtmässigen Beweismitteln zu unterscheiden und sich bei der Würdigung ausschliesslich auf Erstere zu stützen. Das erstinstanzliche Urteil kann im Rahmen einer Berufung angefochten werden (vgl. Art. 398 StPO), und als letztes Mittel kann die beschuldigte Person dieses Urteil vor dem Bundesgericht anfechten (BGE 144 IV 90 E. 1.1.3; 143 IV 387 E. 4.4; 141 IV 284 E. 2.2; je mit Hinweisen).
Von dieser Regel bestehen jedoch Ausnahmen. Eine solche liegt insbesondere vor, wenn das Gesetz ausdrücklich die sofortige Rückgabe oder Entfernung aus den Akten bzw. Vernichtung rechtswidrig erlangter Beweise vorsieht (vgl. z.B. Art. 248 Abs. 2, Art. 271 Abs. 3, Art. 277 und Art. 289 Abs. 6 StPO ). Ebenso verhält es sich, wenn aufgrund des Gesetzes oder der Umstände des Einzelfalles die Rechtswidrigkeit des Beweismittels ohne Weiteres feststeht. Derartige Umstände können nur angenommen werden, wenn die betroffene Person ein besonders gewichtiges rechtlich geschütztes Interesse an der unverzüglichen Feststellung der Unverwertbarkeit des Beweises geltend macht (BGE 144 IV 127 E. 1.3.1; 143 IV 387 E. 4.4; BGE 141 IV 284 E. 2.3; je mit Hinweisen).
Für den Fall, dass Beweise erhoben worden sind, bevor eine Verteidigung bestellt worden ist, obschon die Verteidigung erkennbar notwendig gewesen wäre, sieht Art. 131 Abs. 3 StPO zwar die Ungültigkeit bzw. Unverwertbarkeit der Beweiserhebung vor, sofern die beschuldigte Person nicht auf deren Wiederholung verzichtet. Eine Vernichtung von rechtswidrig erhobenen Beweismitteln oder eine sofortige Rückgabe an ihren ursprünglichen Inhaber hat nach dieser Bestimmung jedoch (anders als z.B. in den Fällen von Art. 248, Art. 271 Abs. 3, Art. 277 und Art. 289 Abs. 6 StPO ) nicht zu erfolgen (BGE 141 IV 289 E. 2; Urteil 1B_12/2021 vom 22. Januar 2021 E. 2.2 mit Hinweis). Es handelt sich hierbei somit nicht um einen jener Ausnahmefälle, in welchen das Gesetz ausdrücklich die sofortige Rückgabe oder Entfernung aus den Akten bzw. Vernichtung rechtswidriger Beweise vorsieht. Aus diesem Grund droht der beschwerdeführenden Person kein nicht wieder gutzumachender Nachteil, wenn das rechtswidrig erhobene Beweismittel nicht sofort aus den Akten entfernt wird (vgl. BGE 141 IV 289 E. 2; Urteil 1B_12/2021 vom 22. Januar 2021 E. 2.2 mit Hinweis).
2.2.2. Die Beschwerdeführerin geht in ihrer Beschwerdeschrift nicht auf die oben dargelegte Rechtsprechung zu Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG ein. Sie hat somit keine begründete Ausnahme dargetan, bei der das Bundesgericht bereits im Vorverfahren über ein allfälliges Beweisverwertungsverbot abschliessend zu entscheiden hätte. Dies hätte die Beschwerdeführerin aber substanziiert darlegen müssen, um ihrer Begründungspflicht nachzukommen (vgl. Art. 42 Abs. 2 BGG). Auch der nicht weiter begründete Verweis der Beschwerdeführerin auf das Urteil 1B_445/2013 vom 14. Februar 2014, welches im Übrigen noch vor dem Grundsatzurteil BGE 141 IV 289 erging, ist unbehelflich, da sie nicht darlegt und auch sonst nicht ersichtlich ist, inwiefern dieses Urteil bezogen auf den Sachverhalt des vorliegenden Falles massgebend sein soll.
Die Verwertung der fraglichen Beweismittel erscheint ausserdem nicht von vorneherein offensichtlich unzulässig, weshalb der nicht wieder gutzumachende Rechtsnachteil (im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) ebenfalls zu verneinen ist. Es wird somit Sache des für den Endentscheid zuständigen Sachgerichts sein, gegebenenfalls über die von der Beschwerdeführerin akzessorisch aufgeworfenen Beweisverwertungsfragen zu befinden (vgl. Art. 141 Abs. 2 i.V.m.Art. 339 Abs. 2 lit. d StPO).
2.3. Die Beschwerdeführerin macht weiter geltend, die Vorinstanz habe zwar einen amtlichen Verteidiger für das Beschwerdeverfahren eingesetzt, ihr jedoch zugleich eine Verfahrensgebühr von Fr. 1'500.-- auferlegt und damit ihr Recht auf "unentgeltliche Rechtspflege" nach Art. 29 Abs. 3 BV verletzt.
2.3.1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann die Abweisung eines Gesuchs um amtliche Verteidigung prinzipiell einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken (BGE 140 IV 202 E. 2.2 mit Hinweis). Allerdings beschränkt sich die unentgeltliche Rechtspflege zugunsten der beschuldigten Person in von der StPO beherrschten Verfahren auf die Befreiung von Kostenvorschüssen und auf die amtliche Verbeiständung; sie beinhaltet dagegen keine definitive Befreiung von den Verfahrenskosten (Urteil 1B_344/2015 vom 11. Februar 2016 E. 3; vgl. Urteil 1B_203/2015 vom 1. Juli 2015 E. 6.2). Vorliegend ist unbestritten und aktenkundig, dass die Vorinstanz für das Beschwerdeverfahren keinen Kostenvorschuss eingefordert und der Beschwerdeführerin die amtliche Verteidigung bewilligt hat. Die Beschwerdeführerin wehrt sich somit einzig gegen die Auflage der Kosten des Beschwerdeverfahrens vor der Vorinstanz. Die Anfechtung der Kosten- und Entschädigungsregelung folgt jedoch prinzipiell der Hauptsache. Ist diese nicht anfechtbar, ist es die Kosten- und Entschädigungsregelung grundsätzlich auch nicht (Urteile 1B_18/2021 vom 23. Februar 2021 E. 1.3; 1B_636/2020 vom 30. Dezember 2020 E. 2; je mit Hinweisen).
2.3.2. Die Beschwerdeführerin äussert sich nicht zur Frage, weshalb ihr aufgrund der Kostenauferlegung im angefochtenen Entscheid ein nicht wieder gutzumachender Nachteil drohen soll. Auf die Beschwerde könnte daher ohnehin nur eingetreten werden, wenn ein solcher Nachteil offensichtlich wäre (vgl. E. 2.1 hiervor), was hier nicht der Fall ist. Nach der oben dargelegten Rechtsprechung ist der drohende nicht wieder gutzumachende Nachteil daher zu verneinen.
Die Beschwerdeführerin kann den vorinstanzlichen Kostenschluss mit dem Endentscheid in der Hauptsache anfechten (Art. 93 Abs. 3 BGG). Sollte sie schuldig gesprochen werden, kann sie den Kostenschluss nach Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs zusammen mit dem Strafurteil an das Bundesgericht weiterziehen. Sollte das Strafverfahren zu ihren Gunsten ausgehen (Einstellung oder Freispruch), womit sie kein Interesse an der Weiterziehung des Entscheids in der Hauptsache hätte, könnte sie den vorinstanzlichen Kostenentscheid nach Eröffnung des Entscheids in der Hauptsache innerhalb der Frist gemäss Art. 100 BGG selbstständig an das Bundesgericht weiterziehen (vgl. Urteile 1B_18/2021 vom 23. Februar 2021 E. 1.3; 1B_33/2019 vom 18. April 2019 E. 1.2; je mit Hinweisen). Da der Beschwerdeführerin gegen den angefochtenen Kostenentscheid noch ein Rechtsmittel zur Verfügung steht, ist dieser noch nicht rechtskräftig. Die Beschwerdeführerin muss den Betrag von Fr. 1'500.-- also noch nicht bezahlen (Urteil 1B_33/2019 vom 18. April 2019 E. 3; vgl. BGE 135 III 329 E. 1.2.1 mit Hinweis).
3.
Nach dem Vorangegangenen ist auf die Beschwerde nicht einzutreten.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens würde die Beschwerdeführerin an sich kostenpflichtig. Sie beantragt jedoch die unentgeltliche Rechtspflege inklusive Verbeiständung. Dem Gesuch kann entsprochen werden, da die Beschwerdeführerin glaubhaft dargelegt hat, dass sie bedürftig ist und die Beschwerde jedenfalls nicht von vornherein aussichtslos erscheint (vgl. Art. 64 Abs. 1 BGG). Auch die Voraussetzungen der Bestellung eines unentgeltlichen Anwalts sind erfüllt (vgl. Art. 64 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
2.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen.
2.1. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
2.2. Rechtsanwalt Fatih Aslantas wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt.
3.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft Frauenfeld und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 6. April 2022
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Jametti
Die Gerichtsschreiberin: Kern