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[AZA 0] 
6P.215/1999/bue 
 
KASSATIONSHOF 
************************* 
 
6. Juli 2000 
 
Es wirken mit: Bundesgerichtspräsident Schubarth, Präsident des Kassationshofes, Bundesrichter Wiprächtiger, Bundesrichterin Escher und Gerichtsschreiber 
Briw. 
 
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In Sachen 
 
W.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Professor Dr. Günter Stratenwerth, St. Alban-Vorstadt 92, Basel, 
 
gegen 
 
StaatsanwaltschaftdesKantons L u z e r n, 
ObergerichtdesKantons L u z e r n, 
 
betreffend 
willkürliche Beweiswürdigung(staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern [II. Kammer als Appellationsinstanz nach StPO] vom 8. Juli 1999 [21 98 61]), hat sich ergeben: 
 
A.- Das Obergericht des Kantons Luzern als Appellationsinstanz fand W.________ am 8. Juli 1999 schuldig: 
 
- der mehrfachen Gefährdung des Lebens (Art. 129 Abs. 1 aStGB), 
- des Diebstahls (Art. 137 Ziff. 1 aStGB), 
- der Freiheitsberaubung (Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB), 
- der Notzucht (Art. 187 Abs. 1 aStGB), 
- des unvollendeten Notzuchtversuchs (Art. 187 Abs. 1 aStGB i.V.m. Art. 21 Abs. 1 StGB), 
- der mehrfachen Vergewaltigung (Art. 190 Abs. 1 StGB), 
- des mehrfachen Vergewaltigungsversuchs (Art. 190 Abs. 1 StGB i.V.m. Art. 21 Abs. 1 StGB) und - der Gewalt und Drohung gegen Beamte (Art. 285 Ziff. 1 StGB). 
 
Es stellte das Strafverfahren wegen Amtsanmassung nach Art. 287 StGB und mehrfachen Führens eines Personenwagens trotz Führerausweisentzugs nach Art. 95 Ziff. 2 SVG infolge Verjährung ein. 
 
Das Obergericht bestrafte W.________ unter Annahme einer in mittlerem Grade verminderten Zurechnungsfähigkeit mit 7 Jahren Zuchthaus (abzüglich 1'518 Tage Freiheitsentzug), teilweise als Zusatzstrafe zum Urteil des Gerichtspräsidenten II von Interlaken vom 1. Dezember 1989. Es ordnete unter Aufschub des Strafvollzugs die Verwahrung von W.________ nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB an, verbunden mit einer psychotherapeutischen Behandlung (Dispositiv Ziff. 4). 
 
B.- W.________ erhebt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts (bezüglich Ziff. 4 des Dispositivs betreffend die Verwahrung) aufzuheben, die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen und ihm die unentgeltliche 
Rechtspflege zu gewähren. 
 
C.- Das Obergericht des Kantons Luzern beantragt in der Vernehmlassung, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Es sei in erster Linie von der Diagnose des Gutachters ausgegangen. W.________ habe die Durchführung stationärer Massnahmen in Kliniken durch Flucht verunmöglicht. Die Rückfallgefahr sei nach wie vor hoch. 
 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt in der Vernehmlassung, die Rechtzeitigkeit der Beschwerde und die Frage, ob ein emeritierter Professor als Rechtsvertreter vor Bundesgericht auftreten dürfe (Art. 29 OG), zu prüfen. Sie bringt in der Sache vor, das Obergericht habe sich hauptsächlich am neuesten Gutachten orientiert. W.________ bringe aktenwidrig vor, er habe sich stets und hartnäckig um eine (stationäre) Therapiebemüht. DieBeschwerdeseiabzuweisen. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit der bei ihm eingereichten Rechtsmittel von Amtes wegen und mit freier Kognition (vgl. BGE 125 I 253 E. 1a; 124 I 11 E. 1). 
 
a) Die staatsrechtliche Beschwerde ist fristgerecht eingereicht worden (Art. 89 OG). 
 
b) Aus Art. 29 Abs. 2 OG folgt e contrario, dass Nichtanwälte im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren als Parteivertreter zugelassen sind (BGE 105 Ia 67 E. 1a; vgl. Ammann, Die Vertretung der Parteien vor den eidgenössischen Verwaltungs- und Gerichtsbehörden, SJZ 52/1956 S. 249, 254; Birchmeier, Handbuch des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, Zürich 1950, S. 31 N 4; Poudret, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, vol. I, Berne 1990, p. 162). 
 
Der Parteivertreter ist vom Beschwerdeführer ordnungsgemäss bevollmächtigt worden. 
 
c) Soweit der Beschwerdeführer mehr als die Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt, ist - wegen der kassatorischen Natur des Rechtsmittels - auf die Beschwerde nicht einzutreten (BGE 125 I 104 E. 1b; 124 I 327 E. 4a). 
 
2.- Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Art. 4 aBV im Sinne einer willkürlichen Beweiswürdigung geltend. Die Anordnung der Verwahrung beruhe auf den beiden Feststellungen, dass sich das "markante Krankheitsbild" seit seiner Flucht im Jahre 1993 "nicht wesentlich verändert" habe und dass er "es mit seiner Bereitschaft zu einer Therapie wenig ernst" meine. Diese Feststellungen würden durch das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht gestützt. 
 
Die erste Feststellung stehe in klarem Widerspruch zum Basler Gutachten, "dass es ganz offensichtlich zu positiven Veränderungen im Persönlichkeitsbereich gekommen" sei (Psychiatrische Universitätsklinik Basel, Gutachten vom 12. November 1998, S. 32). Es sei nicht vertretbar, sich demgegenüber auf das frühere Gutachten abzustützen (Forensische Psychiatrie Luzern, Gutachten vom 14. Februar 1998). 
 
Die zweite Feststellung sei ebenfalls unhaltbar. Aus den Akten und dem Basler Gutachten ergebe sich, dass er seit mindestens anderthalb Jahrzehnten mit grosser Hartnäckigkeit das Ziel verfolgt habe, von den Zwängen, die ihn immer wieder hätten straffällig werden lassen, durch eine stationäre Psychotherapie befreit zu werden. Im Gegensatz zum Luzerner Gutachten stehe der Befund des Basler Gutachtens, es sei "eine Entwicklung aufzuzeigen, die durchaus als positiv zu beschreiben ist und geeignet scheint, eine weitere therapeutische Massnahme zu rechtfertigen", wobei ausdrücklich eine stationäre Behandlung gefordert werde (Basler Gutachten, S. 33). Dem werde vom Obergericht nur die erneute Flucht vom 3. Dezember 1998 entgegengehalten. Unrealistisch sei der Vorwurf, dass er sich seit seiner Flucht am 18. Februar 1993 keiner Heilbehandlung unterzogen habe. 
 
3.- In der Beweiswürdigung besitzt die kantonale Instanz ein weites Ermessen (BGE 120 Ia 31 E. 4b). Willkür ist daher nicht schon gegeben, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar oder gar zutreffender erschiene, sondern wenn das Ergebnis schlechterdings mit vernünftigen Gründen nicht zu vertreten ist, wenn also der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 124 IV 86 E. 2a). Dies ist etwa dann der Fall, wenn die tatsächlichen Feststellungen offensichtlich falsch sind oder die Beweiswürdigung offensichtlich unhaltbar ist (BGE 118 Ia 28 E. 1b). Eine Aufhebung rechtfertigt sich aber nur, wenn die Entscheidung nicht bloss in der Begründung, sondern im Ergebnis verfassungswidrig ist (BGE 122 I 61 E. 3a; 119 Ia 136 E. 2d). 
 
a) Das Obergericht führt im Rahmen der ersten Rüge aus, seit seiner Flucht am 18. Februar 1993 habe sich das markante Krankheitsbild des Beschwerdeführers nicht wesentlich verändert. Er stelle nach wie vor eine schwerwiegende Gefährdung für die Öffentlichkeit dar. Er habe dies auch immer wieder eindrücklich unter Beweis gestellt. Diese Einschätzung vermöge auch die im Basler Gutachten in der Zwischenzeit festgestellte positive Veränderung im Persönlichkeitsbereich nicht zu erschüttern (angefochtenes Urteil S. 26). 
 
Im Basler Gutachten wird ausgeführt, festzuhalten sei aber, dass es ganz offensichtlich zu positiven Veränderungen im Persönlichkeitsbereich gekommen sei. Der Beschwerdeführer sei introspektiver und selbstkritischer geworden, könne etwas besser mit Kränkungen und Enttäuschungen umgehen und scheine vor allem zunehmend mehr in der Lage zu sein, persönliche Probleme anzusprechen und nach Lösungen zu suchen. Hinsichtlich seiner Delinquenz werde sein Bemühen erkennbar, sich mit seinen Straftaten auseinander zu setzen und ihre Tragweite für die Opfer zu erfassen (Gutachten S. 32). 
 
Die sehr vorsichtig formulierten positiven Veränderungen des Beschwerdeführers bestehen somit darin, dass er sich erkennbar bemüht, seine Probleme anzugehen. Die Persönlichkeitsstörung als solche besteht aber weiterhin und muss erst in einer langfristigen adäquaten Therapie behandelt werden (vgl. Basler Gutachten, S. 33 und 35). Es ist daher vertretbar, wenn das Obergericht das markante Krankheitsbild als nicht wesentlich verändert beurteilt. 
 
b) Das Obergericht führt im Rahmen der zweiten Rüge unter anderem aus, gerade die erneute Flucht mache deutlich, dass es der Beschwerdeführer mit seiner Bereitschaft zur Therapierung wenig ernst meine (angefochtenes Urteil S. 26). 
 
Der Beschwerdeführer legt nicht dar (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG), wo sich aus den Gerichtsakten und inwiefern sich aus dem Basler Gutachten ein seit mindestens anderthalb Jahrzehnten andauerndes hartnäckiges Streben nach einer stationären Psychotherapie ergibt. Er wendet ein, die angeordneten ambulanten Massnahmen seien offenkundig völlig unzureichend gewesen, und der Vorwurf, sich seit der Flucht von 1993 keiner Heilbehandlung unterzogen zu haben, sei unrealistisch. Mit diesen Einwendungen zeigt er weder ein ernsthaftes Bemühen um eine Heilbehandlung noch eine Willkür in der angefochtenen Beweiswürdigung auf. Das Obergericht begründet seine Feststellung nicht einzig mit der erneuten Flucht vom 3. Dezember 1998, sondern mit dem langjährigen Verhalten des Beschwerdeführers. 
 
c) Die beiden Feststellungen des Obergerichts, dass sich das markante Krankheitsbild seit 1993 "nicht wesentlich verändert" hat und dass der Beschwerdeführer "es mit seiner Bereitschaft zur Therapierung wenig ernst meint", erweisen sich nicht als willkürlich. 
 
4.- Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist abzuweisen, weil das Rechtsbegehren des Beschwerdeführers aussichtslos erschien (Art. 152 OG). Entsprechend trägt der Beschwerdeführer die Kosten vor Bundesgericht. Seinen finanziellen Verhältnissen ist mit einer herabgesetzten Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen. 
 
3.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 800. -- wird dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
4.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht (II. Kammer) des Kantons Luzern schriftlich mitgeteilt. 
 
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Lausanne, 6. Juli 2000 
 
Im Namen des Kassationshofes 
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS 
Der Präsident: 
 
Der Gerichtsschreiber: