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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
5A_484/2022  
 
 
Urteil vom 6. Juli 2022  
 
II. zivilrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Herrmann, Präsident, 
Bundesrichter von Werdt, Bovey, 
Gerichtsschreiberin Lang. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
1. B.________, 
2. C.________, 
 
Gegenstand 
Fürsorgerische Unterbringung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern, Kindes- und Erwachsenenschutzgericht, vom 14. Juni 2022 (KES 22 393). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________ (geb. 1975) ist ausgebildete Ärztin (Dr. med.); sie ist bzw. war in dieser Funktion tätig. Nach einem Verkehrsunfall mit Kopfverletzung litt sie unter starken körperlichen sowie psychischen Beeinträchtigungen mit längeren Rehabilitationszeiten. Ab Ende März 2022 trafen vermehrt Gefährdungsmeldungen aus dem Umfeld von A.________ bei der KESB Emmental ein, die auf eine zunehmende Verschlechterung ihres Gesundheitszustands hinwiesen. Demnach befand sich A.________ seit mehreren Wochen in einem angetriebenen Zustand mit zunehmender Schlaflosigkeit, unverhältnismässigen Ideen und Einkäufen sowie Umtriebigkeit und Reizbarkeit. In seiner Gefährdungsmeldung vom 31. Mai 2022 hielt Dr. med. D.________ fest, A.________ befinde sich seit Wochen in einem maniformen Zustandsbild, welches nicht nur, aber auch durch unkontrollierte Selbstmedikation diverser Substanzen aufrechterhalten werde. Wiederholte Versuche, sie zu einem freiwilligen Eintritt in eine psychiatrische Klinik oder zumindest zur Einnahme von Psychopharmaka zu motivieren, seien erfolglos geblieben. In den letzten Tagen scheine sich das Zustandsbild gemäss Angaben von Angehörigen eher noch zugespitzt zu haben.  
Am 1. Juni 2022 wies Dr. med. B.________ A.________ mittels ärztlicher fürsorgerischer Unterbringung in die Klinik E.________ ein. Zur Begründung führte er aus, es bestehe ein manisches Zustandsbild mit massiv desorganisiertem Verhalten. A.________ habe keine Krankheits- oder Behandlungseinsicht. Im Psychostatus bestehe eine gehobene Stimmung und die Betroffene sei formalgedanklich zerfahren. Sie sei verbal nicht erreichbar. Zuletzt sei es zu Selbstmedikation mit diversen Medikamenten gekommen und zur Verursachung von kleineren Bränden und Unfällen sowie in der letzten Woche zu fraglichen optischen Halluzinationen. Gegen diesen Entscheid erhob A.________ am 2. Juni 2022 Beschwerde. 
 
A.b. Am 7. Juni 2022 ordnete Dr. med. C.________ die Isolation im Intensivbehandlungszimmer sowie eine medizinische Behandlung ohne Zustimmung von A.________ (Zwangsmedikation) an. Der Begründung der medizinischen Zwangsmassnahmen ist zu entnehmen, dass A.________ im Verlauf eine zunehmende manisch-psychotische Dekompensation mit zunehmender Angetriebenheit, Unruhe, massiv desorganisiertem Verhalten und hypochondrischem Wahn gezeigt habe. Sie lebe in einem desolaten und verwahrlosten Zustand, das Patientenzimmer sei verwüstet und sie horte unter anderem verschimmeltes Essen sowie Abfall im Zimmer. A.________ habe multiple offene Stellen an beiden Füssen durch das ständige Herumlaufen und am Boden kriechen. Weiter habe sie ständig nasse Haare und nasse Kleider als antihypertensive Massnahme. Sie leide unter starken Ängsten, an einer hypertensiven Krise zu sterben. A.________ sei zwar verbal erreichbar, jedoch nicht strukturierbar. Im Gespräch wirke sie zunehmend agitiert und psychotisch. Die angebotene orale Medikation habe sie seit Tagen klar abgelehnt.  
 
B.  
Anlässlich der Verhandlung vom 14. Juni 2022 vor dem Obergericht des Kantons Bern erklärte A.________, ihre Beschwerde richte sich nicht nur gegen die fürsorgerische Unterbringung sondern auch gegen die medizinischen Zwangsmassnahmen (Isolation im Intensivbehandlungszimmer und Zwangsmedikation). Nach Anhörung der Betroffenen wies das Obergericht des Kantons Bern die Beschwerde ab, präzisierte aber, dass die gesetzliche 6-Wochenfrist am 12. Juli 2022 abläuft. Der schriftlich begründete Entscheid wurde A.________ am 20. Juni 2022 zugestellt. 
 
C.  
 
C.a. Mit am 20. Juni 2022 datierter, am 21. Juni 2022 der Post übergebenen Eingabe wendet sich A.________ (Beschwerdeführerin) ohne anwaltliche Vertretung an das Bundesgericht. Nachdem sie in ihrer Eingabe darauf hinwies, es handle sich um einen ersten einleitenden Teil ihrer Begründung, teilte ihr der Instruktionsrichter mit, dass die Beschwerdefrist am 20. Juli 2022 ablaufe, es ihr grundsätzlich frei stehe, ihre Beschwerde bis dahin zu ergänzen, sie aber beachten müsse, dass die Grundlagen für die angeordneten Massnahmen am 12. Juli 2022 entfielen, so dass die Beschwerde ab diesem Datum gegenstandslos würde. Mit am 28. Juni 2022 datierter, am 30. Juni 2022 der Schweizerischen Post übergebenen Eingabe reichte die Beschwerdeführerin dem Bundesgericht ihre ergänzte Beschwerdebegründung ein. Sie legte dieser Ergänzung zudem eine E-Mail vom 29. Juni 2022 an einen Empfänger in der Klinik E.________ bei, die sie ebenfalls als Beschwerdeergänzung verstanden wissen wollte.  
 
C.b. Die Beschwerdeführerin beantragt die sofortige Aufhebung der fürsorgerischen Unterbringung und der medizinischen Zwangsmassnahmen, die Anordnung eines ambulanten Settings zwecks freiwilliger Weiterbehandlung, Schadenersatz (für Lohnausfall und unnütze Auslagen) sowie eine Genugtuung (Schmerzensgeld) für die ersten vier Behandlungstage und für die traumatisierend erlebte Zwangsisolation und -medikation.  
 
C.c. Das Bundesgericht hat die kantonalen Akten, aber keine Vernehmlassungen eingeholt.  
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern, das als oberes kantonales Gericht auf Rechtsmittel hin (Art. 75 BGG) eine Beschwerde gegen eine fürsorgerische Unterbringung, die Anordnung einer medizinischen Behandlung ohne Zustimmung und Massnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit abgewiesen hat (Art. 90 BGG). Dabei handelt es sich um einen öffentlich-rechtlichen Entscheid in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zivilrecht (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG). Die Beschwerde in Zivilsachen ist das zutreffende Rechtsmittel.  
 
1.2. Die Beschwerdeführerin schreibt, sie führe Beschwerde einerseits in eigener Sache (als Patientin) und andererseits in ihrer Funktion als ihre eigene Hausärztin. Der Sinn dieser Differenzierung liegt nicht auf der Hand. Indes steht ausser Zweifel, dass die Beschwerdeführerin von den angeordneten Massnahmen betroffen und daher zur Beschwerdeführung legitimiert ist (Art. 76 Abs. 1 BGG). Im Übrigen hat sie die Beschwerdefrist gewahrt (Art. 100 Abs. 1 BGG).  
 
1.3. Neue Begehren sind unzulässig (Art. 99 Abs. 2 BGG). Die Begehren um Zuspruch von Schadenersatz und Genugtuung stellt die Beschwerdeführerin erstmals vor Bundesgericht. Diese Begehren sind neu, weshalb auf sie nicht eingetreten werden kann.  
 
1.4. Die Beschwerdeführerin schreibt selbst, die Zwangsisolation sei mittlerweile aufgehoben. Soweit ihre Beschwerde auch die Zwangsisolation betrifft, ist sie gegenstandslos geworden.  
 
2.  
Im Kontext der fürsorgerischen Unterbringung befasst sich das Obergericht ausführlich mit den Kriterien des Schwächezustands (eine Manie mit synthymen psychotischen Symptomen [ICD-10: F30.20]), der Notwendigkeit der Behandlung bzw. Betreuung (die Beschwerdeführerin befinde sich seit mehreren Wochen in einem Zustand manischer Entgleisung und es liege eine erhebliche Selbstgefährdung vor), der Verhältnismässigkeit der angeordneten Massnahmen (fehlende Krankheits- und Behandlungseinsicht; die nötige persönliche Fürsorge könne deshalb nur im geschützten Rahmen einer Klinik sichergestellt werden) und der Geeignetheit der Klinik E.________ als psychiatrische Klinik (E. 5.2.1 bis 6.4 des angefochtenen Entscheids). Zur Behandlung ohne Zustimmung erwog das Obergericht, die Medikation der Beschwerdeführerin mit Clopixol 75 mg und Valium 10mg vom 7. Juni 2022 sei vom Chefarzt der Klinik E.________ im Rahmen der fürsorgerischen Unterbringung und gestützt auf den Behandlungsplan schriftlich angeordnet worden; ohne die verweigerte medikamentöse Behandlung habe keine Besserung erzielt werden können; vielmehr habe die Beschwerdeführerin zunehmend dekompensiert und es habe eine erhebliche gesundheitliche Gefährdung der Beschwerdeführerin bestanden, die mit anderen, weniger einschneidenden Massnahmen nicht habe beseitigt werden können. Schliesslich sei die Beschwerdeführerin hinsichtlich ihrer Behandlungsbedürftigkeit bereits aufgrund ihrer fehlenden Krankheitseinsicht nicht urteilsfähig. 
 
3.  
 
3.1. Der vom Obergericht festgestellte Sachverhalt ist für das Bundesgericht grundsätzlich verbindlich (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG).  
 
3.2. Das Bundesgericht prüft nur klar und detailliert erhobene und wenn möglich belegte Rügen. Wer den Sachverhalt berichtigt oder ergänzt wissen will, hat die beanstandete Feststellung und die Aktenstelle, mit der sie in Widerspruch steht, genau anzugeben und im Falle unterbliebener Feststellungen mit Aktenhinweisen zu belegen, dass entsprechende Sachbehauptungen bereits im kantonalen Verfahren prozesskonform aufgestellt, von der Vorinstanz aber zu Unrecht für unerheblich gehalten oder übersehen worden sind (BGE 140 III 86 E. 2; Urteil 5A_1021/2021 vom 17. Dezember 2021 E. 4). Demgegenüber tritt das Bundesgericht auf ungenügend substanziierte Vorbringen und rein appellatorische Kritik am Sachverhalt nicht ein (BGE 142 III 364 E. 2.4; 141 IV 249 E. 1.3.1; 140 III 264 E. 2.3). Den Begründungsanforderungen genügt nicht, wer seinen Ausführungen einen Sachverhalt zugrunde legt, der im angefochtenen Entscheid nicht festgestellt ist, wer sich darauf beschränkt, die vorinstanzlichen Feststellungen als "offensichtlich unrichtig" oder als "nicht zutreffend" zu bezeichnen, wer einzelne Beweise anführt und diese anders als im angefochtenen Entscheid gewichtet haben möchte, wer die Sachlage aus seiner Sicht schildert und den davon abweichenden Entscheid als willkürlich bezeichnet oder wer dem Bundesgericht einfach die eigene Auffassung unterbreitet, als ob diesem freie Sachverhaltsprüfung zukäme (vgl. BGE 140 III 264 E. 2.3; Urteil 5A_343/2021 vom 21. Oktober 2021 E. 2.3.1 mit Hinweisen).  
 
3.3. Die Beschwerdeführerin schildert ihre ganze Krankheitsgeschichte aus ihrer Sicht, beurteilt die somatischen wie auch die psychiatrischen Diagnosen sowie den Verlauf der diesbezüglichen Krankheiten, nimmt Stellung zur Situation seit der polizeilichen Abholung, zur Beurteilung der Notfallstation Psychiatrie am Inselspital, zur Notaufnahme Klinik E.________, zur stationären Zwangstherapie inklusive Isolation, Medikation und fürsorgerischen Unterbringung für 6 Wochen, und bewertet die psychiatrische wie auch die somatische Therapie in der Klinik E.________. Schliesslich macht sie Vorschläge für das weitere Vorgehen. Sie meint, als Patientin und als ihre eigne Hausärztin in Personalunion (!) kenne sie sich am besten von allen Fallbeteiligten. Diese Behauptung genügt freilich nicht, um die Feststellungen des Obergerichts als willkürlich erscheinen zu lassen. Aus all ihren Ausführungen ergibt sich zwar, dass die Beschwerdeführerin mit den Tatsachenfeststellungen (einschliesslich der medizinischen Diagnosen) des Obergerichts nicht einverstanden ist. Obwohl sie zu Beginn ihrer Beschwerdebegründung ankündigt, in der Folge darzulegen, weshalb sie mit den Behördenberichten und dem Gutachten nicht einverstanden sei, finden sich diesbezüglich keine Ausführungen, welche die an eine Sachverhaltsrüge gestellten Anforderungen erfüllen. Darauf ist nicht weiter einzugehen.  
 
4.  
Die Beschwerdeführerin erwähnt keine einzige Gesetzesnorm, welche das Obergericht unrichtig angewendet haben könnte. In formeller Hinsicht beklagt sie den Umstand, dass ihr das vom Obergericht in Auftrag gegebene Gutachten nicht vor dem Termin übergeben worden sei. Zumindest sinngemäss kann darin eine Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör erkannt werden. Die Rüge erweist sich allerdings als unbegründet. Aus dem Protokoll der Verhandlung vom 14. Juni 2022 ergibt sich, dass der Beschwerdeführerin ein Exemplar des am Vortag ausgefertigten Kurzgutachtens (drei Seiten) ausgehändigt wurde und sie Gelegenheit erhielt, dieses zu lesen. Nachdem sie das Kurzgutachten gelesen hatte, habe die Beschwerdeführerin erklärt, sie wolle sich zum Gutachten Punkt für Punkt äussern. Nach dem Gesagten hatte die Beschwerdeführerin sehr wohl Gelegenheit, vor Beginn der eigentlichen Verhandlung vom Kurzgutachten Kenntnis zu nehmen, und sie hat selber erklärt, dazu Stellung zu nehmen. 
In materieller Hinsicht ist gestützt auf die zusammengefasst wiedergegebenen Erwägungen des Obergerichts eine Bundesrechtsverletzung ebenfalls nicht ersichtlich. 
 
5.  
Nach dem Ausgeführten ist der Beschwerde kein Erfolg beschieden; sie ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Aufgrund der besonderen Ausgangslage ist ausnahmsweise auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten. Eine Entschädigung ist nicht geschuldet (Art. 68 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Auf die Erhebung von Gerichtskosten wird verzichtet. 
 
3.  
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, B.________, C.________ und dem Obergericht des Kantons Bern, Kindes- und Erwachsenenschutzgericht, mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 6. Juli 2022 
 
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Herrmann 
 
Die Gerichtsschreiberin: Lang