Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_693/2023
Urteil vom 6. August 2024
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
Bundesrichterin Viscione, Bundesrichter Métral,
Gerichtsschreiber Grunder.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch AXA-ARAG Rechtsschutz AG,
Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (vorinstanzliches Verfahren),
Beschwerde gegen den Beschluss des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 26. September 2023 (VSBES.2023.209).
Sachverhalt:
A.
Am 29. August 2022 meldete sich der 1987 geborene A.________ zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Mit Vorbescheid vom 12. Juni 2023 eröffnete ihm die IV-Stelle Solothurn, ihre Abklärungen hätten ergeben, dass keine medizinischen Diagnosen mehr vorlägen, die eine länger andauernde Arbeitsunfähigkeit begründeten, weshalb kein Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen und Invalidenrente bestehe. Am 28. August 2023 verfügte sie im angekündigten Sinn. Mit Schreiben vom 30. August 2023 beanstandete der Versicherte unter dem Titel "Einwand gegen Vorbescheid vom 12.06.23" verschiedene Punkte. Die Verwaltung übersandte diese Eingabe am 6. September 2023 zuständigkeitshalber ans Versicherungsgericht des Kantons Solothurn.
B.
B.a. Mit Verfügung vom 15. September 2023 zuhanden des A.________ stellte das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn fest, dieser habe mit dem Schreiben vom 30. August 2023 die Rechtsmittelfrist hinsichtlich der Verfügung vom 28. August 2023 gewahrt (Ziff. 1). Eine Kopie der Beschwerde vom 30. August 2023 gehe samt Beilagen (u.a. die Verfügung vom 28. August 2023 und 12. Juni 2023) an die IV-Stelle (Ziff. 2). Sollte es sich bei der Eingabe vom 30. August 2023 nicht um eine Beschwerde gegen diese Verfügung vom 28. August 2023 handeln, habe der Versicherte dies umgehend schriftlich mitzuteilen. Hierzu werde Frist bis zum 29. September 2023 angesetzt (Ziff. 3). Ohne Mitteilung innert Frist werde das Verfahren kostenpflichtig und dem Beschwerdeführer werde Frist gesetzt, bis 13. Oktober 2023 einen Kostenvorschuss von Fr. 600.- zu bezahlen, widrigenfalls auf die Beschwerde nicht eingetreten werde (Ziff. 4).
B.b. Mit Schreiben vom 19. September 2023 hielt A.________ fest, bei der Eingabe vom 30. August 2023 handle es sich um eine "Einsprache gegen den Vorentscheid" (richtig: Vorbescheid).
B.c. Mit Beschluss vom 26. September 2023 stellte das Versicherungsgericht fest, das Schreiben vom 30. August 2023 sei nicht als Beschwerde gegen die Verfügung vom 28. August 2023 zu interpretieren. Das Verfahren werde daher als gegenstandslos abgeschrieben.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Beschlusses habe das kantonale Gericht auf die Beschwerde einzutreten.
Die Vorinstanz verzichtet auf Bemerkungen und beantragt Abweisung der Beschwerde. Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassungen.
Erwägungen:
1.
Angefochten ist ein Nichteintretensentscheid des kantonalen Verwaltungsgerichts, der einen das Verfahren abschliessenden Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG darstellt. Da die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen ebenfalls erfüllt sind, ist auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten einzutreten.
2.
2.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Die Anwendung kantonalen Rechts wird vom Bundesgericht abgesehen von den Fällen von Art. 95 lit. c und d BGG als solche nicht überprüft. Möglich ist nur die Rüge, die Anwendung kantonalen Rechts widerspreche dem Bundes-, Völker- oder interkantonalen Recht ( Art. 95 lit. a, b und e BGG ). Dies ist der Fall, wenn das angewendete kantonale Recht als solches dem übergeordneten Recht widerspricht, aber auch dann, wenn das an sich rechtskonforme kantonale Recht auf eine willkürliche Weise angewendet worden ist, weil dadurch Art. 9 BV verletzt ist (BGE 142 II 369 E. 2.1; 138 I 143 E. 2; zum Willkürbegriff siehe: BGE 146 IV 88 E. 1.3.1). Hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten und von kantonalem Recht gilt eine qualifizierte Rügepflicht. Das Bundesgericht prüft solche Rügen nur, wenn sie in der Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden sind (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 147 I 478 E. 2.4).
2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann diese Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG ; BGE 147 V 16 E. 4.1.1).
3.
3.1. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, indem es die ihm von der Beschwerdegegnerin übermittelte Eingabe vom 30. August 2023 nicht als Beschwerde gegen die leistungsablehnende Verfügung vom 28. August 2023 entgegen nahm.
3.2.
3.2.1. Die Vorinstanz erwog, der Beschwerdeführer weise mit der Eingabe vom 19. September 2023 klar darauf hin, bei seinem Schreiben vom 30. August 2023 handle es sich nicht um eine Beschwerde, sondern um eine Einsprache gegen den Vorbescheid der Beschwerdegegnerin vom 12. Juni 2023. Er begründe dies im Wesentlichen damit, er sei aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen, darauf fristgerecht zu antworten. Da somit ein Beschwerdewille fehle, sei das Schreiben vom 30. August 2023 nicht als Beschwerde gegen die Verfügung vom 28. August 2023 zu behandeln.
3.2.2. Der Beschwerdeführer bringt vor, er habe mit seinem Einwand vom 20. August 2023 und mit seinem Schreiben an das kantonale Gericht vom 19. September 2023, das er als "Antwort auf die Verfügung vom 15. September 2023" bezeichnet habe, klar zum Ausdruck gebracht, dass er mit der Auffassung der Beschwerdegegnerin, es bestehe kein Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung, nicht einverstanden gewesen sei. Er habe als juristischer Laie die unklare Formulierung in Ziff. 3 der Verfügung des kantonalen Gerichts vom 15. September 2023 nicht richtig verstanden. Namentlich habe dieses darin nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es mit dem Bestreiten der formalen Nennung einer Beschwerde sein Anliegen nicht weiter prüfen werde und er damit sein Anrecht auf eine unabhängige Beurteilung des Sachverhalts verliere. In Ziff. 4 der Verfügung vom 15. September 2023 weise die Vorinstanz allein darauf hin, das Verfahren werde ohne fristgerechte Mitteilung kostenpflichtig. Er habe ihr eindeutig mitgeteilt, dass er mit der Beurteilung der Beschwerdegegnerin nicht einverstanden sei. Besonders relevant sei die erwähnte Operation, derentwegen er seit dem 9. November 2021 und weiterhin arbeitsunfähig sei. Indem sich das kantonale Gericht nicht mit dem Inhalt seines Schreibens auseinandergesetzt habe, sondern sich allein auf den Passus stützte, es handle sich bei der Eingabe vom 30. August 2023 nicht um eine Beschwerde, entscheide es willkürlich formalistisch. Durch den überspitzten Formalismus sowie die willkürlich nicht gewürdigte Eingabe vom 30. August 2023 habe die Vorinstanz sein verfassungsmässiges Recht auf Beurteilung der Sache durch eine richterliche Behörde im Sinn von Art. 29a BV verletzt.
3.3. Art. 29 Abs. 1 BV verbietet überspitzten Formalismus als besondere Form der Rechtsverweigerung. Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte Anforderungen stellt und den Rechtsuchenden den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt. Wohl sind im Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich, um die ordnungsgemässe und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge steht demnach mit Art. 29 Abs. 1 BV in Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist nur gegeben, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (BGE 142 V 152 E. 4.2 mit Hinweisen).
Der in Art. 9 BV verankerte Grundsatz von Treu und Glauben statuiert sodann ein Verbot widersprüchlichen Verhaltens und verleiht einer Person Anspruch auf Schutz des berechtigten Vertrauens in behördliche Zusicherungen oder sonstiges, bestimmte Erwartungen begründendes Verhalten der Behörden (BGE 143 V 341 E. 5.2.1 mit Hinweisen).
3.4. Dem Beschwerdeführer ist jedenfalls im Ergebnis beizupflichten. In einer prozessleitenden Verfügung im Rahmen eines Verfahrens, das dem bundesrechtlichen Erfordernis der Einfachheit zu genügen hat (vgl. Art. 61 lit. a ATSG), ist entsprechend einfach, klar und verständlich mitzuteilen, was die folgenden prozessualen Schritte sein werden.
Dem genügt die Verfügung des kantonalen Gerichts vom 15. September 2023 offenkundig nicht. Abgesehen davon, dass es darin die Eingabe des Beschwerdeführers vom 30. August 2023 seinerseits bereits ausdrücklich als Beschwerde bezeichnete und offenbar auch den Vorbescheid vom 12. Juni 2023 einer Verfügung gleichsetzte (Ziff. 2), trägt zudem vor allem die folgende Anordnung eher zur Verwirrung denn zur Klarheit bei. So wird vom Beschwerdeführer keine (positive) Bekräftigung seines Beschwerdewillens verlangt, sondern für den gegenteiligen Fall eine entsprechende (negative) Erklärung (Ziff. 3); danach wird auf die Kosten (vorschuss) pflicht hingewiesen, verbunden mit der Nichteintretensfolge, falls dieser nicht geleistet werde (Ziff. 4). Zu Recht macht der Beschwerdeführer geltend, dass ihm die Tragweite von Ziff. 3 in Bezug auf den künftigen Verfahrensverlauf aufgrund der gesamten Umstände nicht ohne Weiteres erkennbar war. Daran vermag auch der Hinweis auf die Kostenpflicht (Ziff. 4) nichts zu ändern. Dies alles zeigt sich denn auch im betreffenden Antwortschreiben vom 19. September 2023. Darin bezieht sich der Beschwerdeführer - unter Hinweis auf Ziff. 3 der Verfügung vom 15. September 2023 - zwar explizit auf den "Vorentscheid" (richtig: Vorbescheid). Hingegen lässt sich daraus nicht schliessen, dass mit dieser umständlich gehaltenen Erklärung der mit der fraglichen Eingabe manifestierte Widerstand gegen den nachmaligen Verfügungsgehalt und insofern zumindest anklingende Beschwerdewille bereits entkräftet wären. Soweit das kantonale Gericht auf Gegenteiliges schliesst, verletzt es Art. 9 sowie Art. 29 Abs. 1 und 2 BV . In Gutheissung der Beschwerde ist der kantonale Beschluss aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie auf die Eingaben des Beschwerdeführers vom 30. August und 19. September 2023, allenfalls nach Gewährung einer Nachfrist (vgl. Art. 61 lit. a ATSG), eintrete und die Angelegenheit materiell beurteile.
4.
Die Gerichtskosten werden der unterliegenden Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Sie hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art 68 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Beschluss des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 26. September 2023 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 6. August 2024
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Wirthlin
Der Gerichtsschreiber: Grunder