Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
1B_466/2022
Urteil vom 6. Oktober 2022
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Jametti, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Chaix, Müller,
Gerichtsschreiber Hahn.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
gegen
Kreisgericht See-Gaster, Regionaler Zwangsmassnahmenrichter,
Bahnhofstrasse 4, Postfach 136, 8730 Uznach,
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Kantonales Untersuchungsamt, Wirtschaftsdelikte, Spisergasse 15, 9001 St. Gallen.
Gegenstand
Rechtsverweigerungs-/Rechtsverzögerungsbeschwerde,
Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen (Rechtsverweigerungs-/Rechtsverzögerungsbeschwerde).
Sachverhalt:
A.
Die Staatsanwaltschaft St. Gallen, Kantonales Untersuchungsamt, führt eine Strafuntersuchung gegen A.________ wegen des Verdachts des gewerbsmässigen Betrugs, des mehrfachen Betrugsversuchs, der mehrfachen Veruntreuung und weiterer Vermögensdelikte. Am 12. September 2019 wurde er festgenommen und wegen Wiederholungsgefahr in Untersuchungshaft versetzt. Diese wurde mehrmals verlängert. Nachdem die Staatsanwaltschaft am 16. September 2021 gegen A.________ Anklage beim Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland erhoben hat, wurde dieser mit Entscheid des Kreisgerichts See-Gaster als zuständigem Zwangsmassnahmengericht in Sicherheitshaft versetzt, die ebenfalls wiederholt verlängert wurde. Vom 3. Juli 2020 bis 8. Juni 2021 sowie vom 2. Februar 2022 bis 9. Juni 2022 befand sich A.________ zudem im vorzeitigen Strafvollzug. Verschiedene von ihm gegen die Haftverlängerungs- und Haftprüfungsentscheide erhobene Beschwerden blieben erfolglos (vgl. Urteile 1B_514/2021 vom 27. Oktober 2021; 1B_382/2021 vom 30. Juli 2021).
B.
Mit Eingabe vom 17. Mai 2022 erhob A.________ bei der Anklagekammer des Kantons St. Gallen Rechtsverzögerungsbeschwerde. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, indem die Verfahrensleitung des Kreisgerichts Werdenberg-Sarganserland acht Monate nach der gegen ihn erhobenen Anklage noch immer keinen Termin für die Hauptverhandlung angesetzt habe, habe sie das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt. Mit Entscheid vom 6. Juli 2022 hiess die Anklagekammer die Beschwerde gut und stellte eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen fest. Noch vor diesem Entscheid stellte A.________ bei der erstinstanzlichen Verfahrensleitung sein insgesamt fünftes Haftentlassungsgesuch. Dieses Gesuch wies das regionale Zwangsmassnahmengericht mit Entscheid vom 10. Juni 2022 ab und versetzte A.________ einstweilen bis am 15. November 2022 in Sicherheitshaft.
C.
Mit Eingabe vom 5. September 2022 führt A.________ Rechtsverweigerungsbeschwerde sowie subsidiäre Verfassungsbeschwerde an das Bundesgericht. Er beantragt hauptsächlich, es sei eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen durch die Anklagekammer festzustellen und er sei unverzüglich aus der Sicherheitshaft zu entlassen. Zur Begründung führt er an, das Verbot der Rechtsverweigerung bzw. Rechtsverzögerung sei verletzt worden, weil die Anklagekammer die von ihm am 15. Juni 2022 gegen den Haftprüfungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts vom 10. Juni 2022 erhobene Beschwerde bislang nicht beurteilt habe. Eine derartige Verletzung des Beschleunigungsgebots in Haftsachen führe zwingend zu seiner Haftentlassung. Zudem stellt er verschiedene weitere Rechtsbegehren.
Mit Eingabe vom 13. September 2022 informiert die Anklagekammer, auf Hinweis des Kreisgerichts Werdenberg-Sarganserland habe sie festgestellt, dass sie ihren in der vorliegenden Sache ergangenen Haftprüfungsentscheid vom 14. Juli 2022 irrtümlicherweise weder dem Beschwerdeführer noch dessen Rechtsvertreter eröffnet habe. Dies habe sie am 12. September 2022 nachgeholt, weswegen die vorliegende Rechtsverweigerungsbeschwerde als gegenstandslos geworden abzuschreiben bzw. auf die Beschwerde nicht einzutreten sei. Das regionale Zwangsmassnahmengericht liess sich am 12. September 2022 ohne Antrag in der Sache vernehmen. Die Staatsanwaltschaft hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Erwägungen:
1.
Mit seiner Beschwerde vom 5. September 2022 rügt der Beschwerdeführer eine Rechtsverweigerung bzw. Rechtsverzögerung in einem zum Zeitpunkt der Beschwerdeeinreichung vor der Anklagekammer hängigen Haftprüfungsverfahren. Seine Beschwerde richtet sich damit nicht gegen einen Entscheid im Sinne von Art. 78 Abs. 1 i.V.m. Art. 80 Abs. 1 und Art. 90 BGG . Gemäss Art. 94 BGG kann indessen auch gegen das unrechtmässige Verweigern oder Verzögern eines anfechtbaren Entscheids Beschwerde an das Bundesgericht geführt werden. Die Rechtsverweigerungs- bzw. Rechtsverzögerungsbeschwerde nach Art. 94 BGG kann sich nicht gegen das Verweigern oder Verzögern eines beliebigen, sondern nur eines anfechtbaren Entscheids richten. Mit anderen Worten muss der Entscheid, dessen Verweigerung oder Verzögerung gerügt wird, unmittelbar beim Bundesgericht angefochten werden können, d.h. die Beschwerde muss sich gegen das Untätigwerden einer Vorinstanz gemäss Art. 80 BGG richten (vgl. Urteile 1B_381/2019 vom 20. Januar 2020 E. 1; 2C_543/2016 vom 18. August 2016 E. 2.1). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, steht doch die Beschwerde in Strafsachen gegen einen kantonal letztinstanzlichen Entscheid betreffend die Verlängerung von Sicherheitshaft grundsätzlich offen (vgl. Urteil 1B_22/2022 vom 8. Februar 2022 E. 1.1). Die Beschwerde in Strafsachen ist somit im Sinne einer Rechtsverweigerungs- bzw. Rechtsverzögerungsbeschwerde nach Art. 94 BGG zulässig (vgl. Urteile 1C_189/2012 vom 18. April 2012 E. 1.2; 1B_32/2007 vom 18. Juni 2007 E. 2; FELIX UHLMANN, in: Basler Kommentar BGG, 3. Aufl. 2018, N. 5 zu Art. 94 BGG). Damit bleibt kein Raum für die parallel erhobene subsidiäre Verfassungsbeschwerde (vgl. Art. 113 BGG). Nicht einzutreten ist auch auf sämtliche Rechtsbegehren, die auf eine inhaltliche Überprüfung des Haftprüfungsentscheids des Regionalen Zwangsmassnahmengerichts See-Gaster vom 10. Juni 2022 hinauslaufen. Insoweit ist der kantonale Instanzenzug nicht erschöpft (vgl. Art. 80 Abs. 1 und Abs. 2 BGG), sondern steht dem Beschwerdeführer, nachdem ihm der bereits am 14. Juli 2022 gefällte Haftprüfungsentscheid der Anklagekammer unterdessen nachträglich und unter Ansetzung einer neuen Rechtsmittelfrist förmlich eröffnet wurde, die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht offen. Dies gilt auch für das erst im vorinstanzlichen Haftprüfungsverfahren gestellte Ausstandsbegehren gegen den regionalen Zwangsmassnahmenrichter David Speich.
2.
Soweit der Beschwerdeführer ein unrechtmässiges Verweigern eines beim Bundesgericht anfechtbaren Entscheids geltend macht, erweist sich seine Rüge als unbegründet. Aus der Vernehmlassung der Anklagekammer ergibt sich, dass sie die vom Beschwerdeführer gegen den Haftprüfungsentscheid des Zwangsmassnahmengerichts See-Gaster vom 10. Juni 2022 erhobene Beschwerde beurteilt und mit Urteil vom 14. Juli 2022 abgewiesen hat. Irrtümlicherweise wurde dieser Entscheid allerdings weder dem Beschwerdeführer noch seinem Rechtsvertreter eröffnet. Entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers hat die Anklagekammer seine Beschwerde somit nicht in unzulässiger Weise nicht an die Hand genommen. Eine formelle Rechtsverweigerung gemäss Art. 29 Abs. 1 BV ist somit zu verneinen (vgl. BGE 144 II 184 E. 3.1; 135 I 6 E. 2.1; Urteil 1B_366/2021 vom 18. Oktober 2021 E. 3.1).
3.
Zu prüfen bleibt, ob die Anklagekammer das Haftprüfungsverfahren unrechtmässig verzögerte, indem sie dem Beschwerdeführer ihren Entscheid vom 14. Juli 2022 erst am 12. September 2022 zustellte.
3.1. Die Strafbehörden nehmen die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss (Art. 5 Abs. 1 StPO). Haftsachen müssen dabei mit besonderer Beschleunigung behandelt werden (Art. 5 Abs. 2 StPO; BGE 137 IV 118 E. 2.1); dies weil die Untersuchungshaft einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit des Beschuldigten darstellt, der unter dem Schutz der Unschuldsvermutung steht (Art. 32 Abs. 1 BV; Art. 10 Abs. 1 StPO). Diese Konkretisierung des in Art. 29 Abs. 1 BV verankerten Grundsatzes auf Beurteilung innert angemessener Frist ist für die Behörden der Strafverfolgung (Art. 12 und Art. 15 ff. StPO ) und die Gerichte (Art. 13 und Art. 18 ff. StPO ) gleichermassen verbindlich.
Bei der Beurteilung, ob die Rechtsmittelinstanz das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt hat, sind die konkreten Umstände des Einzelfalles massgeblich. Zu berücksichtigen ist insbesondere die Komplexität des Falles und das Verhalten des Beschuldigten bzw. seines Anwalts (BGE 117 Ia 372 E. 3; Urteile 1B_22/2022 vom 8. Februar 2022 E. 2.2; 1B_672/2021 vom 30. Dezember 2021 E. 3.2; je mit Hinweisen).
3.2. Vorliegend erhob der Beschwerdeführer am 15. Juni 2022 Beschwerde gegen den Entscheid des regionalen Zwangsmassnahmengerichts See-Gaster vom 10. Juni 2022. Die Anklagekammer wies diese Beschwerde mit Entscheid vom 14. Juli 2022 ab. Diesen Entscheid stellte die Anklagekammer dem Beschwerdeführer unbestrittenermassen erst am 12. September 2022 zu. Vom Eingang der Beschwerde bei der Anklagekammer bis zur Zustellung ihres Entscheids an den Beschwerdeführer dauerte es somit 89 Tage. Dies stellt eine lange Zeitspanne dar, in welcher der Beschwerdeführer über das Schicksal seiner Haftbeschwerde im Ungewissen blieb; insbesondere sind keine erklärbaren Gründe für das Zuwarten der Urteilseröffnung während 60 Tagen ersichtlich. In Anbetracht dessen ist eine Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen zu bejahen. Die Beschwerde ist demnach im vorliegenden Punkt gutzuheissen. Die Verletzung des Beschleunigungsgebots ist (im Dispositiv) festzustellen. Im Übrigen ist es dem Sachgericht vorbehalten, im Rahmen einer Gesamtwürdigung darüber zu befinden, in welcher Weise - z.B. durch eine Strafreduktion - eine allfällige Verletzung des Beschleunigungsgebots wieder gut zu machen ist (vgl. Urteile 1B_22/2022 vom 8. Februar 2022 E. 2.4; 1B_482/2021 vom 1. Oktober 2021 E. 4.2; je mit Hinweisen).
Bezüglich des Antrags des Beschwerdeführers auf sofortige Haftentlassung ist festzuhalten, dass gegen ihn seit seiner Festnahme am 12. September 2019 aufgrund des Vorliegens von Wiederholungsgefahr stets ein gültiger Hafttitel vorlag und er die Rechtmässigkeit seiner strafprozessualen Inhaftierung mehrfach gerichtlich überprüfen liess (vgl. das den Beschwerdeführer betreffende Urteil 1B_514/2021 vom 27. Oktober 2021). In Anbetracht dessen, fällt eine Haftentlassung zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausser Betracht (vgl. BGE 137 IV 118 E. 2.1 f.; Urteile 1B_22/2022 vom 8. Februar 2022; 1B_234/2015 vom 22. Juli 2015 E. 2.6).
4.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen und festzustellen, dass die Vorinstanz das Beschleunigungsgebot verletzt hat. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Gerichtskosten zu erheben (vgl. Art. 66 Abs. 1 und Abs. 4 BGG). Der nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hat praxisgemäss keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (vgl. Art. 68 BGG; Urteil 1B_29/2020 vom 11. September 2020 E. 5). Das vom Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und es wird festgestellt, dass die Anklagekammer das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt hat. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wird nicht eingetreten.
3.
Für das bundesgerichtliche Verfahren werden keine Kosten erhoben.
4.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Kreisgericht See-Gaster, Regionaler Zwangsmassnahmenrichter, der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Kantonales Untersuchungsamt, Wirtschaftsdelikte, und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 6. Oktober 2022
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Jametti
Der Gerichtsschreiber: Hahn