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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
U 25/02 
 
Urteil vom 6. November 2002 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiber Fessler 
 
Parteien 
Allianz Suisse Versicherungen, Badenerstrasse 694, 8048 Zürich, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
G.________, 1964, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Pirmin Bischof, Dammstrasse 21, 4500 Solothurn, 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn 
 
(Entscheid vom 21. November 2001) 
 
Sachverhalt: 
A. 
G.________ verletzte sich am 29. Juni 1998 bei einer Feuerwehrübung am Rücken. Der erstbehandelnde Arzt (Dr. med. H.________) stellte die Diagnose eines Verhebetraumas. Bis 8. Juli 1998 war G.________ arbeitsunfähig geschrieben. Danach nahm er seine Tätigkeit als Adjunkt auf der Finanzverwaltung der Einwohnergemeinde der Stadt X.________ zu 50 % wieder auf und ab 10. August 1998 arbeitete er wieder vollzeitlich. Da trotz Rückgangs der Beschwerden namentlich bei rückenbelastenden Aktivitäten lumbale Schmerzen auftraten, begab er sich in unregelmässigen Abständen in physiotherapeutische Behandlung. Die ELVIA Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft, bei welcher G.________ obligatorisch berufs- und nichtberufsunfallversichert war, erbrachte die gesetzlichen Leistungen. 
 
Nach Abklärungen verfügte die ELVIA Versicherungen am 5. Juli 2000 die Einstellung sämtlicher Versicherungsleistungen auf Ende Juni 1999 zufolge Erreichens des status quo sine. Daran hielt der Unfallversicherer mit Einspracheentscheid vom 1. September 2000 fest. Das Erkenntnis wurde dem Rechtsvertreter von G.________, Dr. iur. Bischof, am 4. September 2000 zugestellt. 
B. 
Am 4. Dezember 2000 reichte Dr. Bischof namens und im Auftrag von G.________ beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Beschwerde ein. Bezug nehmend auf den beigelegten Einspracheentscheid ersuchte er, «die Frist zur Einreichung der Begründung angemessen zu erstrecken, da die notwendigen und medizinischen Daten (...) noch nicht vorliegen». Antragsgemäss wurde am 6. Dezember 2000 eine Nachfrist zur Einreichung der Beschwerdebegründung bis zum 18. des Monats verfügt unter Androhung, dass im Unterlassungsfalle auf das Rechtsmittel nicht eingetreten werde. Eine Orientierungskopie dieser «Mitteilung» wurde der ELVIA Versicherungen zugestellt. Nach Eingang der «Beschwerdebegründung» vom 18. Dezember 2000 sowie der «Ergänzung der Beschwerdebegründung» innert der auf Gesuch hin ein zweites Mal erstreckten Frist reichte die ELVIA Versicherungen ihre Vernehmlassung ein. Sie beantragte im Hauptstandpunkt Nichteintreten auf die Beschwerde, da die Eingabe vom 4. Dezember 2000 das ohnehin schon geringe Mass an formellen Gültigkeitserfordernissen absichtlich nicht erfülle. In Replik und Duplik hielten die Parteien an ihren gegenteiligen Standpunkten fest. 
 
Mit Entscheid vom 21. November 2001 trat das kantonale Versicherungsgericht auf die Beschwerde (Eingaben vom 4. und 18. Dezember 2000) ein, hob den Einspracheentscheid vom 1. September 2000 auf und wies die Sache zwecks Aktenergänzung und Erlass einer neuen Verfügung im Sinne der Erwägungen an die ELVIA Versicherungen zurück. 
C. 
Die seit 1. Januar 2002 unter der Bezeichnung Allianz Suisse Versicherungen auftretende ELVIA Versicherungen führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben. 
 
Das kantonale Versicherungsgericht beantragt die Abweisung der Verwal-tungsgerichtsbeschwerde, desgleichen G.________. Die CSS Versicherung als Mitinteressierte und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
In formeller Hinsicht streitig und als Frage des Bundesrechts frei zu prüfen (Art. 104 lit. a OG in Verbindung mit Art. 132 Ingress OG) ist, ob das kantonale Gericht zu Recht auf die Eingaben vom 4. und 18. Dezember 2000 als Be-schwerde im Sinne von Art. 106 Abs. 1 UVG eingetreten ist und über die Leis-tungspflicht nach Unfallversicherungsgesetz über den 30. Juni 1999 hinaus für die gesundheitlichen und erwerblichen Folgen des Ereignisses vom 29. Juni 1998 materiell entschieden hat . 
1.1 Gemäss Art. 108 Abs. 1 lit. b UVG muss die Beschwerde eine gedrängte Darstellung des Sachverhalts, ein Rechtsbegehren und eine kurze Begründung enthalten. Genügt sie diesen Anforderungen nicht, so setzt das Gericht dem Beschwerdeführer eine angemessene Frist zur Verbesserung und verbindet damit die Androhung, dass sonst auf die Beschwerde nicht eingetreten wird. 
1.2 Nach der Rechtsprechung gelten in Bezug auf Form und Inhalt einer Beschwerde gegen Einspracheentscheide nach Art. 105 Abs. 1 UVG, die nicht an die eidgenössische Rekurskommission nach Art. 109 UVG weiterziehbar sind, grundsätzlich dieselben Anforderungen wie für das erstinstanzliche Ver-fahren in anderen Sozialversicherungsbereichen, insbesondere der Alters- und Hinterlassenen- sowie der Invalidenversicherung (Art. 84 und Art. 85 Abs. 2 lit. b AHVG sowie Art. 69 IVG; RKUV 1994 Nr. U 192 S. 148). Danach genügt im Sinne eines bundesrechtlichen Minimums, dass eine individualisierte Person gegenüber einer bestimmten Verfügung den klaren Anfechtungswillen schriftlich bekundet. Mit anderen Worten hat sie erkenntlich ihren Willen um Änderung der sie betreffenden Rechtslage zum Ausdruck zu bringen. Trifft dies im konkreten Fall zu, genügt die Beschwerde aber den gesetzlichen Erfordernissen bezüglich Antrag und Begründung nicht, ist ihr Frist zur Verbesserung anzusetzen. Vor-behalten bleibt eine rechtsmissbräuchlich erhobene ungenügende Beschwerde (BGE 116 V 356 Erw. 2b mit Hinweisen). 
 
2. 
Im Lichte der vorstehenden Grundsätze ist von Bundesrechts wegen nicht zu beanstanden, dass das kantonale Gericht die Voraussetzungen für die Anset-zung einer Frist zur Verbesserung der Eingabe vom 4. Dezember 2000 als gegeben betrachtete und die in der Folge eingereichte «Beschwerde-begründung» vom 18. Dezember 2000 als genügende Beschwerde im Sinne von Art. 108 Abs. 1 lit. b UVG qualifizierte. Es kann insoweit ohne weiteres auf die entsprechenden Ausführungen im angefochtenen Entscheid verwiesen wer-den (vgl. auch BGE 116 V 356 Erw. 2c). Soweit in der Verwaltungsgerichts-beschwerde geltend gemacht wird, eine Nachfrist zur Behebung formeller und inhaltlicher Mängel sei lediglich bei rechtsunkundigen und prozessual unbehol-fenen Parteien anzusetzen, widerspricht dies der Gerichtspraxis (vgl. BGE 104 V 178 sowie ZAK 1986 S. 427 Erw. 3); davon abzuweichen besteht vorliegend kein Anlass (vgl. auch RKUV a.a.O. S. 150 Erw. 5b). 
3. 
Es bleibt zu prüfen, ob vorliegend der Tatbestand der missbräuchlichen Erhe-bung einer formell ungenügenden Beschwerde gegeben ist. 
3.1 Die Vorinstanz hat zu diesem Punkt erwogen, bei Einreichung der Be-schwerde (Eingabe vom 4. Dezember 2000) sei für den Instruktionsrichter nicht erkennbar gewesen, ob der geltend gemachte Grund für das Fehlen eines bestimmten Antrages, der Sachverhaltsdarstellung sowie der Begründung der Rechtsbegehren («da die notwendigen und medizinischen Daten [...] noch nicht vorliegen») sachlich vertretbar war oder ob er unter dem Aspekt des offen-sichtlichen Rechtsmissbrauches hätte geprüft werden müssen. Er habe in diesem Zeitpunkt aktenmässig einzig über den Einspracheentscheid vom 1. September 2000 verfügt. Als der Unfallversicherer erstmals in der Vernehm-lassung vom 23. Februar 2001 einen offensichtlichen Rechtsmissbrauch geltend gemacht habe, sei die Nachfrist gemäss Art. 108 Abs. 1 lit. b UVG bereits bewilligt worden und abgelaufen. Darauf zurückzukommen sei daher für das Gericht nicht mehr möglich gewesen, auch wenn einzuräumen sei, dass die in der Eingabe vom 4. Dezember 2000 angeführten Gründe für die unvollständige Beschwerdeeinreichung einer nachträglichen sachlichen Überprüfung nicht Stand zu halten vermöchten. Ein Nichteintretensentscheid nach gewährter und abgelaufener Nachfrist könne jedoch nicht in Frage kommen, ohne dass sich das Gericht seinerseits ein Verhalten wider Treu und Glauben vorwerfen lassen müsste. Dagegen hätte die Beschwerdegegnerin den Einwand des offen-sichtlichen Rechtsmissbrauchs sofort nach Mitteilung der am 6. Dezember 2000 verfügten Nachfristansetzung erheben können und müssen. In diesem Fall hätte das Gericht den Beschwerdeführer umgehend zur Stellungnahme aufgefordert und die Frist bis zum Entscheid darüber ausgesetzt. 
3.2 Das kantonale Gericht geht somit im Grundsatz von der missbräuchlichen Erhebung einer formell ungenügenden Beschwerde aus. Dem ist im Lichte von RKUV 1988 Nr. U 34 S. 31 beizupflichten. In jenem Fall hatte der damalige Rechtsvertreter des Versicherten ebenfalls erst kurz vor Ablauf der drei-monatigen Rechtsmittelfrist (Art. 106 Abs. 1 zweiter Satz UVG) Beschwerde erhoben, wobei er unter Hinweis eines beruflich bedingten sehr kurzfristig angesetzten Auslandaufenthaltes um Ansetzung einer Nachfrist für die Ein-reichung der fehlenden schriftlichen Begründung ersucht hatte. Dieses Ver-halten qualifizierte das Eidgenössische Versicherungsgericht wie zuvor das kantonale Versicherungsgericht als rechtsmissbräuchlich, da der Rechtsvertreter schon im Einspracheverfahren für den Beschwerdeführer tätig gewesen sei, die Akten folglich gekannt habe und daher während der dreimonatigen Anfech-tungsfrist genügend Zeit zur Ausarbeitung einer Beschwerde gehabt hätte (RKUV a.a.O. S. 34 Erw. 2b). Dass im hier zu beurteilenden Fall der Rechts-vertreter des Beschwerdeführers während der laufenden dreimonatigen Beschwerdefrist irgendwelche medizinische Abklärungen in Gang gesetzt oder zusätzliche medizinische Informationen einholen wollte, die aber, aus welchen Gründen auch immer, noch nicht erhältlich waren, wie er vernehmlassungsweise vorbringt und womit er das Gesuch um Einräumung einer Nachfrist begründet hatte, ist durch nichts belegt und daher nicht wahrscheinlich, zumal sich auch in den nachgereichten Beschwerdebegründungen keine derartigen Hinweise fin-den. 
3.3 Als negative Prozessvoraussetzung ist die Frage der rechtsmissbräuch-lichen Einreichung einer ungenügenden Beschwerde von Amtes wegen zu prüfen (vgl. BGE 125 V 347 Erw. 1a und RKUV 2000 Nr. U 371 Erw. 2a). Eines entsprechenden Antrages der Gegenpartei bedarf es nicht. Es ist daher ent-gegen dem kantonalen Gericht ohne Belang, dass vorliegend der Unfall-versicherer nicht sofort nach Kenntnis der Gewährung einer Nachfrist zur Verbesserung der Eingabe vom 4. Dezember 2000 intervenierte und einen Entscheid über deren Zulässigkeit als Beschwerde im Sinne von Art. 106 Abs. 1 UVG provozierte. Im Übrigen ist dem Verfahren der Verwaltungs-gerichtsbeschwerde die Rechtsfigur der Einlassung auf einen nicht rechtsgültig anhängig gemachten Streit grundsätzlich fremd. 
 
Der Argumentation der Vorinstanz kann sodann auch insofern nicht gefolgt werden, als sie unter Berufung auf Treu und Glauben einen Nichteintretens-entscheid nach gewährter und abgelaufener Nachfrist ausschliesst. Das ent-sprechende Gesuch wurde damit begründet, die notwendigen und medizi-nischen Daten lägen noch nicht vor. Die Bewilligung der Frist zur formellen und inhaltlichen Verbesserung der Eingabe vom 4. Dezember 2000 stand somit, und zwar erkennbar auch für den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, ohne dass dies ausdrücklich erwähnt werden musste, unter Vorbehalt der tatsächlichen Notwendigkeit einer Nachfrist. Das kantonale Gericht durfte daher diesen Punkt auch in einem späteren Verfahrensstadium, insbesondere aufgrund der Rüge der rechtsmissbräuchlichen Einreichung einer formell ungenügenden Beschwerde in der Vernehmlassung, prüfen und darüber materiell entscheiden, ohne sich dem Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens auszusetzen. In diesem Zusammenhang berufen sich im Übrigen der Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter zu Recht nicht auf den öffentlich-rechtlichen Vertrauensschutz (vgl. dazu etwa BGE 127 I 36 Erw. 3a, 121 V 66 Erw. 2a mit Hinweisen; ferner Beatrice Weber-Dürler, Neuere Entwicklungen des Vertrauensschutzes, in: ZBl 6/2002 S. 281 ff.) Abgesehen davon, dass es sich bei der Gewährung einer Nachfrist um eine instruktionsrichterliche Massnahme handelte, musste ihnen klar sein, dass sie im Hinblick auf die Vorlage der «notwendigen und medizinischen Daten» erfolgte. Sie durften daher nicht davon ausgehen, das Gericht werde bei rechtzeitiger Einreichung von Antrag, Sachverhaltsdarstellung und Begründung auf die Beschwerde eintreten. 
4. 
Nach dem Gesagten ist das kantonale Gericht zu Unrecht auf die Eingaben vom 4. und 18. Dezember 2000 als Beschwerde im Sinne von Art. 106 Abs. 1 UVG eingetreten. Der angefochtene Entscheid ist daher ohne Prüfung der materiell streitigen Leistungspflicht nach Unfallversicherungsgesetz aufzuheben (BGE 127 V 88 Erw. 4). 
5. 
Dem Antrag der Beschwerdeführerin auf eine Parteientschädigung ist nach der Rechtsprechung zu Art. 159 Abs. 2 OG (BGE 112 V 49 Erw. 3), von welcher abzugehen vorliegend kein Anlass besteht, nicht stattzugeben. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
1. 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 21. November 2001 aufgehoben. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, dem Bundesamt für Sozialversicherung und der CSS Versicherung, Zürich, zugestellt. 
Luzern, 6. November 2002 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: