Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9C_93/2022
Urteil vom 7. Juli 2022
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Stadelmann, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
nebenamtlicher Bundesrichter Kradolfer,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Rainer Deecke,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zug,
Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 5. Januar 2022 (S 2020 77).
Sachverhalt:
A.
Die 1973 geborene A.________ war bis 30. November 2018 (Kündigung wegen langdauernder Arbeitsunfähigkeit) als Sozialarbeiterin bei der Klinik B.________ angestellt. Im Juni 2018 meldete sie sich unter Hinweis auf seit 2009 bestehende psychische und somatische Einschränkungen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärung der medizinischen und der erwerblichen Verhältnisse sowie Konsultation des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) erliess die IV-Stelle Zug am 19. September 2018 einen Vorbescheid, in welchem sie einen Leistungsanspruch verneinte, wogegen die Versicherte Einwand erhob. Die IV-Stelle zog die Akten der Krankentaggeldversicherung bei, holte bei den behandelnden Ärzten weitere Berichte ein und gab bei Dr. med. C.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag, welches am 28. Januar 2020 erstattet wurde. Nach Rücksprache mit dem RAD (Stellungnahme vom 31. Januar 2020) verneinte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch mangels Vorliegens eines relevanten Gesundheitsschadens.
B.
Beschwerdeweise liess A.________ beantragen, die Verfügung sei aufzuheben und es seien ihr Eingliederungsmassnahmen und/oder eine angemessene Rente zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung an die IV-Stelle zurückzuweisen. Mit Urteil vom 5. Januar 2022 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug die Beschwerde ab.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, das Urteil sei aufzuheben und es seien ihr die gesetzlichen Leistungen auszurichten, namentlich eine Rente. Es sei die Sache unter Aufhebung des kantonalen Urteils zwecks Einholung eines Gerichtsgutachtens an die Vorinstanz zurückzuweisen. Gleichzeitig wird um unentgeltliche Rechtspflege ersucht.
Erwägungen:
1.
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ; BGE 145 V 57 E. 4.2 mit Hinweis).
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist (d.h. willkürlich; BGE 147 I 73 E. 2.2) oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG ; BGE 147 V 16 E. 4.1.1).
2.
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie einen Leistungsanspruch der Versicherten mangels relevanten Gesundheitsschadens verneinte.
2.2. Im angefochtenen Urteil werden die gesetzlichen Bestimmungen und die von der Rechtsprechung dazu entwickelten Grundsätze zu den Begriffen der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) sowie zum Anspruch auf Umschulung (Art. 17 IVG) und auf eine Rente (Art. 28 IVG in der hier anwendbaren, bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung [vgl. BGE 144 V 210 E. 4.3.1]) zutreffend dargelegt. Korrekt wiedergegeben ist auch die Rechtsprechung zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a mit Hinweis) sowie zum Vorliegen eines psychischen Gesundheitsschadens (BGE 145 V 215 E. 5.1; 143 V 409 E. 4.5.2; 141 V 281 E. 2.1). Darauf wird verwiesen.
3.
3.1. Die Vorinstanz stellte auf das Gutachten des Dr. med. C.________ vom 28. Januar 2020 ab. Da sein Beweiswert durch nichts in Zweifel gezogen werde, sei auf das von der Beschwerdeführerin beantragte Gerichtsgutachten zu verzichten. Gemäss Dr. med. C.________ leide die Versicherte weder an einer posttraumatischen Belastungsstörung ([PTBS]; ICD-10 F43.1/DSM-5 F43.10) noch an einer Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.6) oder an einer rezidivierenden depressiven Störung (ICD-10 F33.1), die sich invalidisierend auswirke. Für die Zeit nach der Anmeldung bei der Invalidenversicherung im Juni 2018 sei aufgrund der erhobenen Befunde und unter Berücksichtigung der ausgewiesenen invaliditätsfremden Faktoren eine relevante Einschränkung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit nicht überwiegend wahrscheinlich und auch im Zeitpunkt der Begutachtung habe kein invalidisierender Gesundheitsschaden bestanden. Bei dieser Sachlage erübrige sich eine Indikatorenprüfung nach BGE 141 V 281. Damit habe die IV-Stelle einen Umschulungs- und einen Rentenanspruch zu Recht verneint.
3.2. Die Beschwerdeführerin trägt ihre abweichende Sichtweise des Sachverhaltes vor, ohne in rechtsgenüglicher Weise aufzuzeigen, inwiefern die vorinstanzlichen Feststellungen willkürlich sein sollen. Sie vermag nicht darzutun, weshalb das kantonale Gericht dem Gutachten des Dr. med. C.________ vom 28. Januar 2020 bundesrechtswidrig Beweiskraft beigemessen haben soll.
3.2.1. Nicht gefolgt werden kann der Beschwerdeführerin vorab hinsichtlich ihrer Kritik, wonach sich das Gutachten auf eine Momentaufnahme beschränke und eine gesundheitliche Beeinträchtigung ohne genügende Auseinandersetzung mit den echtzeitlich erhobenen Befunden verneine. Der Gutachter Dr. med. C.________ nahm einlässlich zu den von den behandelnden Ärzten bisher gestellten Diagnosen Stellung, insbesondere auch zur PTBS, gegen deren fehlende Anerkennung die Beschwerdeführerin im Wesentlichen opponiert. Dass er das Vorliegen einer PTBS verneinte, begründete er in einer detaillierten Auseinandersetzung mit den acht Diagnosekriterien (A bis H) der DSM-5, von welchen nach seinen nachvollziehbaren Ausführungen lediglich A (vermutlich) und H erfüllt waren. In diesem Zusammenhang ist der Vorinstanz auch insoweit beizupflichten, als sie festhielt, dass der Beizug der Asylakten (deren Fehlen die Beschwerdeführerin beanstandet) am Verhältnis zwischen erfüllten und unerfüllten Diagnosekriterien nichts geändert hätte, da die Unterlagen lediglich für das Kriterium A "direktes Trauma", welches der Gutachter für "vermutlich erfüllt" hielt, relevant gewesen wären.
3.2.2. Die von der Beschwerdeführerin weiter erhobene Kritik, die Vorinstanz habe sich nicht ausreichend mit einer möglichen delayed-onset PTBS (d.h. einer PTBS mit protrahiertem Beginn) auseinandergesetzt, geht schon deshalb ins Leere, weil das zeitliche Moment für den Gutachter nicht ausschlaggebend war, bildet es doch nicht einmal Teil der von ihm herangezogenen Diagnosekriterien der DSM-5 (vgl. PETER FALKAI ET AL. [Hrsg.], Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5, Deutsche Ausgabe, 2015, S. 369 ff.).
3.2.3. Unbegründet ist auch die beschwerdeführerische Kritik, wonach die gutachterliche Beurteilungsbasis zu knapp ausgefallen sei, indem sie sich auf den klinisch gewonnenen Eindruck und die Verhaltensbeobachtung anlässlich einer einzigen Exploration beschränkt habe. Entscheidend ist, dass der von Dr. med. C.________ für die klinische Untersuchung (mit Anamneseerhebung, Symptomerfassung und Verhaltensbeobachtung) betriebene Aufwand der Fragestellung und der zu beurteilenden Psychopathologie angemessen war (vgl. dazu Urteil 8C_354/2018 vom 20. Dezember 2018 E. 4.2 mit Hinweis) und keine Hinweise auf Lücken bestehen; eine weitere Exploration erwies sich damit als entbehrlich.
3.2.4. Entgegen der Beschwerdeführerin legte der Gutachter schliesslich auch nachvollziehbar dar, insbesondere auch unter Bezugnahme auf die sich aus den Akten ergebenden und von ihr selber anlässlich der Exploration geschilderten Lebensumstände, weshalb er zum Ergebnis gelangte, eine verselbstständigte, von äusseren Faktoren unabhängige psychische Erkrankung könne für den zu beurteilenden Zeitraum nicht diagnostiziert werden (vgl. dazu auch Urteil 8C_407/2020 vom 3. März 2021 E. 4.2, in: SVR 2021 IV 47 151; 9C_311/2021 vom 23. September 2021 E. 4.2).
3.3. Bei dieser Sachlage durfte die Vorinstanz das Gutachten vom 28. Januar 2020 als beweiskräftige Grundlage betrachten. Es sind keine Umstände auszumachen, welche die Verlässlichkeit der Aussagen des Dr. med. C.________ in Frage stellen könnten. Damit stellt der vorinstanzliche Verzicht auf die Einholung eines Gerichtsgutachtens auch keine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 lit. c ATSG) dar.
3.4. Fehlt es nach den gutachterlichen Angaben im gesamten hier zu beurteilenden Zeitraum an einer psychischen Störung von Krankheitswert, wurde ein Leistungsanspruch (einschliesslich des von der Beschwerdeführerin zur Diskussion gestellten Anspruchs auf eine befristete Rente) mangels Invalidität zu Recht verneint. Damit hat es mit dem angefochtenen Urteil sein Bewenden.
4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie dazu später in der Lage ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Rainer Deecke wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
4.
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 7. Juli 2022
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Stadelmann
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann