Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 734/05
Urteil vom 8. März 2006
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard; Gerichtsschreiber Arnold
Parteien
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdeführerin,
gegen
J.________, 1966, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Marco Unternährer, Sempacherstrasse 6, 6003 Luzern
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern
(Entscheid vom 9. September 2005)
Sachverhalt:
A.
A.a Der 1966 geborene J.________ war vom 6. Juni 1984 bis 31. Januar 1997 bei der Bauunternehmung A.________ AG als Kranfahrer angestellt. Auf die Anmeldung zum Leistungsbezug vom 12. Februar 1997 hin, worin er seit 1996 auftretende Rückenbeschwerden nannte, klärte die IV-Stelle Luzern die medizinischen und beruflich-erwerblichen Verhältnisse ab. Die Verwaltung holte u.a. einen Bericht der letzten Arbeitgeberin vom 5. August 1997 sowie zwei Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) vom 19. Mai 2000 und 1. Juli 2002 ein, um J.________ mit zwei Verfügungen vom 11. Oktober 2002 vom 1. Oktober 1997 bis August 2000 (bei einem Invaliditätsgrad von 59 %) sowie ab 1. Mai 2002 (bei einer Erwerbsunfähigkeit von 50 %) eine halbe Invalidenrente zuzusprechen.
A.b Am 5./6. Juli 2004 liess J.________ durch seinen Rechtsvertreter unter Beilage zweier Zeugnisse des Dr. med. M.________, Innere Medizin FMH, vom 23. Juni 2004 und des Dr. med. C.________, Psychiatrie und Psychotherapie, vom 2. Juli 2004 ein Gesuch um Rentenrevision stellen. Am 10. November 2004 verfügte die Verwaltung, auf das Revisionsgesuch werde nicht eingetreten. Sie begründete dies damit, eine für den Anspruch auf Invalidenrente erhebliche Veränderung in den tatsächlichen Verhältnissen sei nicht glaubhaft gemacht worden. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 12. Januar 2005).
B.
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde, welcher ein Bericht des Dr. med. B.________, Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 29. Januar 2001, beilag, hob das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern den angefochtenen Einspracheentscheid auf und wies die IV-Stelle an, auf das Revisionsgesuch vom 5. Juli 2004 einzutreten (Entscheid vom 9. September 2005).
C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.
J.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen; ferner beantragt er die unentgeltliche Verbeiständung. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das kantonale Gericht trägt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Strittig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin auf das Revisionsgesuch vom 5./6. Juli 2004 zu Recht nicht eingetreten ist (Verfügung vom 10. November 2004, Einspracheentscheid vom 12. Januar 2005). Prozessthema bildet die Frage, ob glaubhaft im Sinne von Art. 87 Abs. 3 IVV (in der seit 1. März 2004 gültigen Fassung, AS 2004 743) ist, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse des Beschwerdegegners seit Erlass der eine halbe Invalidenrente zusprechenden Verfügung vom 11. Oktober 2002 in einer für den Anspruch auf eine entsprechende Dauerleistung erheblichen Weise geändert haben.
2.
2.1 Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) und die dazugehörige Verordnung vom 11. September 2002 (ATSV) in Kraft getreten. Weil die gesetzgebenden Behörden danach trachteten, die bisherigen Regelungen zur Revision von Invalidenrenten nach IVG (Art. 41 IVG, aufgehoben auf den 31. Dezember 2002) einschliesslich der auf Verordnungsstufe normierten Prüfungspflichten der Verwaltung - sowie auf Beschwerde hin der Gerichte - hinsichtlich des Eintretens auf ein erneutes Rentengesuch nach vorausgegangener rechtskräftiger Ablehnung (Art. 87 Abs. 3 IVV [in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung] und Art. 87 Abs. 4 IVV) ohne substanzielle Änderungen weiterzuführen, gilt die altrechtliche Judikatur (BGE 117 V 200 Erw. 4b, 109 V 264 Erw. 3 sowie 114 Erw. 2b, je mit Hinweisen) über den 1. Januar 2003 hinaus grundsätzlich weiterhin (BGE 130 V 343 ff. Erw. 3.5; Urteile L. vom 30. Dezember 2004, I 671/04, Erw. 1.2 und Z. vom 26. Oktober 2004, I 457/04, Erw. 2.1). Daran hat die auf den 1. März 2004 in Kraft getretene Neufassung des Art. 87 Abs. 3 IVV (AS 2004 743) insofern nichts geändert, als hinsichtlich der Revision der Invalidenrente nach wie vor verlangt wird, dass im Gesuch um Revision glaubhaft zu machen ist, dass sich der Grad der Invalidität in einer für den Anspruch erheblichen Weise geändert hat.
2.2
2.2.1 Zur Frage des Bedeutungsgehalts des Art. 87 Abs. 3 IVV (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 130 V 68 f. Erw. 5.2.5 entschieden, dass die versicherte Person mit dem Revisionsgesuch oder der Neuanmeldung die massgebliche Tatsachenänderung glaubhaft machen muss. Der Untersuchungsgrundsatz, wonach das Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen hat (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je mit Hinweisen), spielt insoweit nicht. Wird im Revisionsgesuch oder in der Neuanmeldung kein Eintretenstatbestand glaubhaft gemacht, sondern bloss auf ergänzende Beweismittel, insbesondere Arztberichte, hingewiesen, die noch beigebracht würden oder von der Verwaltung beizuziehen seien, ist der versicherten Person eine angemessene Frist zur Einreichung der Beweismittel anzusetzen. Diese Massnahme setzt voraus, dass die ergänzenden Beweisvorkehren geeignet sind, den entsprechenden Beweis zu erbringen. Sie sind mit der Androhung zu verbinden, dass ansonsten gegebenenfalls auf Nichteintreten erkannt wird.
Wird im Revisionsgesuch (oder in der Neuanmeldung) kein Eintretenstatbestand glaubhaft gemacht, führt dies, entgegen der offenbaren Rechtsauffassung der Vorinstanz, nicht in allen Fällen dazu, dass eine Nachfristansetzung gemäss BGE 130 V 68 f. Erw. 5.2.5 erfolgt. Die zitierte Rechtsprechung hat einzig die Fälle zum Gegenstand, in denen kein Eintretenstatbestand glaubhaft gemacht, sondern bloss auf ergänzende Beweismittel, insbesondere Arztberichte, hingewiesen wird, die noch beigebracht würden oder von der Verwaltung beizuziehen seien (zitierter BGE, lit. A zweiter Absatz sowie Erw. 5.2.5; Urteile H. vom 31. Oktober 2003, I 570/01, Erw. 2 und B. vom 13. Januar 2005, I 606/04, Erw. 4 und F. vom 10. Februar 2005, I 619/04, lit. A.b und Erw. 2). Wird demgegenüber, wie im hier zu beurteilenden Fall, ein Revisionsgesuch ohne Hinweis auf ergänzende Beweismittel eingereicht, hat die Verwaltung ohne Weiterungen über das Eintreten auf Grund des Gesuchs (einschliesslich allfälliger Beilagen) zu befinden.
2.2.2 Wie bereits dargelegt (Erw. 2.1 am Ende), verlangt Art. 87 Abs. 3 IVV (in der seit 1. März 2004 gültigen Fassungen) nach wie vor, dass im Gesuch um Revision glaubhaft zu machen ist, dass sich der Grad der Invalidität in einer für den Anspruch erheblichen Weise geändert hat. Mit In-Kraft-Treten des ATSG auf den 1. Januar 2003 ist für die Beurteilung eines Falles in der Regel auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des strittigen Einspracheentscheids (statt wie bisher der Verwaltungsverfügung) eingetretenen Sachverhalt abzustellen (vgl. statt vieler: BGE 130 V 464 mit Hinweis auf BGE 121 V 366 Erw. 1b). Das wirft die Frage auf, ob die in BGE 130 V 68 f. Erw. 5.2.5 formulierten Grundsätze zur Beweisführungslast der versicherten Person hinsichtlich der behaupteten massgeblichen Tatsachenänderung und insbesondere zur sachverhaltsmässigen Grundlage bei der richterlichen Überprüfung unverändert gelten. Ob, gemäss dem Wortlaut des Art. 87 Abs. 3 IVV, auch nach In-Kraft-Treten des ATSG der Beweisführungslast (von Ausnahmen absehen) im Revisionsgesuch zu genügen ist oder ob der entsprechende, herabgesetzte Beweis bis zum Abschluss des laut ATSG vorgesehenen Einspracheverfahrens erbracht werden kann, braucht hier aus nachfolgend dargelegtem Grunde (Erw. 3.2) indes nicht entschieden zu werden.
3.
3.1 Vorinstanz (angefochtener Entscheid, Erw. 2 erster Absatz) und Verwaltung (Einspracheentscheid vom 9. Dezember 2004, Erw. 2) stimmen zu Recht darin überein, dass durch die mit dem Revisionsgesuch vom 5./6. Juli 2004 eingereichten Zeugnisse des Dr. med. M.________ (vom 23. Juni 2004) und des Dr. med. C.________ (vom 2. Juli 2004) keine für den Anspruch auf eine (höhere) Invalidenrente erhebliche Verschlechterung der gesundheitlichen Verhältnisse glaubhaft dargetan wurde. Das Zeugnis des Dr. med. C.________ erschöpft sich im Hinweis darauf, dass der Versicherte in psychiatrischer Behandlung steht. Dr. med. M.________ spricht von einer malignen Entwicklung und einer nunmehr 100%igen Arbeitsunfähigkeit bezüglich sämtlicher Tätigkeiten. Er unterlässt es, eine Verschlechterung der psychischen oder physischen Krankheit näher zu umschreiben.
3.2 Mit Blick darauf, dass Art. 87 Abs. 3 IVV (in der seit 1. März 2004 gültigen Fassung) nach wie vor verlangt, dass im Gesuch um Revision glaubhaft zu machen ist, dass sich der Grad der Invalidität in einer für den Anspruch erheblichen Weise geändert hat, kann sich im Lichte des auf den 1. Januar 2003 in Kraft getretenen ATSG einzig fragen, ob die in BGE 130 V 68 f. Erw. 5.2.5 aufgestellten Grundsätze zur Beweisführungslast dahingehend zu modifizieren sind, dass der durch Gesetz und Rechtsprechung umschriebenen Beweisführungslast bis zum Abschluss des Einspracheverfahrens genügt werden kann (Erw. 2.2.2). Nach Erlass des Einspracheentscheides datierende Beweismittel, die eine anspruchserhöhende Tatsache glaubhaft machen sollen, sind demgegenüber stets im Wege eines neuen Revisionsgesuchs vorzubringen. Damit ist kein überspitzter Formalismus verbunden, sondern wird der in Art. 87 Abs. 3 IVV verankerten Regelungsabsicht - beschränkte Beweisführungslast bei Revisions- oder Neuanmeldungsverfahren - Rechnung getragen, die ihrerseits darauf beruht, dass dem Revisions- oder Neuanmeldungsverfahren naturgemäss zumindest einmal eine Anspruchsprüfung nach dem so genannten Untersuchungsprinzip vorangegangen war.
Indem das kantonale Gericht entscheidwesentlich auf den erst im kantonalen Beschwerdeverfahren vom Versicherten eingereichten Bericht des Dr. med. B.________ (vom 29. Januar 2001) abgestellt hat, ist der angefochtene Entscheid nach dem Gesagten bundesrechtswidrig.
4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Verbeiständung ist stattzugeben, weil die Bedürftigkeit aktenkundig ist und die Vertretung geboten war. Dem Beschwerdegegner steht zu Lasten der Gerichtskasse eine dem Aufwand entsprechende Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG); es wird ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 9. September 2005 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Marco Unternährer, Luzern, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 8. März 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: