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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_623/2020  
 
 
Urteil vom 8. März 2021  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Martin Suenderhauf, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, 7000 Chur, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 18. August 2020 (S 20 49). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1993 geborene A.________ war als Chauffeur tätig, als er sich im August 2019 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug anmeldete. Nach Abklärungen und Durchführung des Vorbescheidverfahrens kam die IV-Stelle des Kantons Graubünden zum Schluss, dass ihm zwar die Tätigkeit als Chauffeur nicht mehr zumutbar sei, aber der invaliditätsbedingte Minderverdienst weniger als 20 % betrage. Folglich verneinte sie mit Verfügung vom 31. März 2020 einen Anspruch auf Umschulung. 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Entscheid vom 18. August 2020 ab. 
 
C.   
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 18. August 2020 und der Verfügung vom 31. März 2020 sei ihm Umschulung zu gewähren und die Sache sei zur Prüfung und Festlegung geeigneter Mass nahmen und der weiteren im Zusammenhang stehenden gesetzlichen Leistungen an die IV-Stelle zurückzuweisen. Eventualiter sei die Sache zur weiteren medizinischen Abklärung und neuem Entscheid an die IV-Stelle, subeventualiter an das kantonale Gericht, zurückzuweisen. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Der Versicherte hat gemäss Art. 17 Abs. 1 IVG Anspruch auf Umschulung auf eine neue Erwerbstätigkeit, wenn die Umschulung infolge Invalidität notwendig ist und dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten oder verbessert werden kann. Unter Umschulung ist dabei rechtsprechungsgemäss grundsätzlich die Summe der Eingliederungsmassnahmen berufsbildender Art zu verstehen, die notwendig und geeignet sind, der vor Eintritt der Invalidität bereits erwerbstätig gewesenen versicherten Person eine ihrer früheren annähernd gleichwertige Erwerbsmöglichkeit zu vermitteln. Dabei bezieht sich der Begriff der "annähernden Gleichwertigkeit" nicht in erster Linie auf das Ausbildungsniveau als solches, sondern auf die nach erfolgter Eingliederung zu erwartende Verdienstmöglichkeit. In der Regel besteht nur ein Anspruch auf die dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen, nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren. Denn das Gesetz will die Eingliederung lediglich so weit sicherstellen, als diese im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist (BGE 130 V 488 E. 4.2 S. 489 f.; Urteil 8C_163/2008 vom 8. August 2008 E. 2.2). 
Der Umschulungsanspruch setzt grundsätzlich eine Mindesterwerbseinbusse von rund 20 % in den für die versicherte Person ohne zusätzliche Ausbildung offenstehenden, noch zumutbaren Erwerbstätigkeiten voraus (BGE 130 V 488 E. 4.2 S. 489 f., 124 V 108 E. 3 S. 111). Davon kann namentlich bei jungen Versicherten mit entsprechend langer verbleibender Aktivitätsdauer abgewichen werden, wenn es sich bei den ohne Umschulung zumutbaren angepassten Tätigkeiten um unqualifizierte Hilfsarbeiten handelt, die im Vergleich zur erlernten Tätigkeit qualitativ nicht als annähernd gleichwertig bezeichnet werden können (BGE 124 V 108 E. 3c S. 112; SVR 2011 IV Nr. 51 S. 152, 9C_704/2010 E. 3.1; Urteil 8C_808/2017 vom 11. Januar 2018 E. 3). 
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz hat festgestellt, dem Versicherten sei die zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Chauffeur nicht mehr zumutbar. Entsprechend dem Bericht über das Ergonomietrainingsprogramm des Rehazentrums B.________ vom 10. Februar 2020 bestehe seit diesem Zeitpunkt - abgesehen von einer temporären vollständigen Arbeitsunfähigkeit im Zusammenhang mit der am 12. Juni 2020 erfolgten Operation - eine uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit für leidensangepasste Tätigkeiten (leichte bis mittelschwere, wechselbelastende Arbeiten, nur manchmal über Schulterhöhe und mit vorgeneigtem Stehen). Hinsichtlich der Invaliditätsbemessung hat sie festgestellt, der Versicherte habe seine 2009 begonnene Lehre zum Heizungs installateur mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ) 2011 gesundheitsbedingt aufgegeben; dementsprechend betrage das Valideneinkommen Fr. 75'734.30. Das Invalideneinkommen hat sie auf Fr. 61'576.55 festgelegt. Beim resultierenden Invaliditätsgrad von 18,69 resp. (aufgerundet) 19 % hat sie den Anspruch auf Umschulung verneint.  
 
3.2. Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen geltend, angesichts seines Alters und der verbleibenden Aktivitätsdauer sei ihm Umschulung zu gewähren, obwohl der Invaliditätsgrad den Schwellenwert von 20 % (knapp) nicht erreiche. Die "qualitativ annähernde Gleichwertigkeit" der ihm (ohne berufliche Massnahme) offenstehenden unqualifizierten Hilfsarbeiten sei nicht mit der zuletzt ausgeübten Arbeit als Chauffeur, sondern mit der Tätigkeit eines gelernten Heizungsinstallateurs (mit EFZ) zu vergleichen. Diesbezüglich sei sie zu verneinen. Lediglich im Eventualstandpunkt macht der Beschwerdeführer grössere gesundheitliche Einschränkungen und folglich einen höheren Invaliditätsgrad ab Februar 2020 geltend.  
Somit ist (vorerst) zu prüfen, ob ein Umschulungsanspruch einzig aufgrund des vorinstanzlich festgesetzten Invaliditätsgrades ausser Betracht fällt. 
 
4.  
 
4.1. Der Schwellenwert von "rund" 20 % (vgl. obenstehende E. 2) ist als Richtschnur zu verstehen. Er rührt daher, dass die Leistungspflicht der Invalidenversicherung für Eingliederungsmassnahmen unter Berücksichtigung der gesamten tatsächlichen und rechtlichen Umstände des Einzelfalles in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Eingliederungsziel stehen muss. Insbesondere mit Blick darauf, dass die Umschulung auf eine neue Erwerbstätigkeit regelmässig erhebliche Kosten auslöst, rechtfertigt es sich, den entsprechenden Anspruch davon abhängig zu machen, dass ein erheblicher behinderungsbedingter Einkommensverlust gegeben ist. Die Festlegung dieses Wertes auf ca. 20 % trägt dem Umstand Rechnung, dass bei wesentlich tieferen Invaliditätsgraden die mit einer Umschulung verbundenen Kosten die auszugleichende Erwerbseinbusse regelmässig um ein Vielfaches übersteigen (BGE 130 V 488 E. 4.3.2 S. 491).  
In concreto wird der Richtwert von ("rund") 20 % nur um gut einen Prozentpunkt unterschritten. Ob bereits deswegen ein Umschulungsanspruch nicht - von vornherein - hätte verneint werden dürfen, kann offenbleiben, wie sich aus dem Folgenden ergibt. 
 
4.2. Das Alter des Versicherten lässt gemäss Rechtsprechung (vgl. obenstehende E. 2 Abs. 2) eine Abweichung von der grundsätzlich vorausgesetzten Mindesterwerbseinbusse von 20 % zu.  
Mit der Festlegung des Valideneinkommens hat die Vorinstanz implizit, aber verbindlich (vgl. obenstehende E. 1) festgestellt, dass der Versicherte ohne gesundheitliche Einschränkung als Heizungsinstallateur (EFZ) arbeiten würde. Diese Tätigkeit kann im Vergleich zu - unter gesundheitlichen Aspekten noch zumutbaren - unqualifizierten Hilfsarbeiten qualitativ nicht als annähernd gleichwertig betrachtet werden, zumal auch den unterschiedlichen Möglichkeiten der Einkommensentwicklung Rechnung zu tragen ist (vgl. BGE 124 V 108 E. 3b S. 112). Zwar verfügt der Beschwerdeführer (laut verbindlicher Feststellung im angefochtenen Entscheid) über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Weshalb dieser Umstand dem Heranziehen der als "angestammt" qualifizierten Tätigkeit als Vergleichsbasis entgegenstehen soll, wie die Vorinstanz anzunehmen scheint, leuchtet nicht ein: Die Ausbildung wurde (gemäss ebenfalls verbindlicher Feststellung) aus gesundheitlichen Gründen abgebrochen. 
 
4.3. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz Recht verletzt, indem sie einen Umschulungsanspruch einzig aufgrund eines zu geringen Invaliditätsgrads bereits im Grundsatz verneint hat. Bisher waren weder konkrete Massnahmen noch die (weiteren) anspruchsspezifischen Voraussetzungen geprüft worden. Die IV-Stelle wird dies nachzuholen haben. Dabei steht angesichts der nicht abgeschlossenen Berufsausbildung auch eine Leistungszusprache unter dem Titel der erstmaligen beruflichen Ausbildung im Raum (vgl. Urteil 9C_583/2020 vom 11. Januar 2021 E. 2.2 und 4.3). Die Beschwerde ist begründet. Weiterungen hinsichtlich der Vorbringen zum Eventualstandpunkt erübrigen sich.  
 
5.   
Dem Prozessausgang entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 18. August 2020 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Graubünden vom 31. März 2020 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Graubünden zurückgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 3. Kammer, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 8. März 2021 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann