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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_325/2017  
 
 
Urteil vom 8. Juni 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Beat Frischkopf, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 27. März 2017 (5V 16 255). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1961 geborene A.________, Mutter dreier 1980, 1981 und 1984 geborener Kinder, zuletzt bis 1995 im Service tätig gewesen, meldete sich am 13. Juli 1998 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die damals zuständige IV-Stelle des Kantons Solothurn liess die Versicherte von der Fachklinik B.________ (Expertise vom 20. Juni 2001) sowie von Dr. med. C.________, Leitender Arzt, (Expertise vom 6. Februar 2002) begutachten. Mit Verfügung vom 28. Juni 2002 sprach die Verwaltung A.________ ab 1. November 1998 eine ganze Invalidenrente zu (Invaliditätsgrad: 100 %) und bestätigte diesen Anspruch mit Mitteilung vom 7. Juli 2006. 
Die Versicherte verlegte ihren Wohnsitz. Die nun zuständige IV-Stelle des Kantons Luzern leitete im Februar 2012 ein Revisionsverfahren ein. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren hob die Verwaltung die ganze Rente gestützt auf lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket [SchlB IVG]) mit Verfügung vom 28. Oktober 2013 auf. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 22. Juli 2014 in dem Sinne gut, als es die angefochtene Verfügung aufhob und die Sache an die IV-Stelle zu weiteren Abklärungen zurückwies. 
Die IV-Stelle ordnete eine polydisziplinäre Begutachtung bei der Ärztlichen Begutachtungsinstitut GmbH (ABI) an (Expertise vom 11. August 2015 sowie Ergänzung vom 31. Mai 2016) und kündigte am 15. März 2016 an, sie werde die bisherige Rente auf eine Viertelsrente herabsetzen (Invaliditätsgrad: 41 %), woran sie mit Verfügung vom 8. Juni 2016 festhielt. 
 
B.   
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 27. März 2017 gut. Es hob die Verfügung vom 8. Juni 2016 auf und stellte fest, die Versicherte habe weiterhin Anspruch auf eine ganze Rente. 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, Dispositiv-Ziffern 1 bis 3 des kantonalen Entscheids seien aufzuheben, und die Richtigkeit der Verfügung vom 8. Juni 2016 sei zu bestätigen. Zudem ersucht sie um aufschiebende Wirkung der Beschwerde. 
A.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei, und beantragt die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Voraussetzungen für eine Überprüfung der Rente gestützt auf lit. a Abs. 1 SchlB IVG erfüllt sind. Das kantonale Gericht legte die entsprechenden Bestimmungen und die darunter fallenden Beschwerdebilder zutreffend dar. Korrekt sind namentlich die Hinweise auf die Revidierbarkeit von Renten, welche wegen der Folgen "kombinierter", d.h. erklärbare wie auch unklare Beeinträchtigungen umfassender Beschwerden zugesprochen worden waren (BGE 140 V 197 E. 6 S. 198; Urteile 8C_34/2014 vom 8. Juli 2014 E. 4.2; 9C_121/2014 vom 3. September 2014 E. 2.6, in: SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137 und 9C_274/2014 vom 30. September 2014). Darauf wird verwiesen. 
 
2.1. Das kantonale Gericht stellte fest, der ursprünglichen Rentenzusprache habe ein chronisches Panvertebralsyndrom mit sekundärer Symptomausweitung, das von somatischen Komponenten unterhalten worden sei, sowie eine Dysthymia zugrunde gelegen, welche zusammen keine wirtschaftlich verwertbare Tätigkeit mehr zugelassen hätten. Es sei nicht möglich, die unklaren von den klaren Beschwerdebildern sowohl diagnostisch als auch hinsichtlich der funktionellen Folgen auseinanderzuhalten. Die Vorinstanz erwog, es lägen mithin somatische und psychiatrische Diagnosen vor, welche über das unklare Beschwerdebild hinausgegangen seien und verneinte eine Neuüberprüfung der Rente nach lit. a Abs. 1 SchlB IVG.  
 
2.2. Die IV-Stelle macht geltend, mit Blick auf die bei der Rentenzusprache erhobenen und ausgewiesenen Befunde habe aus somatischer Sicht lediglich bezüglich Tätigkeiten im angestammten Bereich eine Arbeitsunfähigkeit bestanden. Die Schmerzproblematik sei daher vordergründig gewesen und von einer depressiven Verstimmung begleitet worden. Damit sei im Zeitpunkt der Rentenzusprache von einem massgebenden unklaren Beschwerdebild auszugehen.  
 
3.  
 
3.1. Die ursprüngliche Rentenzusprache beruhte im Wesentlichen auf zwei medizinischen Beurteilungen. Zum einen diagnostizierten die Ärzte der Fachklinik B.________ am 20. Juni 2001 ein chronisches Panvertebralsyndrom sowie eine anamnestische depressive Verstimmung. Sie berichteten, anhand der geschilderten Beschwerden mit Schmerzsymptomatik im Stehen, Gehen und beim Lasten heben sei von einer 100%igen Arbeitsunfähigkeit als Serviceangestellte auszugehen. In einer leichten und wechselbelastenden Tätigkeit mit der Möglichkeit zum Positionswechsel bestehe eine Arbeitsfähigkeit von 50 %. Dabei könne die Versicherte Lasten von maximal 10 kg bzw. 5 kg repetitiv heben. Weiterhin sei ihr eine Gehstrecke von höchstens einigen 100 Metern zumutbar. Sitzende Tätigkeiten könne sie nicht länger als 30 Minuten durchführen. Zum andern hielt Dr. med. C.________ am 6. Februar 2002 als Diagnosen eine Dysthymia (ICD-10 F34.1) sowie ein chronisches Panvertebralsyndrom (ICD-10 F60.6) fest. Der Psychiater führte aus, vor dem Hintergrund einer früh einsetzenden chronischen Belastungssituation (sehr frühe Heirat und Mutterschaft, Beziehungskonflikte, Entwurzelungsproblematik) habe sich in Verbindung mit einem Panvertebralsyndrom ein chronifiziertes depressives Syndrom entwickelt, welches am ehesten die Kriterien einer Dysthymia erfülle. Diese werde wesentlich vom Schmerzsyndrom unterhalten.  
 
3.2.  
 
3.2.1. Die Vorinstanz erwog, die von ihr festgestellten Diagnosen würden über das unklare Beschwerdebild hinausgehen. Hierzu ist festzuhalten, dass sich die Anwendbarkeit von lit. a Abs. 1 SchlB IVG aus der Natur des Gesundheitsschadens ergibt, auf dem die Rentenzusprache beruhte (Urteil 9C_379/2013 vom 13. November 2013 E. 3.2.3).  
 
3.2.2. Bei der Versicherten konnten keine wesentlichen somatischen Befunde erhoben werden, welche das Ausmass der geklagten Beschwerden zu erklären vermochten. Mit der IV-Stelle sind im Gutachten der Fachklinik B.________ vom 20. Juni 2001 unter der Diagnose des Panvertebralsyndroms mit der sekundären Symptomausweitung und einer Dekonditionierung bei lediglich minimen degenerativen Veränderungen weitgehend unklare Beschwerdebilder zu finden. Die geklagte Schmerzsymptomatik stand im Vordergrund. Zumindest im Rahmen der zumutbaren, dem Leiden angepassten Tätigkeiten ist somatisch nicht erklärbar, inwiefern die Versicherte quantitativ im Umfang von 50 % eingeschränkt gewesen sein soll. Die Ärzte der Fachklinik B.________ hielten denn auch fest, dass sie ihre Einschätzung aufgrund der von der Versicherten geschilderten Beschwerden im Rahmen der Schmerzsymptomatik abgegeben hätten. Es scheint der fachlichen Ausrichtung der damals berichtenden Ärzte der Fachklinik B.________ zuzuschreiben, dass die Schmerzstörung von den körperlichen Befunden her umschrieben wurde. Folglich waren die somatischen Beeinträchtigungen offensichtlich von untergeordneter Bedeutung. Selbst wenn gewisse somatische Befunde erhoben werden konnten und insoweit eine teilweise organische Ursache vorhanden war, steht dies der Einordnung des Gesamtleidens als syndromales Beschwerdebild nicht entgegen (vgl. BGE 140 V 197 E. 6.2.3 S. 200).  
 
3.2.3. Laut Gutachten des Dr. med. C.________ (E. 3.1) entstand die Dysthymia aus der Schmerzproblematik heraus und wurde von dieser unterhalten. Es handelt sich dabei klar um eine Begleiterscheinung der Schmerzstörung, welche vordergründig war, und nicht um ein selbstständiges Leiden.  
 
3.2.4. Die Schlussfolgerung der Vorinstanz, der in Frage stehende Rentenanspruch gründe nicht in einem Gesundheitsschaden, der eine Neuüberprüfung nach Massgabe von lit. a Abs. 1 SchlB IVG ermögliche, ist nach dem Gesagten (E. 3.2.2 und 3.2.3) bundesrechtswidrig (E. 1).  
 
3.3. Steht die Schlussbestimmung als Grundlage für die Rentenüberprüfung fest, erübrigen sich Fragen nach der Revision gemäss Art. 17 Abs. 1 ATSG und der Wiedererwägung wegen allfälliger zweifelloser Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenzusprechung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG.  
 
4.   
Im Folgenden bleibt der Gesundheitszustand der Versicherten und dessen Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit im Zeitpunkt der vorgesehenen Rentenreduktion (vgl. Verfügung vom 8. Juni 2016) zu prüfen. Diesen Streitgegenstand hat das kantonale Gericht noch nicht beurteilt (vgl. E. 2.1), weshalb die Angelegenheit zu neuem Entscheid an dieses zurückzuweisen ist. 
 
5.   
Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegenstandslos. 
 
6.   
Eine Rückweisung an die Vorinstanz ist unabhängig davon, ob sie beantragt ist, kostenmässig als ein Obsiegen der beschwerdeführenden Partei zu betrachten (BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271). Ausgangsgemäss hat grundsätzlich die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202) kann jedoch entsprochen werden. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach sie der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 27. März 2017 wird aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an dieses zurückgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen und es wird der Beschwerdegegnerin Rechtsanwalt Dr. Beat Frischkopf als Rechtsbeistand beigegeben. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen. 
 
4.   
Rechtsanwalt Dr. Beat Frischkopf wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'400.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 8. Juni 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber