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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 7} 
I 902/06 
 
Urteil vom 8. November 2007 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Lustenberger, Kernen, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Parteien 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
D.________, Zwyssigstrasse 16, 9000 St. Gallen, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Kurt Gemperli, Scheffelstrasse 2, 9000 St. Gallen. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 12. Oktober 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die 1952 geborene D.________ meldete sich im August 2003 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärung der medizinischen und erwerblichen Verhältnisse sprach ihr die IV-Stelle des Kantons St. Gallen bei einem ermittelten Invaliditätsgrad von 65 % mit Wirkung ab 1. Dezember 2003 eine halbe und mit Wirkung ab 1. Januar 2004 eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung zu (Verfügungen vom 25. August 2005). Daran hielt sie auf Einsprache der Versicherten hin fest (Entscheid vom 28. Oktober 2005). 
B. 
Die von D.________ hiergegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag auf Zusprechung einer ganzen Rente hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 12. Oktober 2006 gut, hob den Einspracheentscheid auf und stellte fest, dass die Versicherte ab Dezember 2003 Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung hat. 
C. 
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des kantonalen Entscheids. 
 
Während D.________ auf Abweisung des Rechtsmittels, soweit auf dieses eingetreten werden könne, schliessen lässt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). 
1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist nach dem 1. Juli 2006 anhängig gemacht worden, weshalb sich die Kognition nach Art. 132 OG in der seit 1. Juli 2006 geltenden Fassung bestimmt (BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). Das Bundesgericht prüft somit nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde. 
2. 
Im Einspracheentscheid werden die gesetzlichen Bestimmungen zum Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG; vgl. auch Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung) und die Invaliditätsbemessungsmethode bei Erwerbstätigen nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG; für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 2003: Art. 1 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG; vgl. auch BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348 f., 128 V 29 E. 1 S. 30 f., 104 V 135 E. 2a und b S. 136 f.) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
3. 
Streitig und zu prüfen sind einzig die erwerblichen Auswirkungen der unbestritten auf 40 % zu veranschlagenden Arbeitsfähigkeit der Beschwerdegegnerin. 
3.1 Auf der beruflich-erwerblichen Stufe der Invaliditätsbemessung charakterisieren sich als Rechtsfragen die gesetzlichen und rechtsprechungsgemässen Regeln über die Durchführung des Einkommensvergleichs (BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348 f.), einschliesslich derjenigen über die Anwendung der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE; BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 f.). Die Feststellung der beiden hypothetischen Vergleichseinkommen ist Tatfrage, soweit sie auf konkreter Beweiswürdigung beruht, hingegen Rechtsfrage, soweit sich der Entscheid nach der allgemeinen Lebenserfahrung richtet. Letzteres betrifft etwa die Frage, ob Tabellenlöhne anwendbar sind, welches die massgebliche Tabelle ist und ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Leidensabzug vorzunehmen sei (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399). 
3.2 Im angefochtenen Entscheid wird davon ausgegangen, dass das Valideneinkommen nach übereinstimmender Auffassung der Parteien auf Fr. 55'650.- festzusetzen sei. Die IV-Stelle wendet dagegen ein, dass sie nur den Verfügungen vom 25. August 2005 ein Valideneinkommen von Fr. 55'650.- zugrunde gelegt habe, dem Einspracheentscheid hingegen ein solches von Fr. 52'274.-; in der im letztinstanzlichen Verfahren eingereichten Beschwerdeschrift ermittelt sie ein Valideneinkommen von Fr. 53'529.-. 
3.2.1 Für die Bemessung des hypothetischen Verdienstes ohne Gesundheitsschaden (Valideneinkommen) ist entscheidend, was die versicherte Person im massgebenden Zeitpunkt des Rentenbeginns nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit als Gesunde tatsächlich verdienen würde. Die Ermittlung des Valideneinkommens muss so konkret wie möglich erfolgen. Da die bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden erfahrungsgemäss fortgesetzt wird, ist in der Regel vom letzten Lohn auszugehen, der vor Eintritt der Gesundheitsschädigung erzielt wurde. Dieses Gehalt ist wenn nötig der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung anzupassen (RKUV 2006 Nr. U 568 S. 65 E. 2, U 87/05; Urteil I 407/06 vom 28. Februar 2007, E. 4.1 mit Hinweisen). 
3.2.2 Die Beschwerdegegnerin erzielte zuletzt im Jahre 2002 im Rahmen eines 60 %-Pensums ein Erwerbseinkommen von Fr. 31'590.-, was aufgerechnet auf ein Vollpensum ein Gehalt von Fr. 52'650.- ergibt. Wie die Beschwerdegegnerin zutreffend geltend macht, ist dieses um die von ihrer damaligen Arbeitgeberin durchschnittlich gewährten Lohnerhöhungen (2003: 1 %; 2004: 2 %; vgl. Bestätigung des Pflegeheims X.________ vom 14. November 2005) aufzuwerten, so dass für das Jahr 2004 ein Valideneinkommen von Fr. 54'240.- resultiert. 
3.3 Das Invalideneinkommen hat die Vorinstanz gestützt auf den in der LSE 2004 für mit einfachen und repetitiven Tätigkeiten beschäftigte Frauen in der Region Ostschweiz ausgewiesenen Durchschnittslohn ermittelt und davon in Würdigung aller Umstände einen Abzug von 10 % vorgenommen; dies mit der Begründung, es bestehe eine beachtliche psychische Limitierung, welche sich zusätzlich erschwerend auf die Arbeitsplatzsuche und den zu erwartenden hypothetischen Lohn auswirke, denn es liege auf der Hand, dass ein praktisch ausschliesslich psychischer Gesundheitsschaden einen nicht weniger ungünstigen Einfluss auf die Anstellungsbereitschaft eines Arbeitgebers habe wie ein körperlich bedingtes Leiden. 
3.3.1 Dieses Vorgehen steht nicht im Einklang mit der Rechtsprechung, gemäss welcher bei der Ermittlung der Vergleichseinkommen nicht auf die nach Grossregionen unterscheidenden statistischen Lohnangaben gemäss Tabelle TA13 der LSE (Urteil I 424/05 vom 22. August 2006, E. 3.2.3 [mit Zusammenfassung in SZS 2007 S. 64]; SVR 2007 UV Nr. 17 S. 56, U 75/03), sondern üblicherweise (vgl. z.B. BGE 126 V 75 E. 7a S. 81; SVR 2003 IV Nr. 1 S. 1 E. 4b, I 518/01) auf Tabelle TA1 (Monatlicher Bruttolohn [Zentralwert] nach Wirtschaftszweigen, Anforderungsniveau des Arbeitsplatzes und Geschlecht; Privater Sektor) abzustellen ist. Gemäss TA1 der LSE 2004 (S. 53) erzielten mit einfachen und repetitiven Tätigkeiten beschäftigte Frauen im Durchschnitt einen monatlichen Bruttolohn von Fr. 3'893.-, was nach Umrechnung auf die durchschnittliche betriebsübliche Wochenarbeitszeit von 41,6 Stunden im Jahr 2004 einem Jahreseinkommen von Fr. 48'585.- (12 x Fr. 3'893.- : 40 x 41,6) entspricht. Bei einer Restarbeitsfähigkeit von 40 % resultiert sodann ein Einkommen von Fr. 19'434.-. 
3.3.2 Auch hinsichtlich des gewährten Abzuges vom Tabellenlohn kann der Vorinstanz nicht beigepflichtet werden. Rechtsprechungsgemäss ist bei der Bemessung des Invalideneinkommens nach Tabellenlöhnen der konkreten Situation durch Abzüge Rechnung zu tragen, wenn im Einzelfall Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die versicherte Person wegen besonderer Umstände ihre gesundheitlich bedingte Restarbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann. Der zu gewährende Abzug ist nicht schematisch, sondern unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen. Dabei sind ausser der behinderungsbedingten Einschränkung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit auch weitere lohnwirksame, persönliche und berufliche Merkmale eines Versicherten wie Alter, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Nationalität oder Aufenthaltskategorie sowie der Beschäftigungsgrad zu beachten. Der Einfluss aller Merkmale auf das Invalideneinkommen ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen, wobei der Abzug vom Tabellenlohn unter Berücksichtigung aller im Einzelfall in Betracht fallenden Umstände maximal 25 % betragen kann (BGE 126 V 75 E. 5 S. 78 ff.; AHI 2002 S. 62 E. 4b, I 82/01). 
 
Wie die IV-Stelle zutreffend geltend macht, rechtfertigt sich die Vornahme eines Abzuges für die leidensbedingte Einschränkung im Falle der Versicherten nicht. Denn unter diesem Titel wird rechtsprechungsgemäss dem Umstand Rechnung getragen, dass gesundheitlich beeinträchtigte Personen, die nach Eintritt des Gesundheitsschadens auch im Rahmen leichter Hilfsarbeitertätigkeiten nicht mehr voll leistungsfähig sind, im Vergleich zu voll leistungsfähigen und entsprechend einsetzbaren Arbeitnehmern lohnmässig benachteiligt sind und deshalb in der Regel mit unterdurchschnittlichen Lohnansätzen rechnen müssen (BGE 126 V 75 E. 5a/bb S. 78). Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben, sind doch die Einsatzmöglichkeiten der Versicherten nach der Einschätzung des Zentrums Y.________, vom 24. März 2005 nicht auf leichte Hilfsarbeiten beschränkt, sondern kann die Versicherte, wenn auch nicht als Dauertätigkeit, Lasten bis zu 15 kg heben und tragen (vgl. auch AHI 2000 S. 79 E. 2b). Soweit die Vorinstanz im Rahmen des Abzuges allfällige Schwierigkeiten bei der Stellensuche berücksichtigen wollte, steht dies im Widerspruch zu Art. 16 ATSG, wonach für die Invaliditätsbemessung nicht die aktuelle Arbeitsmarktsituation, sondern ein hypothetisch ausgeglichener Arbeitsmarkt massgebend ist. 
Vermag die leidensbedingte Einschränkung mithin keinen Abzug vom Tabellenlohn zu rechtfertigen, bleibt zu prüfen, wie es sich mit den übrigen Kriterien verhält. Da indessen das Kriterium der Nationalität/Aufenthaltskategorie bei der über die Niederlassungsbewilligung C verfügenden Versicherten kaum ins Gewicht fällt (LSE 2004 S. 69 Tabelle TA12), die Bedeutung der Dienstjahre im privaten Sektor abnimmt, je niedriger das Anforderungsprofil ist (vgl. BGE 126 V 75 E. 5a/cc S. 79; Urteil U 420/04 vom 25. Juli 2005, E. 2.5.4) und die Faktoren Teilzeit sowie Alter (Jahrgang 1952) sich sogar - stets bezogen auf das in Betracht fallende Arbeitssegment - eher lohnerhöhend auswirken (vgl. LSE 2004 S. 25 Tabelle T6* und S. 65 Tabelle TA9), rechtfertigt sich vorliegend kein Abzug, sondern ist vielmehr von einem (ungekürzten) Invalideneinkommen von Fr. 19'434.- auszugehen. 
3.4 Bei einer Gegenüberstellung der beiden Vergleichseinkommen (Valideneinkommen: Fr. 54'240.-; Invalideneinkommen Fr. 19'434.-) resultiert ein Invaliditätsgrad 64 % (zur Rundung: BGE 130 V 121), womit die Beschwerdegegnerin im Dezember 2003 Anspruch auf eine halbe (Art. 28 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung) und ab 1. Januar 2004 Anspruch auf eine Dreiviertelsrente (Art. 28 Abs. 1 IVG) der Invalidenversicherung hat. 
4. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG in der seit 1. Juli 2006 Kraft stehenden Fassung; Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, AS 2006 2003). Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 OG). Eine Parteientschädigung zugunsten der obsiegenden IV-Stelle wird gemäss Art. 159 Abs. 2 OG nicht zugesprochen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 12. Oktober 2006 aufgehoben. 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
Luzern, 8. November 2007 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: 
 
Meyer Keel Baumann