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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
U 182/05 
 
Urteil vom 9. Februar 2006 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Seiler; Gerichtsschreiber Fessler 
 
Parteien 
A.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Thomas Ineichen, Schwanenplatz 4, 6004 Luzern, 
 
gegen 
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, Luzern 
 
(Entscheid vom 31. März 2005) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1951 geborene A.________ erlitt bei einem Verkehrsunfall am 10. Juni 1974 als Mitfahrer eines Personenwagens u.a. eine Vomer-Längsfraktur sowie multiple Rissquetschwunden im Gesicht mit starker Blutung aus zum Teil verschmutzten und mit kleinen Glassplittern durchsetzten Wunden. Er wurde, leicht schockiert, noch am selben Tag notfallmässig ins Kantonale Spital W.________ eingeliefert, wo er bis 22. Juni 1974 behandelt wurde. Die Therapie umfasste Schockbekämpfung, Tetanusprophylaxe, zum Teil plastische Wundversorgung in Narkose sowie antibiotischen Schutz (Berichte vom 20. und 24. Juni sowie 3. Juli 1974). Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) kam für die gesundheitlichen und erwerblichen Folgen des Unfalles vom 10. Juni 1974 auf. 
Unter anderem wegen Problemen mit der Nasenatmung unterzog sich A.________ am 4. Juni 1976 einer Kieferhöhlenoperation beidseits nach Claoué mit partieller Septumkorrektur. In der Folge kam es immer wieder zu rezidivierenden Nasennebenhöhlenentzündungen. Die Abklärungen ergaben, dass beim Eingriff vom 4. Juni 1976 eine Septumperforation entstanden war. Die SUVA anerkannte die Kausalität zwischen dem Unfall vom 10. Juni 1974 und der rezidivierenden Epistaxis mit Verkrustung und Borkenbildungen in der Nase sowie der vermehrten Infektanfälligkeit. 
Anlässlich einer Blutentnahme im Juli 2000 wurde bei A.________ das Hepatitis C-Virus entdeckt. Die weiteren Abklärungen an der Klinik L.________ im Sommer 2000 bestätigten den Befund. Der Klinikdirektor, Prof. Dr. med. P.________, hielt in seinem Bericht vom 7. September 2000 u.a. fest: «L'anamnèse nous permet de faire l'hypothèse que le patient pourrait avoir été contaminé par une transfusion reçue après un accident de voiture survenu en 1974. En effet, c'est en 1976 que l'on trouve pour la première fois des tests hépatiques perturbés (augmentation des transaminases) que l'on fait pour cela une ponction-biopsie de foie; il n'y pas de diagnostic exact mais on dit au patient de ne plus boire d'alcool (...). A noter que les tests pour l'hépatite C ne sont pas disponibles avant 1990.» 
Im Rahmen der Hospitalisation vom 4. bis 6. Februar 2002 in der Klinik M.________ wurde ein obstruktives Schlafapnoesyndrom festgestellt. Da eine Operation und auch der Einsatz einer CPAP-Maske u.a. wegen der Nasen- und Kieferhöhlenprobleme nicht möglich waren, wurde die Therapie mit einer Kieferorthese versucht. 
Mit Schreiben vom 13. Mai 2002 ersuchte der Rechtsvertreter von A.________ die SUVA um Prüfung der Frage der Integritätsentschädigung. Aufgrund der Abklärungen der Anstalt liess sich nicht erstellen, ob der Versicherte anlässlich der Hospitalisation im Spital W.________ vom 10. bis 22. Juni 1974 eine Bluttransfusion erhalten hatte. Mit Verfügung vom 27. Juni 2003 sprach die SUVA A.________ für die verbliebenen Beeinträchtigungen aus ORL-ärztlicher Sicht (Beschwerden im Gesichtsbereich) eine Integritätsentschädigung von Fr. 6960.- (Integritätseinbusse: 10 %) zu. Hingegen lehnte sie die Erbringung von Versicherungsleistungen für die Hepatitis C ab, da diese Krankheit nur in einem möglichen Zusammenhang mit dem Unfall vom 10. Juni 1974 stehe. Daran hielt die SUVA mit Einspracheentscheid vom 14. November 2003 fest. 
B. 
Die Beschwerde des A.________ wies die Sozialversicherungsrechtliche Abteilung des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern u.a. mit der Begründung ab, die SUVA habe zu Recht die Hepatitis C als nicht unfallkausal erachtet (Entscheid vom 31. März 2005). 
C. 
A.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und die Sache sei an die SUVA zurückzuweisen, damit sie die Integritätsentschädigung im Sinne der Erwägungen neu festsetze. 
Kantonales Gericht und SUVA beantragen die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1. 
Der Integritätsschaden aus ORL-ärztlicher Sicht von 10 % als Folge des Verkehrsunfalles vom 10. Juni 1974 und die auf dieser Grundlage festgesetzte Integritätsentschädigung von Fr. 6960.- sind nicht angefochten. Insoweit ist der kantonale Entscheid in Rechtskraft erwachsen (BGE 125 V 415 Erw. 2a in Verbindung mit BGE 117 V 295 Erw. 2b). 
2. 
Zur einzig streitigen Frage, ob die Hepatitis C in einem natürlichen Kausalzusammenhang mit dem Verkehrsunfall vom 10. Juni 1974 steht (BGE 119 V 337 Erw. 1a), hat das kantonale Gericht Folgendes erwogen: Die Hepatitis C sei anlässlich einer Untersuchung bei Prof. P.________ von der Klinik L.________ im Juli 2000 festgestellt (recte: bestätigt) worden. Laut Bericht des Instituts B.________ vom 8. November 2002 bestünden beim Versicherten zwei Risikofaktoren für den Erwerb einer Hepatitis C, die Geburt in Italien (Hochprävalenzland) sowie der Unfall mit «Schockbehandlung» in W.________, wobei dort Transfusionen nicht explizit erwähnt seien und der Patient sich an eine solche nicht erinnere. Der erste Risikofaktor scheide aus. Ein Blutuntersuch bei der Mutter des Versicherten habe keine Hepatitis C ergeben. Aus den einzig noch existierenden medizinischen Unterlagen über die stationäre Behandlung vom 10. bis 22. Juni 1974 im Spital W.________ sei keine Bluttransfusion ersichtlich. Es sei sehr unwahrscheinlich und müsste gemäss Dr. med. G.________ von der Abteilung Arbeitsmedizin der SUVA aufgrund der damaligen Laborwerte mit Hämoglobin von 13,4 und Hämokrit 39 direkt als Kunstfehler bezeichnet werden, wenn eine Bluttransfusion durchgeführt worden wäre. Es fehle somit schon am klaren Beweis einer Bluttransfusion, welche zudem erst einen Risikofaktor darstelle, um sich möglicherweise mit Hepatitis C zu infizieren. Eine solche Beweisführung reiche nicht, um die Kausalität mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu begründen. 
3. 
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird eine willkürliche Beweiswürdigung gerügt. Kantonales Gericht und SUVA stellten einzig auf die Aussagen des Dr. med. G.________ von der anstaltseigenen Abteilung Arbeitsmedizin ab. Dass Prof. P.________, Chefarzt und Direktor der Klinik L.________, die Ansteckung mit einer Hepatitis C während der Spitalbehandlung vom 10. bis 22. Juni 1974 als «très probable» bezeichnet habe, spiele nicht im Geringsten eine Rolle. Entgegen dem kantonalen Gericht habe der Unfallversicherer auch nicht alle möglichen (und zumutbaren) Abklärungen zur Frage der Bluttransfusion und der dadurch bewirkten Hepatitis C getroffen. Der Internist und Magen-Darm-Spezialist Dr. med. H.________ sei nach Studium der noch vorhandenen Unterlagen über die Behandlung im Spital W.________ der Auffassung, dass der Beschwerdeführer mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit am 10. Juni 1974 Bluttransfusionen erhalten habe. Da eine Infektion mit einer Hepatitis C lediglich hereditär oder durch Blutübertragung entstehen könne und die erste Variante ausscheide, liege es auf der Hand, dass eine Spitalbehandlung Ursache sein müsse, habe doch der Versicherte sonst nie eine Gelegenheit gehabt, sich diesbezüglich anzustecken. 
In seinem mit «Aerztliche Aktenfeststellung» überschriebenen Bericht vom 9. Mai 2005 hält Dr. med. H.________ u.a. Folgendes fest: 
«Aufgrund der Tatsache, dass 1. der Patient offensichtlich schockiert war, 2. er starke Blutungen hatte, welche nachgewiesen sind, 3. am gleichen Eintrittstag eine Blutgruppenbestimmung im Labor des Spitals W.________ durchgeführt wird, deutet mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hin, dass er im Rahmen der erwähnten Schockbehandlung bei Eintritt gleichzeitig Blut bekommen hat. 
1974 war man mit Bluttransfusionen deutlich grosszügiger als heute. Die damit inhärenten Risiken waren noch nicht bekannt und es konnte auch keine Abklärung bezüglich Hepatitis C durchgeführt werden (...). 
Die Tatsache, dass 1976 in W.________ eine Leberbiopsie durchgeführt wurde, lässt annehmen, dass die erwähnten Laborwerte mit der damals neu aufgetretenen Hepatitis C in Zusammenhang standen; diese Zusammenhänge waren aber wissenschaftlich noch nicht bekannt. 
Eventuell liesse sich diese Biopsie im Spital U.________ noch ausgraben und neu befunden in Bezug auf eine Hepatitis C. 
Ich bin mit dem Arzt der SUVA nicht einverstanden, dass es bei Hb 13,4 ein Kunstfehler gewesen wäre, eine Bluttransfusion zu verabreichen; im Gegenteil ist bei schweren Blutungen bekanntermassen das Hb immer noch im Normbereich, da ja noch keine Verdünnung des Hb durch Infusionen stattgefunden hat. Der Hb-Abfall tritt erst in der Folge nach Stunden auf. Blut musste substituiert werden, weil er offenbar schockiert war. 
Im Übrigen geht aus der Zusammenfassung der Krankengeschichte vom 3.7. nicht hervor, ob die Laboruntersuchung dem Wert bei Eintritt oder bei Entlassung entspricht. (...). 
Zusammenfassend muss ich feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass der Patient am 10.6.1974 Bluttransfusionen erhalten hat (...). 
Aufgrund der Akten im Labor des Spitals W.________ könnte eventuell sogar noch der Blutspender ausfindig gemacht werden, um die Frage einer Infektion mit Hepatitis C nachträglich noch zu erhärten. 
Allenfalls könnte auch noch die (...) Spitalrechnung an die SUVA als weiteres Beweismittel dienen, ob Bluttransfusionen verabreicht wurden.» 
4. 
Die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde lassen in der Tat Zweifel darüber aufkommen, ob der rechtserhebliche Sachverhalt richtig und vollständig festgestellt ist. Nach den zu Recht nicht bestritten Feststellungen des Dr. med. H.________ befand sich der Beschwerdeführer bei der notfallmässigen Einlieferung ins Spital W.________ am 10. Juni 1974 in einem (leichten) Schockzustand und er blutete stark. Eine Bluttransfusion stellt eine anerkannte und häufig angewendete Massnahme zur Schockbehandlung dar (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Aufl., S. 248 und 1640 f.). Dafür, dass eine solche verabreicht wurde, spricht auch der am selben Tag ausgestellte Blutgruppenausweis. Allerdings lässt sich daraus nicht zwingend auf eine tatsächliche Blutverabreichung schliessen. Es konnte sich dabei auch lediglich um eine Vorsichtsmassnahme für alle Fälle gehandelt haben. Sodann gewinnen die Schlussfolgerungen des Dr. med. H.________ durch die Aussagen des Prof. P.________ noch an Gewicht. Dieser erachtete es aufgrund der Anamnese als sehr wahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer durch eine nach dem Autounfall vom 10. Juni 1974 erhaltene Bluttransfusion angesteckt worden war. Zur Begründung führte er in seinem Bericht vom 7. September 2000 an den behandelnden Arzt u.a. aus: «En effet, c'est en 1976 que l'on trouve pour la première fois des tests hépatiques perturbés (augmentation des transaminases) que l'on fait pour cela une ponction biopsie de foie; il n'y pas de diagnostic exact mais on dit au patient de ne plus boire d'alcool». Im Bericht vom 25. März 2003 bezeichnete Prof. P.________ das «scénario d'une infection en 1974» als «très probable», ohne dass es indessen möglich sei, andere Ursachen auszuschliessen. Gemäss Angaben in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist offenbar die 1976 durchgeführte Leberbiopsie im Spital U.________ noch vorhanden. Eine Untersuchung auf eine mögliche Hepatitis C-Infektion erscheint somit nicht von vornherein aussichtslos. Den von Dr. med. H.________ vorgeschlagenen Look back-Auftrag beim Referenzzentrum des Zentrallaboratoriums des Blutspendedienstes des Schweizerischen Roten Kreuzes, um den allfälligen Blutspender ausfindig zu machen und so eine Infektion mit Hepatitis C nachträglich noch zu erhärten, hatte gemäss einer internen Aktennotiz vom 16. Januar 2003 auch der zuständige Facharzt von der Abteilung Arbeitsmedizin der SUVA, Dr. med. G.________, vorgesehen für den Fall, dass im Juni 1974 tatsächlich eine Blutransfusion im Spital W.________ verabreicht worden war. Schliesslich hat der Unfallversicherer in der Vernehmlassung keine Einwendungen gegen die Beweistauglichkeit der Rechnung über die Behandlung und den stationären Aufenthalt im Spital W.________ vom 10. bis 22. Juni 1974 vorgebracht. Ebenfalls macht die SUVA nicht geltend, die Tatsache, dass im «Bericht über die Operation» vom 24. Juni 1974 keine Bluttransfusion erwähnt werde, spreche klar gegen die Verabreichung einer solchen. Daraus ist zu folgern, dass es zumindest damals nicht Standard war, eine Bluttransfusion im Zusammenhang mit einer Operation oder Wundversorgung wie hier im Behandlungsbericht ausdrücklich zu erwähnen. 
5. 
Die SUVA wird im Sinne des Vorstehenden ergänzende Abklärungen vorzunehmen haben, danach die Kausalitätsfrage für die Hepatitis C neu beurteilen und über den Anspruch auf Integritätsentschädigung für diese Infektionskrankheit neu verfügen. 
6. 
Dem Prozessausgang entsprechend hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG). 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 31. März 2005 und der Einspracheentscheid vom 14. November 2003 aufgehoben werden und die Sache an die SUVA zurückgewiesen wird, damit sie nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Anspruch auf Integritätsentschädigung für die Hepatitis C neu verfüge. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die SUVA hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung (einschliesslich Mehrwertsteuer) von Fr. 2500.- zu bezahlen. 
4. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hat die Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses festzusetzen. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt. 
Luzern, 9. Februar 2006 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Die Präsidentin der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: