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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
1B_36/2023  
 
 
Urteil vom 9. Februar 2023  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Haag, präsidierendes Mitglied, 
Bundesrichter Chaix, Kölz, 
Gerichtsschreiber Schurtenberger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwältin Claudia Keller, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft Bischofszell, 
Poststrasse 5b, 9220 Bischofszell, 
vertreten durch die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Generalstaatsanwaltschaft, 
Maurerstrasse 2, 8510 Frauenfeld. 
 
Gegenstand 
Haftverlängerung / Haftüberprüfung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 20. Dezember 2022 (SW.2022.113, SW.2022.115). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft Bischofszell (nachfolgend Staatsanwaltschaft) führt ein Strafverfahren gegen A.________ wegen Raufhandel, Betrug, Urkundenfälschung, Drohung, mehrfacher (teilweise versuchter) Erpressung und weiteren Delikten. A.________ wurde am 19. Mai 2021 festgenommen und sitzt seither in Haft, die wiederholt vom Zwangsmassnahmengericht des Kantons Thurgau (nachfolgend Zwangsmassnahmengericht) und dem Obergericht des Kantons Thurgau (nachfolgend Obergericht) bestätigt wurde. 
 
B.  
Letztmals verlängerte das Zwangsmassnahmengericht die gegen A.________ angeordnete Untersuchungshaft mit Entscheid vom 22. November 2022. Bereits am 5. Dezember 2022 stellte A.________ ein Haftentlassungsgesuch. Sodann erhob er mit Eingabe vom 8. Dezember 2022 fristgerecht Beschwerde beim Obergericht gegen den Haftentscheid des Zwangsmassnahmengerichts, wobei er erfolgreich die Sistierung des Verfahrens bis zum Entscheid über sein Haftentlassungsgesuch beantragte. 
Das Zwangsmassnahmengericht ordnete mit Entscheid vom 13. Dezember 2022, unter Auflage der vorgängigen Leistung einer Sicherheit von Fr. 10'000.-- sowie Anordnung zahlreicher weiterer Ersatzmassnahmen, die Freilassung von A.________ an. Die dagegen von der Staatsanwaltschaft erhobene Beschwerde wurde mit der Beschwerde von A.________ gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts vom 22. November 2022 vereinigt. Mit Entscheid vom 20. Dezember 2022 bestätigte das Obergericht, in Gutheissung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft und Abweisung der Beschwerde von A.________, die gegen letzteren angeordnete Untersuchungshaft. 
 
C.  
Dagegen erhebt A.________ mit Eingabe vom 20. Januar 2023 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides und seine sofortige Haftentlassung, subsidiär die Rückweisung der Sache zum neuen Entscheid an das Obergericht oder das Zwangsmassnahmengericht. Weiter beantragt er die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren. Mit Schreiben vom 23. Januar 2023 reichte er sodann eine ergänzende Beschwerdeschrift mit neuen tatsächlichen Vorbringen ein. 
Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft hat unter Verweisung auf die inzwischen erfolgte Anklageerhebung sowie die vom Zwangsmassnahmengericht mit Entscheid vom 24. Januar 2023 angeordnete Sicherheitshaft beantragt, auf die Beschwerde sei mangels eines aktuellen praktischen Interesses nicht einzutreten, eventualiter sei sie als gegenstandslos abzuschreiben. Das Bundesgericht hat von Amtes wegen den Entscheid es Zwangsmassnahmengerichts vom 24. Januar 2023 beigezogen. A.________ hat sich nicht mehr zur Sache geäussert. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Der angefochtene kantonal letztinstanzliche Entscheid betrifft die Anordnung von Untersuchungshaft (Art. 220 Abs. 1 StPO). Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG offen. Der Beschwerdeführer hat am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen und befindet sich, soweit aus den Akten ersichtlich, nach wie vor in Haft. Er ist deshalb grundsätzlich nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt.  
 
1.2. Nach ständiger Rechtsprechung führt ein während des laufenden Haftbeschwerdeverfahrens ergangener Entscheid über die Verlängerung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft nicht dazu, dass das aktuelle praktische Interesse an der Behandlung der Haftbeschwerde dahinfallen würde (BGE 139 I 206 E. 1.2; Urteil 1B_420/2022 vom 9. September 2022 E. 1.2, zur amtlichen Publikation bestimmt). Entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft ist daher auf die Beschwerde einzutreten.  
 
2.  
Nach Art. 221 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft unter anderem zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (Abs. 1 lit. a; sog. Fluchtgefahr), Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (Abs. 1 lit. b; sog. Kollusionsgefahr) oder durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Abs. 1 lit. c; sog. Wiederholungsgefahr). An Stelle der Haft sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff. StPO). 
Sowohl das Zwangsmassnahmengericht als auch die Vorinstanz haben das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts und des besonderen Haftgrunds der Fluchtgefahr bejaht. Weiter wurde vom Zwangsmassnahmengericht auch das Vorliegen des besonderen Haftgrunds der Wiederholungsgefahr bejaht, was vom Obergericht indessen aufgrund der als gegeben erachteten Fluchtgefahr nicht geprüft wurde. Während das Zwangsmassnahmengericht aus Gründen der Verhältnismässigkeit an Stelle der Haft jedoch Ersatzmassnahmen anordnete, hat die Vorinstanz diese für unzureichend erachtet und daher die Weiterführung der Haft angeordnet. Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts nicht, wehrt sich aber gegen die Annahme von besonderen Haftgründen und stellt die Verhältnismässigkeit der Haft in Frage. 
 
3.  
In formeller Hinsicht rügt der Beschwerdeführer, die Vorinstanz hätte auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts, mit welchem er aus der Haft entlassen wurde, gar nicht eintreten dürfen. Diese Verfahrensrüge ist vorab zu prüfen. 
 
3.1. Gemäss Art. 393 Abs. 1 lit. c StPO ist die Beschwerde gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts in den in diesem Gesetz vorgesehenen Fällen zulässig. Hinsichtlich der Anordnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft hält Art. 222 StPO sodann fest, dass "die verhaftete Person" an die Beschwerdeinstanz gelangen kann; ein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft ist nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht vorgesehen. Das Bundesgericht hat diesbezüglich jedoch in konstanter Rechtsprechung festgehalten, dass es sich hierbei um ein gesetzgeberisches Versehen handle und im Interesse einer funktionierenden Strafjustiz ein solches Beschwerderecht notwendig sei (statt vieler BGE 147 IV 123 E. 2.2; 139 IV 314 E. 2.2; 138 IV 148 E. 3.1; je mit Hinweisen).  
 
3.2. Im Rahmen der Revision der Strafprozessordnung hat der Gesetzgeber indessen ausdrücklich darauf verzichtet, die genannte Rechtsprechung des Bundesgerichts zu kodifizieren und vielmehr unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass "einzig die verhaftete Person" zur Beschwerde legitimiert sei (Art. 222 StPO in der Fassung vom 17. Juni 2022, BBl 2022 1560). Diese klare Kundgabe des gesetzgeberischen Willens hat das Bundesgericht dazu veranlasst, auf seine ständige Rechtsprechung zum Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft zurückzukommen und diese, aufgrund neuer Erkenntnisse nunmehr als falsch erkannte Rechtsprechung, per sofort aufzugeben (Urteil 1B_614/2022 und 1B_628/2022 vom 10. Januar 2023 E. 2 mit zahlreichen Hinweisen, zur amtlichen Publikation bestimmt; vgl. dazu NIKLAUS RUCKSTUHL, Neuerungen im Strafprozessrecht, in: Anwaltsrevue 2023, S. 19).  
 
3.3. Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde daher insofern als begründet, als mangels gesetzlicher Grundlage für die Beschwerdelegitimation der Staatsanwaltschaft die Vorinstanz auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts vom 13. Dezember 2022, mit welchem unter Auflagen die Freilassung des Beschwerdeführers angeordnet worden war, nicht hätte eintreten dürfen.  
Zugleich ist zu betonen, dass der angefochtene Entscheid vor Ergehen des Urteils 1B_614/2022 und 1B_628/2022 vom 10. Januar 2023 gefällt wurde und somit zu einem Zeitpunkt, als die alte, mittlerweile vom Bundesgericht aufgegebene, Praxis zum Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft noch Bestand hatte. Eine Nichtigkeit des angefochtenen Entscheids ist somit ausgeschlossen (Urteil 1B_614/2022 und 1B_628/2022 vom 10. Januar 2023 E. 2.4, zur amtlichen Publikation bestimmt), womit zugleich gesagt ist, dass fortwährend ein gültiger Hafttitel vorgelegen hat. 
 
4.  
Das Zwangsmassnahmengericht hat in der Zwischenzeit mit Entscheid vom 24. Januar 2023 Sicherheitshaft über den Beschwerdeführer angeordnet. Die vom Beschwerdeführer beantragte (direkte) Haftentlassung ist daher, zumindest ohne materielle Prüfung der Haftsache durch das Bundesgericht, vorliegend ausgeschlossen. 
Sowohl der Beschwerdeführer als auch die Staatsanwaltschaft machen geltend, der Sachverhalt habe sich seit Ergehen des vom Obergericht aufgehobenen Entscheids des Zwangsmassnahmengerichts vom 13. Dezember 2022 (massgeblich) geändert. Es ist grundsätzlich nicht Aufgabe des Bundesgerichts, diesen veränderten Sachverhalt als erste Instanz umfassend und frei zu würdigen (vgl. Art. 99 Abs. 2 und Art. 105 BGG). Es rechtfertigt sich daher, die Haftsache zum erneuten Entscheid an das Zwangsmassnahmengericht zurückzuweisen. 
Dies gilt umso mehr, als das Zwangsmassnahmengericht im Rahmen der Prüfung der Verhältnismässigkeit der von ihm mit Entscheid vom 24. Januar 2023 angeordneten Sicherheitshaft erwogen hat, es kämen gemäss dem (vorliegend angefochtenen) Entscheid des Obergerichts vom 20. Dezember 2022 keine Ersatzmassnahmen in Frage, was es als verbindlich erachte. Das Zwangsmassnahmengericht wird somit die Gelegenheit erhalten, unter Berücksichtigung der neuen tatsächlichen Vorbringen der Parteien und ohne Bindung durch den angefochtenen und nunmehr aufzuhebenden Entscheid der Vorinstanz erneut über die Haft des Beschwerdeführers zu befinden. 
 
5.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und die Haftsache zur unverzüglichen Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an das Zwangsmassnahmengericht zurückzuweisen. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen. Die Vorinstanz wird über die Kosten- und Entschädigungsfolgen ihres Verfahrens neu zu befinden haben (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG). 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 BGG). Der Kanton Thurgau hat dem teilweise obsiegenden Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 BGG). Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 20. Dezember 2022 wird aufgehoben und die Haftsache wird zum erneuten Entscheid im Sinne der Erwägungen an das Zwangsmassnahmengericht zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen. 
 
2.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und Entschädigungen des vorinstanzlichen Verfahrens an das Obergericht des Kantons Thurgau zurückgewiesen. 
 
3.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
4.  
Der Kanton Thurgau hat der Vertreterin des Beschwerdeführers, Rechtsanwältin Claudia Keller, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'500.-- auszurichten. 
 
5.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Bischofszell und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 9. Februar 2023 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Das präsidierende Mitglied: Haag 
 
Der Gerichtsschreiber: Schurtenberger