Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
1B_175/2018  
 
 
Urteil vom 9. Mai 2018  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Eusebio, Kneubühler. 
Gerichtsschreiber Dold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
vertreten durch Rechtsanwalt Martin Gärtl, 
 
gegen  
 
Staatsanwaltschaft Bischofszell, 
Poststrasse 5b, 9220 Bischofszell. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Rechtsverzögerung, 
 
Beschwerde gegen die Verfahrensführung des Obergerichts des Kantons Thurgau. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Das Bezirksgericht Arbon sprach A.________ mit Urteil vom 14. März 2016 der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern, der mehrfachen Pornografie und der Begünstigung schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 27 Monaten unter Anrechnung von 194 Tagen Untersuchungshaft. Das Gericht ordnete zudem eine stationäre therapeutische Massnahme im Sinne von Art. 59 Abs. 1 StGB an und schob den Vollzug der Freiheitsstrafe zu deren Gunsten auf. Gegen das Urteil erhob A.________ Berufung ans Obergericht des Kantons Thurgau, wobei er lediglich das Strafmass und die Anordnung der stationären Massnahme anfocht. 
Das Obergericht führte am 23. Januar 2017 eine Berufungsverhandlung durch. Am 1. Februar 2017 teilte es den Parteien mit, es habe beschlossen, ein aktualisiertes Ergänzungsgutachten einzuholen. 
 
B.   
Mit Eingabe vom 5. April 2018 erhebt A.________ beim Bundesgericht Beschwerde wegen Rechtsverzögerung durch das Obergericht. Er beantragt, es sei eine entsprechende Feststellung zu treffen und das Obergericht anzuweisen, die notwendigen Verfahrenshandlungen unverzüglich vorzunehmen und in seinem Berufungsurteil sowohl die Verletzung des Beschleunigungsgebots als auch die Art und Weise, wie dieser Umstand berücksichtigt werde, festzuhalten. 
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht haben sich vernehmen lassen, ohne einen Antrag zu stellen. Das Obergericht weist zudem darauf hin, dass mit Entscheid vom 6./9. April 2018 die Entlassung des Beschwerdeführers aus dem vorzeitigen Massnahmenvollzug auf den 20. April 2018 angeordnet worden sei. 
 
C.   
Das vom Beschwerdeführer am 7. Mai 2018 gestellte Gesuch um Erstreckung der Replikfrist wird mit dem vorliegenden Urteil gegenstandslos. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Gegen das unrechtmässige Verweigern oder Verzögern eines anfechtbaren Entscheids kann Beschwerde an das Bundesgericht geführt werden (Art. 94 BGG). Der Beschwerdeführer macht eine Verzögerung des strafprozessualen Berufungsverfahrens (Art. 398 ff. StPO) geltend. Die Beschwerde in Strafsachen ist deshalb das zutreffende Rechtsmittel (Art. 78 ff. BGG). Beim Obergericht handelt es sich um eine letzte kantonale Instanz im Sinne von Art. 80 Abs. 1 BGG. Der Beschwerdeführer ist als Beschuldigter zur Beschwerde an das Bundesgericht berechtigt (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 1 BGG). Auf seine Beschwerde ist einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, nachdem das Obergericht mit Schreiben vom 1. Februar 2017 seine Absicht erklärt habe, ein Ergänzungsgutachten einzuholen, und er mit Eingabe vom 22. Februar 2017 dazu Stellung genommen habe, sei das Verfahren stillgestanden. Weder sei ein Gutachtensauftrag erteilt worden noch seien die Parteien über die Hintergründe der Verzögerung informiert worden. Im Dezember 2017 habe er sich telefonisch nach dem Stand der Dinge erkundigt, wobei man ihm versichert habe, der Gutachtensauftrag werde innerhalb der nächsten Tage vergeben. Mit Schreiben vom 12. Februar 2018 habe er das Obergericht auf die Verletzung des Beschleunigungsgebots hingewiesen. Eine Reaktion sei jedoch ausgeblieben.  
 
2.2. Das Obergericht räumt ein, dass im Berufungsverfahren Verzögerungen entstanden seien. Der Obergerichtspräsident sei zeitweise krankheitsbedingt ausgefallen, was nur teilweise durch eine Vertretung habe aufgefangen werden können. Zudem laufe parallel das bisher grösste am Gericht jemals durchgeführte Strafverfahren, für das die Kapazitäten trotz entsprechender personeller Massnahmen kaum ausreichten.  
 
2.3. Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 6 Abs. 1 EMRK verleihen jeder Person einen Anspruch auf Beurteilung ihrer Sache innert angemessener Frist. Ob die Verfahrensdauer angemessen ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. Zu berücksichtigen sind namentlich die Komplexität des Falls, das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und die Behandlung des Falls durch die Behörden sowie die Bedeutung des Ausgangs des Verfahrens für den Betroffenen (BGE 135 I 265 E. 4.4 S. 277 mit Hinweisen; Urteil des EGMR  Satakunnan Markkinapörssi Oy und Satamedia Oy gegen Finnland vom 27. Juni 2017, Beschwerde-Nr. 931/13, § 209). Massgebend ist, ob das Verfahren in Anbetracht der auf dem Spiel stehenden Interessen zügig durchgeführt worden ist und die Gerichtsbehörden insbesondere keine unnütze Zeit haben verstreichen lassen (BGE 127 III 385 E. 3a S. 389; vgl. auch Urteil 1B_32/2007 vom 18. Juni 2007 E. 4 betr. behördliche Untätigkeit von über 10 Monaten in einer Strafuntersuchung und Urteil 5A.36/2005 vom 18. April 2006 E. 2.3 betr. behördliche Untätigkeit von fast einem Jahr in einem Stiftungsaufsichtsverfahren, nachdem bereits früher "Bearbeitungslücken" aufgetreten waren).  
Die genannten verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien werden für das Strafverfahren in Art. 5 StPO konkretisiert. Danach nehmen die Strafbehörden die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss (Abs. 1). Befindet sich eine beschuldigte Person in Haft, so wird ihr Verfahren vordringlich durchgeführt (Abs. 2). Diese Vorgaben sind für die Behörden der Strafverfolgung (Art. 12 und 15 ff. StPO) und die Gerichte (Art. 13 und 18 ff. StPO) gleichermassen verbindlich. 
 
2.4. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Bundesgericht vorliegenden Akten, dass das Obergericht seit der Berufungsverhandlung vom 23. Januar 2017 nahezu inaktiv geblieben ist. Die Ausnahme bildet die Durchführung eines Schriftenwechsels im Gefolge eines Berichts des Massnahmenzentrums X.________ vom 13. Oktober 2017, womit das Berufungsverfahren jedoch nicht vorangetrieben wurde. Das Obergericht macht nicht geltend, dass es seit seiner Ankündigung vom 2. Februar 2017 Schritte zur Einholung des erwähnten Gutachtens unternommen hätte. Dies ist umso schwerwiegender, als sich der Beschwerdeführer im massgeblichen Zeitraum im vorzeitigen Massnahmenvollzug befand. Daran ändern die krankheitsbedingte Abwesenheit des Obergerichtspräsidenten und der Hinweis auf ein gleichzeitig hängiges, sehr umfangreiches Strafverfahren nichts (vgl. Urteile 1C_534/2017 vom 6. Dezember 2017 E. 2.4; 1B_55/2017 vom 24. Mai 2017 E. 4). Das Obergericht hätte der Erteilung des Gutachtensauftrags auch deshalb eine hohe Priorität einräumen müssen, weil die Erstellung des Gutachtens einige Zeit in Anspruch nimmt, die Auftragserteilung selbst aber in der Regel keinen grossen Aufwand bedeutet.  
 
2.5. Die Kritik des Beschwerdeführers erweist sich damit als begründet. Die Verletzung des Beschleunigungsgebots ist im Dispositiv festzuhalten (vgl. BGE 137 IV 118 E. 2.2 S. 121 f. mit Hinweisen). Ob damit dem Beschwerdeführer eine hinreichende Wiedergutmachung (Art. 41 EMRK) verschafft worden ist, wird unter einer Gesamtwürdigung des Verfahrens durch das Sachgericht zu beurteilen sein (vgl. Urteil 1B_103/2017 vom 27. April 2017 E. 3.4 mit Hinweisen).  
Das Obergericht ist gehalten, jede weitere Verfahrensverzögerung zu vermeiden und das in Aussicht gestellte Gutachten unverzüglich in Auftrag zu geben. 
 
3.   
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und es ist festzustellen, dass das Obergericht das Beschleunigungsgebot verletzt hat. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers ist eine angemessene Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1-2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird damit hinfällig. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen und es wird festgestellt, dass das Obergericht des Kantons Thurgau das Beschleunigungsgebot verletzt hat. 
 
2.   
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Thurgau hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Martin Gärtl, mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Bischofszell und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 9. Mai 2018 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Dold