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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6B_272/2010 
 
Urteil vom 9. Juli 2010 
Strafrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Favre, Präsident, 
Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger, 
Gerichtsschreiber Briw. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz, Archivgasse 1, 6430 Schwyz, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
X.________, vertreten durch Rechtsanwalt und Notar 
Dr. Bruno Aschwanden, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Verletzung der Verkehrsregeln (Überholen an unübersichtlicher Stelle), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts des Kantons Schwyz vom 2. Februar 2010. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz klagte X.________ in zahlreichen Punkten wegen vorsätzlicher und fahrlässiger Verkehrsregelverletzungen an. 
 
Sie warf ihm vor, am 5. Juli 2008 um 17 Uhr mit seinem Personenwagen mit ungenügendem Abstand dem vor ihm fahrenden Fahrzeug gefolgt zu sein und dabei mehrmals unnötige Warnsignale abgegeben zu haben. Eingangs einer unübersichtlichen, langgezogenen Linkskurve mit anschliessender ca. 150 m überblickbar geradeaus führender Strecke habe er das Fahrzeug überholt und sei unmittelbar wieder eingebogen, bevor die Strasse in einer Kurve nach rechts führt. Durch den ungenügenden Abstand beim Wiedereinbiegen sei es zu einer Streifkollision gekommen, wodurch Sachschaden an dem überholten Fahrzeug entstanden sei. Er habe seine Fahrt fortgesetzt, ohne anzuhalten (angefochtenes Urteil S. 2). 
 
Das Bezirksgericht Schwyz sprach am 19. August 2009 X.________ schuldig der mehrfachen einfachen Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG durch ungenügenden Abstand beim Hintereinanderfahren (Art. 34 Abs. 4 SVG und Art. 12 Abs. 1 VRV) sowie durch Überholen eines Motorfahrzeuges an unübersichtlicher Stelle (Art. 35 Abs. 4 SVG). Im Übrigen sprach es ihn in dubio pro reo von Schuld und Strafe frei. Es büsste ihn mit Fr. 1'000.-- und setzte eine Ersatzfreiheitsstrafe bei schuldhafter Nichtbezahlung der Busse von 10 Tagen fest (Art. 106 StGB). 
 
B. 
Die Staatsanwaltschaft erhob Berufung und beantragte, X.________ sei zusätzlich der fahrlässigen groben Verletzung von Verkehrsvorschriften durch Überholen ohne ausreichenden Abstand im Sinne von Art. 34 Abs. 4 i.V.m. Art. 90 Ziff. 2 SVG schuldig zu sprechen und mit einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu Fr. 150.-- sowie einer Busse von Fr. 1'500.-- zu bestrafen. Bei einer überblickbaren Strecke von 150 m und einem Überholweg von 144 m habe X.________ zum überholten Fahrzeug gerade noch einen Abstand von maximal 6 m für das Wiedereinbiegen gehabt. Bei einer Geschwindigkeit von 50 km/h hätte er einen Abstand von mindestens 25 m einhalten müssen. Weil der Abstand von 6 m sogar noch weniger als "1/6 Tacho" betragen habe, sei praxisgemäss von einer groben Verkehrsregelverletzung auszugehen (angefochtenes Urteil S. 5). 
 
X.________ beantragte in seiner Anschlussberufung einen Freispruch vom Vorwurf des Überholens an unübersichtlicher Stelle. 
 
Nicht angefochten wurden der Schuldspruch wegen ungenügenden Abstands beim Hintereinanderfahren sowie die Freisprüche von den Vorwürfen des vorsätzlichen pflichtwidrigen Verhaltens nach Verkehrsunfall mit Sachschaden und der vorsätzlichen unnötigen Abgabe von Warnsignalen (angefochtenes Urteil S. 4). 
 
Das Kantonsgericht Schwyz wies am 2. Februar 2010 die Berufung der Staatsanwaltschaft ab und hiess die Anschlussberufung X.________s gut (Ziff. 1 des Dispositivs). Es sprach ihn vom Vorwurf der einfachen Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG durch Überholen eines Motorfahrzeuges an unübersichtlicher Stelle gemäss Art. 35 Abs. 4 SVG frei (Ziff. 2). Es bestätigte den Schuldspruch wegen ungenügenden Abstands beim Hintereinanderfahren (Art. 34 Abs. 4 SVG sowie Art. 12 Abs. 1 VRV i.V.m. Art. 90 Ziff. 1 SVG) und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 500.-- (Ziff. 3). Im Übrigen bestätigte es das bezirksgerichtliche Urteil (Ziff. 4). 
 
C. 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz erhebt Beschwerde in Strafsachen mit den Anträgen: "In Abänderung von Dispositivziffer 1, 2, 3 und 4 des angefochtenen Urteils sei die Anschlussberufung abzuweisen, der Freispruch vom Vorwurf der einfachen Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG durch Überholen eines Motorfahrzeuges an unübersichtlicher Stelle gemäss Art. 35 Abs. 4 SVG aufzuheben und das Urteil des Bezirksgerichts Schwyz vom 19. August 2009 zu bestätigen. Eventualiter sei die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen." 
 
In der Vernehmlassung beantragt X.________, die Beschwerde abzuweisen. Er habe bereits ausgangs der Linkskurve mit dem Überholen begonnen. Bei der Distanzangabe sei nur von einer Schätzung und mit dem Bezirksgericht von ca. 150 m auszugehen sowie dass seine eigene Schätzung von 200 m dem Polizeirapport nicht entgegenstehe. Dass die frei überblickbare Strecke 288 m hätte betragen müssen, erweise sich als unzutreffend. Es sei aktenwidrig zu behaupten, die Vorinstanz habe die Möglichkeit entgegenkommender Fahrzeuge nicht berücksichtigt. 
 
Die Vorinstanz beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Bei der fraglichen Distanz von 150 m handle es sich um eine Schätzung. Das Bezirksgericht habe die Schätzung von 200 m als vertretbar erachtet. Darauf werde im angefochtenen Urteil hingewiesen. Sie (die Vorinstanz) sei bei voller Kognition von einer letztlich ausreichend überblickbaren Strecke ausgegangen. Urteil 1P.245/2000 vom 21. Juni 2000 (unten E. 2) sei nicht einschlägig. 
 
Die Staatsanwaltschaft hält in ihrer Stellungnahme am Antrag fest. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Der Antrag der Beschwerdeführerin ist auslegungsbedürftig. 
 
1.1 Vorinstanz gemäss Art. 80 Abs. 1 BGG ist das Kantonsgericht Schwyz. Beschwerdegegenstand gemäss Art. 90 BGG ist das angefochtene Urteil des Kantonsgerichts Schwyz. Das Bundesgericht hat weder die kantonale Anschlussberufung (des Beschwerdegegners) abzuweisen noch das bezirksgerichtliche Urteil zu bestätigen. Darauf ist nicht einzutreten. 
 
1.2 Das Bundesgericht darf nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (Art. 107 Abs. 1 BGG). Anders als bei der Vorinstanz (oben E. B) beantragt die Beschwerdeführerin vor Bundesgericht nicht mehr einen Schuldspruch wegen Überholens ohne ausreichenden Abstand beim Wiedereinbiegen im Sinne von Art. 34 Abs. 4 SVG i.V.m. Art. 90 Ziff. 2 SVG, sondern im Ergebnis nur, den Freispruch der Vorinstanz aufzuheben und "das Urteil des Bezirksgerichts [...] zu bestätigen". 
 
1.3 Zusammengefasst beantragt die Beschwerdeführerin vor Bundesgericht einen (zusätzlichen) Schuldspruch wegen Überholens eines Motorfahrzeuges an unübersichtlicher Stelle gemäss Art. 35 Abs. 4 SVG i.V.m. Art. 90 Ziff. 1 SVG. Der Beschwerdegegner sei "getreu dem Urteil des Bezirksgerichts schuldig zu sprechen" (Beschwerde S. 5 Ziff. 6). Sie beantragt weder für das Überholmanöver die naheliegende Verurteilung wegen grober Verkehrsregelverletzung gemäss Art. 90 Ziff. 2 SVG noch eine Änderung der Sanktion. 
 
2. 
Die Beschwerdeführerin stimmt der vorinstanzlichen Berechnung des Überholweges zu, wendet aber ein, die überblickbare Strecke sei nicht geschätzt, sondern "selbstverständlich" von der Polizei mit der Messrolle abgemessen worden. Weiter müsse die Strecke nicht nur überblickbar sein, sondern auch ein entgegenkommendes Fahrzeug dürfe nicht gefährdet werden. Der Überholweg hätte daher das Doppelte von 144 m, nämlich 288 m betragen müssen, und nicht bloss 150 m (mit Hinweis auf Urteil 1P.245/2000 vom 21. Juni 2000 E. 2b). Die Strecke wäre also selbst unter der aktenwidrigen Annahme von 200 m keinesfalls überblickbar gewesen. Indem die Vorinstanz bei der Berechnung der frei überblickbaren Strecke die Möglichkeit eines entgegenkommenden Fahrzeugs nicht berücksichtigt habe, verletze sie Art. 35 SVG
 
3. 
Die Vorinstanz führt aus, der Überholweg setze sich zusammen aus der Ausbiegestrecke, dem Parallelweg und der Einbiegestrecke, und er sei abhängig von den Längen und Geschwindigkeiten der beteiligten Fahrzeuge. Der vom Bezirksgericht berechnete Überholweg von rund 144 m, der von der Staatsanwaltschaft letztlich nicht in Frage gestellt werde, berücksichtige für die Aus- und Einbiegestrecke rund 50 m und damit den geforderten "halben Tacho" des überholenden Fahrzeugs für das Wiedereinbiegen. Es gehe lediglich um das gefahrlose und behinderungsfreie Einbiegen nach einem Überholmanöver. Das sei zweifellos gegeben (angefochtenes Urteil S. 5 f.). 
 
Zum Vorbringen der Staatsanwaltschaft, eine Strecke müsse in dem Masse überblickbar sein, dass durch das Überholmanöver auch ein entgegenkommender Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet werde (angefochtenes Urteil S. 8), hält die Vorinstanz fest: Da der Beschwerdegegner spätestens vor der Rechtskurve wieder eingebogen und diese einsehbar gewesen sei, "vermochte er sein Überholmanöver noch vor Ende der überblickbaren Strecke zu beenden" (angefochtenes Urteil S. 9 f.). Bei dieser Sachlage sei er freizusprechen. 
 
4. 
Indem die Vorinstanz als hinreichend annimmt, dass der Beschwerdegegner "sein Überholmanöver noch vor Ende der überblickbaren Strecke zu beenden" vermochte, verletzt sie Bundesrecht. Gemäss Art. 35 Abs. 2 SVG sind Überholen und Vorbeifahren an Hindernissen nur gestattet, "wenn der nötige Raum übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird". Ferner darf "im Bereich von unübersichtlichen Kurven" (BGE 109 IV 134 E. 3) gemäss Art. 35 Abs. 4 SVG nicht überholt werden. Die Vorinstanz berücksichtigt nicht, dass der Gegenverkehr nicht behindert werden darf. Es muss nicht nur die für den Überholvorgang benötigte Strecke übersichtlich und frei sein, sondern zusätzlich jene, die ein entgegenkommendes Fahrzeug bis zu jenem Punkt zurücklegt, wo der Überholende die linke Strassenseite freigegeben haben wird. Es genügt daher nicht, dass der Überholende darnach trachtet, den Überholvorgang kurz vor der unübersichtlichen Kurve abzuschliessen (BGE 109 IV 134 E. 2). 
 
5. 
Die Beschwerde ist gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Der Beschwerdeführerin ist keine Entschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 3 BGG). Der Beschwerdegegner unterliegt mit seinem Vernehmlassungsantrag. Entsprechend hat er die Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, das Urteil des Kantonsgerichts des Kantons Schwyz vom 2. Februar 2010 aufgehoben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht des Kantons Schwyz schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 9. Juli 2010 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Favre Briw